Einen Fremden empfangen

 

(Sonntag Lätare)

 

—„Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.”— (Lev 19,33)

 

Niemand kann einen Fremden empfangen, ohne zu verstehen, dass man selbst Fremder in der Welt ist: „denn ihr seid auch Fremde gewesen in Ägyptenland” (19,34) schreibt der Autor des Buches Levitikus das  Volk Israel ansprechend. Das 19. Kapitel dieses Buches ermahnt den Leser, ein heiliges Leben zu führen („Ihr sollt heilig sein; denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott,“ 19,2), indem er dem Leser nahe legt, dass das Empfangen eines Fremden als Eigenschaft des heiligen Lebens gilt. Derselbe Gedanke, einen Fremden zu empfangen, taucht im Buch Exodus auf: „Ihr sollt keine Witwen und Waisen bedrängen. Wirst du sie bedrängen, so werden sie zu mir schreien, und ich werde ihr Schreien erhören“ (Ex 22,21-22). Und mit deutlicheren Worten lesen wir in Ex 23,9: „Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, dieweil ihr auch seid Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“ Die Worte treffen auch auf uns heute zu, obwohl wir nicht dieselbe Erfahrung gemacht haben wie das Volk Israel, welches als Fremde und sogar als Sklaven in Ägypten behandelt wurden. Wir kennen das „Herz eines Fremdlings“. Hier und dort haben wir uns schon einmal fremd gefühlt, als gehörten wir nicht zur Welt.  

Die Vorstellung vom fremd Sein in der Welt heißt nicht, dass wir die Welt nicht ernst nehmen oder sie nur als vorübergehendes Stadium auf dem Weg in eine andere, wertvollere Realität sehen sollten. Im Gegenteil dazu beinhaltet die Vorstellung, ein Fremder zu sein, dass man sich mehr und mehr der Realität bewusst wird, dass die Welt, die menschliche Existenz und alles, was man besitzt, ihm oder ihr als ein Geschenk gegeben wurde. Der „Fremdling“ weiß, dass die natürliche Ordnung und das menschliche Leben gegeben sind, um zu leben und zu genießen. Nur wenn wir die Geschenke des Lebens erfahren, sind wir in der Lage, die eigenen Gaben zu erbringen,   Dankbarkeit zu empfinden und Gott, der Herr über alles und Geber aller Gaben ist, zu loben. Nur wenn wir die Geschenke des Lebens erfahren, können solche Geschenke wahrhaft angenommen und zur selben Zeit können ihre Würde und Unabhängigkeit gewahrt werden. Die göttlichen Gaben wurden über die ganze Schöpfung verteilt und niemand ist davon ausgenommen. Ebenso ist es nicht möglich, einen Besitzanspruch, oder Rechtsanspruch, auf Gott oder Gottes Gaben zu erheben. Ähnlich wie Reisende, unternehmen wir daher die Reise unseres Lebens, ohne zu glauben, die Welt völlig  verstehen oder kontrollieren zu können, sodass wir sie bezwingen oder sie unter unsere Herrschaft bringen könnten.

Wann immer uns das Verständnis fehlt, dass wir selbst Fremde in der Welt sind, das heißt, wann immer wir die Welt besitzen wollen oder sie uns durch Kontrolle zu eigen machen wollen, können wir einen „Fremdling“ nicht willkommen heißen. Wann immer wir autoritär werden, wann immer wir die Dinge beherrschen wollen, die Welt und die Menschen kontrollieren und manipulieren wollen, würden wir Fremde nur annehmen, oder akzeptieren, um sie ebenfalls zu kontrollieren und zu manipulieren. Der Fremde wäre nur um unseres Nutzens willen da und stünde im Dienste unserer Genugtuung. Auf eine gewisse Art und Weise würde der Fremde ein Teil unserer Pläne werden wie ein Eigentum, das nicht für sich selbst, sondern zur Freude und zum Nutzen anderer da ist. Wir lesen in Levitikus 19 Vers 34 „und du sollst ihn lieben wie dich selbst“. Kann man überhaupt einen Fremden lieben? Ich bin davon überzeugt, dass wir nur, wenn wir die gemeinsame Wirklichkeit des Fremdseins in der Welt teilen, Fremde lieben können; nicht aus dem Blickwinkel eines Herrschers oder Gebieters, sondern ebenfalls als Fremde oder Mitreisende, so wie Mitreisende auf dem Weg des Lebens. Das bedeutet, dass die Liebe zu Fremden nur möglich ist, wenn sie uns als unabhängige Menschen gegenüber stehen, sodass wir ihnen in Freiheit und Liebe begegnen können. Die Liebe gibt uns die Möglichkeit, uns mit fremden Menschen zusammenzubringen, aber auch  mit der natürlichen Ordnung um uns herum und mit Gott, dem Geber aller Gaben. Der deutsche Theologe und Mystiker Meister Eckhart (1260-1327) schrieb: „Die Liebe ist von solcher Art, dass sie den Menschen wandelt in die Dinge, die er liebt“.[1] Die „Dinge“, von denen Meister Eckhart spricht, nehmen auf irgendetwas oder irgendjemanden Bezug, die sind und die man liebt, auch auf Gott.  Solche Liebe hat die Fähigkeit, dass wir uns das aneignen, was wir lieben, sodass wir zu dem werden, was wir lieben. Das ist genau das Gegenteil des Verlangens die Welt besitzen zu wollen und Autorität oder Kontrolle über die Dinge oder die Menschen in der Welt zu üben. Einen Fremden zu lieben bedeutet dann das Gefühl vom Fremdsein mitzuteilen.

Nur ein freier Mensch kann in Wirklichkeit einem Fremden in diesem gerade beschriebenen Sinne begegnen. Im alltäglichen Leben passiert jedoch, dass wir Fremde als Bedrohung wahrnehmen, die unsere eigene Realität gefährden. Man könnte an dieser Stelle fragen: Woher kommt diese feindliche Einstellung gegenüber Fremden? Wo liegt ihre Wurzel? Wir Menschen in der Welt, sowohl im Westen als auch im Osten, definieren uns für gewöhnlich über unsere soziale und religiöse Zugehörigkeit und halten die jeweils eigenen Traditionen für die einzig wahren. Das ist auch der Fall im Libanon, oder in der östlichen Welt, wo die Menschen von ihren Behauptungen und Ansichten überzeugt sind, ohne vorbereitet oder gewillt zu sein, diese einer kritischen Beurteilung zu unterziehen. Daher glauben wir, ein Fremder könnte andere Werte und Ansichten mitbringen und aus diesem Grund unsere Privilegien oder Basiswerte in Gefahr bringen, die wir in unseren geschlossenen Gemeinschaften genießen, wo wir uns sicher und behütet fühlen. Schließlich ist es einfacher, Unterschiede und Andersartigkeit abzulehnen, als ihnen offen und aufgeschlossen zu begegnen. Es stellt sich die Frage: Ist es in unseren Gesellschaften im Osten aber auch im Westen der Welt überhaupt möglich, Fremde willkommen zu heißen? Wäre es möglich, unsere Ansichten und Behauptungen einer Prüfung und Neubeurteilung zu unterziehen? Wäre es möglich für uns, die Gaben des Lebens, die Natur aber auch die fremden Menschen einfach anzunehmen statt sie kontrollieren zu wollen (to want to control them)?

Um meine Reflektionen über die Vorstellung, einen Fremden zu empfangen und ein Fremder zu sein, abzuschließen, möchte ich erneut einen Blick auf Kapitel 19 des Buches Levitikus werfen. Darin steht, dass heilig zu sein unter anderem bedeutet, einen Fremden zu schützen. Das Kapitel beginnt mit der Aufforderung: „Rede mit der ganzen Gemeinde der Kinder Israel und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein; denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott“, (19,2). Dieser Vers wird auch im Neuen Testament zitiert, wo der Apostel Petrus sagt: „Denn es steht geschrieben: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“, (1Petr 1,16). Ähnlich lesen wir, wie Jesus sagt: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt 5,48). Jesus fasste jedoch all Gebote zu dem einen Gebot der Liebe zusammen: „Das ist mein Gebot, daß ihr euch untereinander liebet, gleichwie ich euch liebe“, (Joh 15,12). Jesus deutete daher das Heiligkeitsgebot um in das Gebot, einander zu lieben. Wir sind deshalb dazu aufgerufen, Fremde zu lieben, auch wenn wir wissen, dass diese Liebe unsere Überzeugungen über Bord werfen kann und damit auch unsere Garantien, die wir uns im Leben aufgebaut haben. Sie kann uns die Macht, die wir bisher genossen haben, nehmen und uns machtlos zurücklassen. Solch eine Liebe scheint sogar irrational in einem Zeitalter der Berechnung, sorgfältigen Erwägung und Rechenschaft.

Wir lesen auch, wie Jesus sagte: „Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich beherbergt“ (Mt 25,35). Daher ist es Christus, der jedes Mal empfangen wird, wenn wir einen Fremden empfangen. Amen.

 

Sylvie Avakian

Pfäffingen, 26.03.2017

 

[1] Martin Heidegger zitiert die Worte des Meisters in Altdeutsch in seinem Werk Vorträge und Aufsätze (Günter Neske, 1954, S. 169): „diu minne ist der natur, daz si den menschen wandelt in die dinc, die er minnet.”