Die Versuchung des Wissens

 

(Sonntag Invokavit)

                                                                   

1. Mose 3, 1-19                                                                                             

 

Im Erste Buch Mose lesen wir, dass Gott alles gut und den Menschen zu seinem Bilde geschaffen hat. Gott hat den Menschen die Möglichkeit gegeben, Gott und die Welt zu erkennen. In seiner Freiheit begegnet dem Menschen aber die Versuchung, alles ohne Gott zu wissen und zu schaffen. Dementsprechend können wir sagen, dass der Mensch dauernd zwischen zwei Möglichkeiten ringt. Zum einen lebt der Mensch in dieser biologischen, naturgemäßen Welt und es kann sein, dass er sich dieser Welt unterwirft. Dieser Welt entsprechend ist der irdische Mensch begrenzt, da er den Gesetzen und den Umständen der Natur nachgeordnet ist. Der Mensch in dieser Welt ist abhängig von den Beschränkungen und Bedingungen der Natur.

Zum anderen hat der Mensch in seinem Inneren eine geistliche, spirituelle Dimension, durch welche er die Verbundenheit mit Gott erfahren kann. Gemäß dieser Dimension hat der Mensch das Potenzial und die Gelegenheit Gott näher zu kommen, und so in einer unbeschränkten Offenheit mit Gott zu sein. Wir können noch sagen, dass innerhalb des Menschen diese zwei Tendenzen, die irdische und die geistliche (spirituelle), gegenwärtig sind, aber meistens kämpfen sie gegeneinander. Das führt zu Disharmonie und Konflikt im Inneren des Menschen. Und nur mit menschlicher Mühe kommen sie in Einklang miteinander.

In der Geschichte des ersten Menschen erfahren wir einen ähnlichen Kampf, der im Inneren von Adam und von Eva stattgefunden hat. Einerseits wollten Adam und Eva Gott treu sein. Wir wissen das, weil Eva der Schlange geantwortet hat: „Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!“ Wir lesen auch, dass beide, Adam und Eva, Furcht hatten davor, gegen Gott ungehorsam zu sein. Sie waren also nicht unachtsam oder fahrlässig vor Gott.

Andererseits wollten sowohl Adam als auch Eva ihren eigenen Weg gehen. Sie wußten, dass Gott nicht wollte, dass sie von diesem besonderen Baum aßen. Der Versuchung aber zu essen, konnten sie nicht widerstehen. Die Versuchung zu essen, das lustvolle Aussehen der Frucht und die Verlockung, klug zu werden, haben sie getäuscht. Adam und Eva rangen (kämpften) darum, ob sie ihrem eigenen Willen und Begehren folgen oder den Willen Gottes akzeptieren. Das ist wie ein Ringen zwischen einem selbst und Gott. Wenn wir heute über diese drei Versuchungen, nämlich: essen, Lust für die Augen und klug werden nachdenken, sehen wir, dass diese genau auch hinter den meisten Versuchungen des irdischen Menschen stehen. Der Mensch, der dieser biologischen Welt unterworfen ist, wird immer ein Opfer dieser Versuchungen sein. Das ist auch der Kampf zwischen den irdischen und den geistlichen Eigenschaften des Menschen. Er ringt dann um Angst und Vertrauen, Furcht und Mut, Verschlossenheit und Offenheit. Er ringt darum, sich selbst, oder den Anderen und Gott in den Mittelpunkt zu stellen. Denn nur durch unsere geistliche-spirituelle Eigenschaften ist es für uns möglich, mutig, gelassen und offen gegenüber dem Anderen und Gott zu sein.  

Liebe Gemeinde, es ist jedoch der größte Irrtum unseres Lebens, dass wir unseren Willen unabhängig von dem Willen Gottes begreifen. Ganz im Gegenteil, dass der Mensch im Glauben wächst, erfordert, dass er versteht, dass sein Wille und der Wille Gottes einander nicht widersprechen, sondern sich ergänzen und stärken. In diesem Sinne hat Augustinus am Ende des 4. Jahrhunderts geschrieben: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir. Denn auf dich hin hast du uns geschaffen“.[1] Das heißt, dass wenn der Mensch seinen eigenen Willen wahrhaftig wählt, wählt er auch den Willen Gottes und wenn der Mensch den Willen Gottes bevorzugt, bevorzugt er seinen eigenen Willen. Denn der Mensch kann nur er selbst sein in und durch Gott. Ist er nicht in Gott leidet der Mensch an Ungewissheit und Verlorenheit, sowie Adam und Eva gelitten haben.    

Das gilt auch für alles menschliche Wissen. Das war die Hauptversuchung der Schlange: „an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ Der Mensch denkt, dass er durch sein Wissen alles tun und alles verstehen kann, dass er durch seine Kenntnisse wie Gott sein wird. Was sollen wir dann sagen? Ist das Wissen unnötig, oder gefährlich? „An dem Tage ... werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet ... wissen“. In unserem Leben wollen wir immer noch mehr wissen. Ist das dann nicht erforderlich? Liebe Gemeinde, das Wissen ist wichtig und ist erforderlich. Das Wissen öffnet auch unsere Augen, wie die Schlange in der Geschichte gesagt hat, in vielen unterschiedlichen Sinnen des Wortes. Aber das Wissen, dass die Schlange angeboten hat, hat Adam und Eva von Gott getrennt. Das war der Hauptirrtum. Das Wissen, dass die Schlange angeboten hat, war gefälschtes Wissen (so wie fake news, worüber ja gerade alle reden...) ohne Liebe und ohne Gott. Es ist dieses Wissen, das uns, wie Adam und Eva, verloren, ängstlich und einsam macht. Der Mensch denkt, dass er durch das Wissen alles haben und tun kann, aber das ist nicht richtig. Der heutige Predigttext warnt uns vor einem Wissen, das uns zu Furcht und Sterben führt, nähmlich das Sterben des Göttlichen und des Geistlichen in uns. Ohne Liebe und ohne Gott kann das Wissen tödlich sein. Die Wissenschaften ohne die menschliche Zuneigung zu Gott und zu anderen Menschen sind wie Worte ohne Sprache, nähmlich ohne Bedeutung. Nur durch die Verbundenheit mit Gott erfährt der Mensch die Bedeutung und den Sinn seines Wissens, weil Gott selbst die Quelle des ganzen Wissens und der Weisheit ist.

Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte der Mensch dieses Gefühl, dass er mit den Wissenschaften und durch Fortschritt hoch hinauskommt, an die Spitze der menschlichen Gesellschaft. Später stellte er fest, dass er damit in zwei Weltkriege gezogen ist und seinen eigenen Tod kennengelernt hat, nämlich seine Abwendung von Gott. Liebe Gemeinde, das ist die erste Versuchung des Menschen. Die „erste Versuchung“ ist nicht die erste in der Zeit, sondern die größte zu jeder Zeit, auch heute. Adam und Eva sind wir, die Menschen, die immer noch nach dem Wissen, dem Verstehen und der Weisheit suchen. Deshalb braucht der menschliche Verstand die Demut vor Gott, um dieser ersten Versuchung nicht zu erliegen. Und von der Überheblichkeit des Wissens nicht irregeführt und getäuscht zu werden.

Das erklärt auch den Rest des heutigen Textes, in dem der Erzähler beschreibt, wie Adam und Eva unter der biologischen, naturgemäßen Lebensbedingungen leiden werden. Eva sollte unter Mühen Kinder gebären. Adam sollte sich sein Leben lang unter Mühsal vom Acker nähren und sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen, bis er wieder zu Erde wird, von der er genommen ist. Ohne Gott leidet der Mensch, der dieser Welt entsprechend begrenzt ist, da er den Gesetzen und den Umständen der Natur unterworfen ist. Das haben wir am Anfang gesagt. Nur durch die geistliche- spirituelle Wesensart des Menschen hat er die Gelegenheit Gott in einer unbeschränkten Weise näher zu kommen. Das heißt, nur durch die geistliche Dimension im Innern des Menschen kann er frei sein, ohne Furcht und ohne Angst.

Jesus wurde auch in Versuchung geführt, so ähnlich wie Adam und Eva. Wir lesen über die Versuchung Jesu im vierten Kapitel des Matthäus Evangeliums, wo wieder die zwei Tendenzen des Menschen, die irdische und die geistliche, ins Spiel kommen. „Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“

Jesus ist aber nicht der Versuchung der Überheblichkeit des menschliches Wissens erlegen. Er ist der neue Adam, der den Willen Gottes sein ganzes Leben akzeptiert hat. Und in Gethsemane betete er und sprach: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ An diesem Sonntag, dem ersten in der Passionszeit, lasst uns Jesus nachfolgen, der sein ganzes Leben und Willen mit dem Willen Gottes verbunden hat. Sein Wissen war auf keinen Fall getrennt vom Wissen Gottes.

Vor der Versuchung Jesu wurde er von Johannes dem Täufer getauft. Irgendwie meinte der Evangelist, dass die Taufe Jesus eine besondere Kraft gegeben hat, sodass er den Versuchungen des Teufels widerstehen konnte. Wir beten heute, dass die heutige Taufe Lennes, aber auch uns, befähigt den Willen Gottes immer zu akzeptieren und mit dem Willen Gottes verbunden zu bleiben. Amen.

 

Sylvie Avakian

Pfäffingen, 5. März 2017

[1] Augustinus, Bekenntnisse, II/4.