Das Gesetz der Liebe

Das Gesetz der Liebe

 

(Römer 13,8-12)

 

 

 Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist (2.Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3.Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«

Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Und das tut, weil ihr die Zeit erkannt habt, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.

 

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Liebe Gemeinde, der christliche Glaube ist unter anderen Religionen etwas Besonderes, nicht weil Jesus in dieser Welt geboren ist, obwohl wir an diesen Tagen die Geburt Jesu feiern, sondern weil er die Welt und die Menschen geliebt hat. So sehr hat er die Welt und die Menschen geliebt, dass er für diese gestorben ist. Daher sagen wir, der christliche Glaube ist besonders, weil Jesus, in dessen Namen wir uns versammeln und beten, um der Welt und den Menschen willen gestorben ist. 

Wenn wir ehrlich mit uns sind und sensibel, müssen wir einsehen, dass Liebe für die Welt und für die Mitmenschen nicht einfach ist. Liebe für die Welt und für Menschen verlangt Opfer. Was verstehen wir dann unter Liebe? Mit Liebe ist hier nicht die Liebe unter Familiengliedern, Freunden und Bekannten gemeint, obwohl dies ganz schön ist. Mit Liebe ist hier auch nicht die Liebe zwischen Mann und Frau gemeint. Mit Liebe meinen wir hier agape, die göttliche Liebe. Agape, oder göttliche Liebe, hat aber eine große Vielfalt an Erscheinungen. Darunter verstehen wir die Liebe Gottes für die Welt und für alle Menschen, aber auch die Liebe des Menschen zu Gott und zu anderen Menschen. Wenn wir also sagen, dass wir als Christen berufen sind, andere Menschen zu lieben, meinen wir, dass wir berufen sind, andere Menschen mit und durch die göttliche Liebe zu lieben. Dies hat natürlich einige Folgen. Wenn ich sage, dass ich andere Menschen durch die göttliche Liebe lieben kann meine ich, dass ich alle Menschen lieben kann, denn Gott unterscheidet zwischen den Menschen nicht. Demzufolge hat Liebe hier nichts damit zu tun, wen ich mag und mit welchen Menschen ich mich befreunden möchte. Da können wir wahrscheinlich nicht alle Menschen mögen, oder nicht zu allen die Neigung haben uns zu nähern. Aber wir sind berufen, alle zu lieben. Daher hat die göttliche Liebe nichts mit Gefühlen oder persönlichen Geschmack zu tun, sondern mehr mit dem Auftrag und mit der Verantwortung, allen Menschen ein würdevolles Leben zu sichern, denn alle Menschen sind die Kinder Gottes. Darüber hinaus ist es meine Überzeugung, dass unsere Liebe zu Familienmitgliedern oder Freunden und zu unserem Lebenspartner ohne die göttliche Liebe unvollständig bleibt. Denn unsere Liebe zur Familie und zu Freunden wird immer von unserer Selbstbezogenheit beeinflusst. Diese Selbstbezogenheit oder die Eigensucht können wir oft nicht vermeiden, aber wir können diese durch die göttliche Liebe überwinden.  Nun können wir die Verse des Paulus verstehen:

 

„Denn was da gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«

 

Liebe ist die Erfüllung aller Gesetze. So hat Paulus geschrieben. Und wenn wir den Satz andersrum sprechen, würde es heißen: Die Gesetze, und hier sind alle Gesetze, die wir uns vorstellen können gemeint, bleiben ohne Liebe unvollkommen. Das ist nun so ein Satz, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen. Wir leben in einer Welt, die von Gesetzen beherrscht wird. So war es in der Vergangenheit auch. In der alttestamentlichen Welt hatten die Israeliten auch Gesetze und Gebote, denen sie folgen mussten. Von der Geschichte wissen wir, dass es den Israeliten oft nicht gelungen ist, sich an diese zu halten. Daher können wir die Worte Jeremias, die wir gehört haben, durchdringen:

 

„Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, … : Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.“ (Jeremia 31,31. 33) Das neue Gesetz, liebe Gemeinde, ist das Gesetz der Liebe, das im Herzen des Menschen und in seinem Sinn geschrieben wird. Unter dem neuen Bund verstehen wir, Christen, den Bund durch Jesus Christus. Jesus Christus ist das Zeichen des neuen Bundes und in seinem Leben und Tod findet das Gesetz der Liebe seine Erfüllung. 

Heute leben wir immer noch in einer Welt, die von Gesetzen beherrscht wird und hier meine ich alle sozio-politischen Gesetze unserer Welt. Gesetze haben heute verschiedene Formen und Inhalte als in früheren Zeiten und Epochen. Eines ändert sich jedoch nicht, nämlich, dass der Mensch sich oft auf die Gesetze, Traditionen und Gewohnheiten verlässt, ohne diese in Frage zu stellen. Und die Frage, die ich noch heute stellen möchte ist, ob die Gesetze uns reichen um die Liebe, wie eben beschrieben, erfahren zu können. Reichen uns die Gesetze um die Welt und die Mitmenschen zu lieben? Mir scheint die Liebe von einer anderen Welt zu sein und derjenige der liebt zu einer anderen Welt zugehören. Die Gesetze dieser Welt, liebe Gemeinde, können gut und hilfreich sein um Ordnung zu schaffen und alles besser zu disponieren. Wenn wir uns aber nur nach den Gesetzen dieser Welt richten, werden wir zu Menschen, die nicht mehr frei sind um zu lieben. Wenn wir uns nur nach den Gesetzen dieser Welt richten werden wir uns mit dieser Welt und mit allem was wir in der Welt haben, begnügen. Wir werden folglich nur das Weltliche sehen können und das Himmlische übersehen. Die Liebe ist jedoch das Merkmal der himmlischen Welt. Diese Missachtung des Himmlischen beschreibt Paulus als „Schlaf“ und er schreibt über die Notwendigkeit der Liebe: „Und das tut, weil ihr die Zeit erkannt habt, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf“. Wann immer wir uns mit der Welt begnügen, können wir nicht aufrichtig lieben. Nun ist aber die Zeit aufzustehen, schreibt Paulus. Das griechische Wort, das er für die „Zeit“ an dieser Stelle benutzt ist ein anderes als Chronos, die übliche Bedeutung der Zeit, die wir messen können, nämlich die Uhrzeit. Das Wort das Paulus hier nutzt ist „Kairos“. Und Kairos hat einen weitereren Sinn. Kairos qualifiziert die besondere Zeit, wo das Himmlische und das Weltliche zusammenkommen. Es ist die richtige Zeit, oder der günstige Zeitpunkt, etwas zu tun (Tillich). Wie kann ich Ihnen dies beschreiben? Haben Sie einmal erfahren, dass Sie etwas Wichtiges für eine lange Weile übersehen haben und plötzlich können Sie es sehen, plötzlich habe Sie die Chance alles besser zu tun, vielleicht Jemandem zu vergeben, zu lieben oder zu helfen? Im Gegensatz zu der quantitativen Bedeutung der Zeit als Chronos, hat Kairos einen qualitativen, unmessbaren Charakter. Im Kairos erlauben wir dem himmlischen Reich auf der Erde zu wirken.

 

In diesem Sinne würde Kairos implizieren, dass der Mensch sich mit Entschlossenheit verhält. Liebe ist in diesem Sinne ein Kairos-Akt, denn sie wagt das Unerwartete zu denken und zu tun. Diese Entschlossenheit im Denken und Handeln ist aber nur die Folge des freien Denkens sodass der Mensch nicht mehr das Opfer des vorgegebenen Status quos ist. Nur ein freier Mensch kann sich entschlossen verhalten. Und nur er kann aufrichtig lieben.  Heute, liebe Gemeinde, möchten wir das Kommen Jesu als die richtige Zeit, als Kairos, für uns sehen. Daher hat das Kommen Jesu zu uns vor allem eine Funktion, nämlich uns von unserer Vergessenheit zu erwecken (von unserer Gottesvergessenheit aber auch von der Menschenvergessenheit). Wir wollen in dieser Zeit die Menschen lieben, die wir früher vermeiden wollten. Wir wollen den Menschen vergeben, die uns leidgetan haben, wir wollen uns mit Entschlossenheit für die Welt und für die Mitmenschen entscheiden. In dieser Adventszeit erwarten wir das Kommen Jesu in die Welt. Das Kommen Jesu war und ist ein Kairos-Ereignis. Durch das Kommen Jesu öffnete der Himmel sich zur Erde und in Erwiderung öffnete sich die Erde zum Himmel.

„Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.“ Amen.