"Abel steh auf"

„Abel steh auf“

 

1.Mose 8, 18-22; 9, 12-14

 

„So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, dazu alles wilde Getier, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen. Noah aber baute dem Herrn einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. Und der Herr roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig: Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken.“

 

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Der heutige Predigttext bietet den Lesern und natürlich ebenso den Zuhörern, die Möglichkeit, eine neue Schöpfungsgeschichte neuzuschreiben und einen neuen Bund mit Gott zu initiieren. Jeder Bund ist zweiseitig. Wenn ich einen Bund mit einem anderen schließe muss ich den anderen immer vor Augen haben. Demzufolge scheitert ein Bund, wenn eine von beiden Seiten den Anderen nicht mehr wahrnimmt, sondern es bevorzugt, den Weg allein zu gehen, nämlich einen Ein-Mann- oder Eine-Frau-Weg zu gehen, anstatt den breiteren Weg mit dem Anderen. Was ist aber das für ein Bund? Und wie ist der Bund zwischen Gott und Noah heute zu verstehen?

 

Wir wissen, dass die Geschichte Noahs in der Bibel im ersten Buch Mose zu lesen ist, das ist natürlich das erste Buch in der Bibel. Die Bibel fängt an mit der Geschichte der Schöpfung, welche darauf zielt, zu zeigen, dass hinter der ganzen Schöpfung, der Erde, der Sonne und der Sterne, Gott steht, der alles gemacht hat und alles auch durch ihn und mit ihm steht. Nach der Geschichte der Schöpfung sind die Geschichten von Adam und Eva und Kain und Abel zu lesen. Adam und Eva versinnbildlichen jeden Mann und jede Frau in der Welt. Adam bedeutet auf Hebräisch ‚Mensch‘, genauer gesagt ‚Erdling‘ von ‚adamah‘ = ‚Erdboden‘. Adam und Eva stehen in der Bibel als Vertreter für alle Menschen, die nicht unbedingt die Stimme Gottes hören wollen und demzufolge auch nicht ihr Leben nach der Stimme Gottes zu richten beabsichtigen. Stattdessen wollen sie sich von der Beziehung mit Gott abwenden. Adam und Eva wollen ihr Leben ohne Gott leben. Sie übersehen, dass Gott hinter der Schöpfung steht. Natürlich ist hier, liebe Gemeinde, die Geschichte mit dem Baum zweitrangig. Unter „menschlicher Sünde“ wollen wir heute nicht einzelne menschliche Taten verstehen. Die menschliche Sünde meint nicht zuallererst einzelne oder mehrere Irrtümer, die der Mensch begeht, sondern ist sie mehr die innerliche Haltung, dass der Mensch ohne Gott leben will. Daher ist Sünde nicht im moralischen Sinn zu verstehen. Das Problem mit Adam und Eva war nicht unbedingt, dass sie etwas Falsches getan haben, was sie nicht tun sollten, nämlich von der Frucht eines Baumes gegessen zu haben. Das Problem war, dass sie sich ein Leben ohne Gott vorstellen wollten und auch ohne Gott leben wollten. Dieselbe Geschichte, nämlich die Geschichte der menschlichen Sünde, wiederholt sich in der Geschichte von Kain und Abel, den zwei Kindern von Adam und Eva. Diesmal zeigt sich die menschliche Sünde als das Scheitern der Beziehung nicht zwischen Menschen und Gott, wie in dem Fall von Adam und Eva, sondern zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen. Die zwei Brüder, Kain und Abel, schaffen es nicht, miteinander das Leben zu bestehen. Auch hier würde ich sagen: die einzelnen Taten sind zweitrangig. Die Hauptsache; die Brüder konnten nicht miteinander umgehen. Wahrscheinlich wollte jeder im Zentrum des Lebens sein. In diesem Fall ist es Kain, der seinen Bruder tötet. Was für eine Tat! Und natürlich sollen wir uns fragen: Was für eine Haltung hatte Kain gegenüber seinem Bruder, dass er ihn töten konnte? In der Geschichte fragt Gott Kain: „Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (1.Mose 4,9)

 

In diesem Sinne sind beide Geschichten von Adam und Eva und von Kain und Abel eine und dieselbe Geschichte. Der Mensch will ohne Gott leben, aber auch ohne seinen Bruder, sodass er, und nur er allein, das Zentrum des Lebens wird.

 

Und nun kommt Noahs Geschichte. Und wie eben erwähnt, macht Noah einen neuen Bund mit Gott möglich. Wieso hat Noah das geschafft, was für Adam und Eva, Kain und Abel unmöglich war? So, nach der Geschichte von Kain und Abel lesen wir im Kapitel 6, dass Gott die Bosheit der Menschen sah und er sprach: „Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde … Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn.“ (1.Mose 6,7)

 

So lesen wir auch: Als Noah, nach der Sintflut, mit seinen Söhnen und mit seiner Frau aus der Arche ausging, baute er dem Herrn einen Altar und opferte darauf von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln Brandopfer. Diese reinen Tiere sind hier die Zeichen der neuen Schöpfung. Die Sünde hat keine Macht mehr und durch den neuen Bund wurde alles gereinigt und neugemacht. Demzufolge bietet uns die Geschichte von Noah eine Antwort und einen Ausweg aus der menschlichen Sünde. Hier begegnen Mensch und Gott einander und jeder schafft Raum für den Anderen. Noah baute dem Herrn einen Altar und nahm von allem Vieh und opferte diese für Gott und Gott sprach in seinem Herzen: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen“.

 

Und nun, wenn wir fragen: Braucht Gott unsere Opfer? Man könnte, ohne sich viele Gedanken zu machen, die Frage verneinen. Man könnte denken, dass Gott die Kerzen in der Kirche, die Blumen und auch unser Geld nicht braucht. Wenn wir aber über die Frage tiefer nachdenken, werden wir sehen, dass Gott auch unsere Opfer braucht. Gott braucht uns und am meisten braucht Gott uns selbst, mehr als alles was wir haben. Die Kerzen, die Blumen und unsere Opfer stehen nur als Zeichen, genauso wie der Regenbogen in den Wolken, nämlich dafür, dass wir in unserem Leben für Gott Raum schaffen wollen. Gott schenkt uns das Leben und wir wollen Gott davon einiges zurückgeben. Diese Zeichen erinnern uns, dass wir nicht im Zentrum des Lebens stehen. Der Mensch ist immer mit einem Anderen, nämlich mit Gott aber auch mit anderen Menschen unterwegs und er ist nur er selbst, wenn er mit einem Anderen in Beziehung steht.

 

Wie können wir heute für Gott und für andere in unserem Leben Platz schaffen? Gott kommt zu uns, liebe Gemeinde, in dem Gesicht eines Bruders, wie Abel, oder eines Fremdes. Sind wir die Hüter unserer Brüder und Schwestern? In der Schriftlesung sprach Jesus zu den Pharisäern und sagte ihnen: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ (Markus 2,27) Ist es nicht der Fall, dass wir uns auch heutzutage mehr mit der Erfüllung der vielen Gesetze, Vorschriften und Traditionen beschäftigen, als uns um unsere Mitmenschen zu sorgen? Die Sünde, liebe Gemeinde, ist keine Tat, aber ist sie auch jede Tat, durch welche wir den Anderen nicht annehmen, jede Tat, mit der wir dem Anderen seinen Platz in der Welt rauben wollen, jede Tat, die die Rechte und Würde eines Anderen zurückweist.

 

Heute, liebe Gemeinde, sind wir eingeladen nicht nur die Hüter unserer Schwestern und Brüder zu sein, sondern auch die Hüter des Geheimnisses, das hinter aller Schöpfung steht, nämlich die Hüter Gottes. In diesem Sinne möchte ich die Predigt mit den Worten des Gedichtes von Hilde Domin schließen: „Abel steh auf“

 

 

 

Abel steh auf

es muss neu gespielt werden

täglich muss es neu gespielt werden

täglich muss die Antwort noch vor uns sein

die Antwort muss ja sein können

wenn du nicht aufstehst Abel

wie soll die Antwort

diese einzig wichtige Antwort

sich je verändern

wir können alle Kirchen schließen

und alle Gesetzbücher abschaffen

in allen Sprachen der Erde

wenn du nur aufstehst

und es rückgängig machst

die erste falsche Antwort

auf die einzige Frage

auf die es ankommt

steh auf

damit Kain sagt

damit er es sagen kann

ich bin dein Hüter

Bruder

wie sollte ich nicht dein Hüter sein

 

Täglich steh auf

damit wir es vor uns haben

dieses Ja ich bin hier

ich

dein Bruder

 

[deine Schwester]

 

Damit die Kinder Abels

sich nicht mehr fürchten

weil Kain nicht Kain wird

Ich schreibe dies

ich ein Kind Abels

und fürchte mich täglich

vor der Antwort

die Luft in meiner Lunge wird weniger

wie ich auf die Antwort warte

 

Abel steh auf

damit es anders anfängt

zwischen uns allen.

 

 

 

Amen.

 

Sylvie Avakian

 

3.11.2019, Dettingen

 

 

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Gott, unser Vater,

 

unser Schöpfer und Erlöser,

 

du hast uns ins Leben gerufen

 

sodass wir die Hüter deiner Schöpfung werden können.

 

Du hast uns die Welt und Menschen im Leben geschenkt,

 

sodass wir lernen, in Beziehung zu sein.

 

 

 

Heute wollen wir, Gott, einen Weg suchen,

 

auf dem wir deine Stimme hören und ihr folgen können.

 

einen Weg, den wir mit dir gehen können;

 

sodass du uns reinigst und uns neu machst.

 

Heute wollen wir Gott

 

einen Weg suchen;

 

der breiter ist als unsere Interessen,

 

unsere Wünsche und Träume,

 

unsere Bequemlichkeit.

 

Einen Weg, der einen neuen Bund

mit dir und mit den Mitmenschen ermöglicht.

 

 

 

Heute wollen wir einen Weg suchen,

 

den wir mit Anderen gehen können,

 

einen Weg, durch welchen wir die Schmerzen und das Leid anderer Menschen sehen können

 

und die Würde und Rechte der Anderen uns wichtig werden.

 

Heute wollen wir den Weg wählen,

 

der breiter ist

 

als wir selbst,

 

nicht zu schmal, kein ein-Mann,

 

oder eine-Frau-Weg.

 

 

 

Heute wollen wir Gott einen Weg gehen,

 

der aber auch keine staubige,

 

tausendmal überlaufene Bahn ist.

 

Wir wollen nicht einfach der Menge folgen und alles tun

 

wie alle anderen tun,

 

Heute wollen wir wahrhaftig die Hüter deiner Schöpfung und deines Wortes sein.

 

Hilf uns Herr den Weg zu finden,

 

den Weg, der für mehr ist als nur für uns. Amen.