Von Liebe erfasst!

Von Liebe erfasst!

 

(Lukas 9,57-62)

 

 

"Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.

Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Er aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!

Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes."

 

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An diesen Tagen, wenn sogar Gottesdienste abgesagt werden müssen, wenn die Welt so sehr durch Anordnungen und Forderungen müde wird, wenn Menschen sich nicht mehr die Hand zu reichen trauen, wenn sie nur noch den Anforderungen folgen und die Pflichten des Alltags das Leben des Menschen so sehr in Anspruch nehmen, wenn der weite Horizont durch die dicken Mauern der Gesetze und Erlasse nicht mehr zu erblicken ist und für Gott, Freiheit, Liebe und Wärme nicht mehr viel Raum bleibt, kann ich mich nicht zurückhalten, an die Worte des Philosophen zu erinnern, der einst schrieb:

 

„Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns?

… Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?

… Endlich warf er [der tolle Mensch] sein Laterne zu Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert - es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit …“[1]

 

Der Nachfolger Jesu, liebe Leserinnen und Leser, ist so ähnlich wie dieser tolle Mensch, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ Der Nachfolger Jesu ist auch oft der Zeit voraus. Er ist oft zu früh für die Welt, denn die Welt ist und bleibt oft irdisch während der Nachfolger zu einer anderen Welt gehört; die Welt jenseits dieser Welt.

 

Und so schrieb auch Hölderlin:

 

Weh mir, wo nehmʼ ich, wenn

 

Es Winter ist, die Blumen, und wo

 

Den Sonnenschein

 

Und Schatten der Erde?

 

Die Mauern stehn

 

Sprachlos und kalt,

 

im Winde

 

Klirren die Fahnen.[2]

 

 

Der Predigttext für heute ist nicht weniger radikal als die Worte des Philosophen und des Dichters. Und so lesen wir, dass Jesus zu einem Jünger sprach: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ Der Menschensohn ist Jesus, er ist aber auch jeder Mensch, jeder Mensch, der sich als Nachfolger versteht. Und wie verstehen wir es heute ein Nachfolger zu sein? Der Nachfolger ist derjenige der hinterher geht. Als Jesus sich über die Nachfolge, hier im Lukas Evangelium, geäußert hat ist er schon nach Jerusalem aufgebrochen. Der Weg nach Jerusalem war der Weg in die Unsicherheit, denn Jesus wusste was in Jerusalem auf ihn wartet. In diesem Sinne bedeutet ein Nachfolger Jesu zu sein, hinter Jesus auf dem Weg nach Jerusalem gehen zu wagen, nämlich auf dem Weg des Leides und des Todes. Da dieser ein enger und steiniger Weg ist, aber auch weil das Denken und Verhalten der Menschenmenge oft so sehr durch die Weltanschauung und die Sichtweisen der anderen begrenzt ist, schaffen es nicht viele den Weg zu erblicken, zu finden und zu gehen. Daher bleibt der Nachfolger oft allein auf dem Weg.

 

Und wie der tolle Mensch, in der Erzählung von Nitzsche, erfährt der Nachfolger, dass dieser Weg noch unbekannt und unvorstellbar für andere ist und er wird oft als Unsinn abgetan. Er erfährt, dass der Weg der Nachfolge oft auch abgelehnt und zurückgewiesen wird. Vergeblich schaut er herum und findet Niemand. Alle sind irgendwo anders. Niemand ist da um den Weg mitzugehen. In dieser unvermeidbaren Einsamkeit erfährt aber der Nachfolger auch Freiheit, und in aller Verlassenheit Trost. Er erfährt, dass er anders ist, dass er anders sein darf und kann, dass er anderes will. Daher sagt mir die Nachfolge wer ich bin. Sie sagt, dass ich nur Einem folge, der den Weg vor mir gegangen ist, dass mein Herz sich nicht den Obrigkeiten und Herrschaften dieser Welt unterwerfen soll, sondern nur der einen, leisen Stimme folgen, die der Nachfolger in allem Stimmengewirr hört. Daher fordert die Nachfolge von uns, unser Leben in die Hand zu nehmen, das heißt, dass ich selbst entscheide wer ich bin und wie ich lebe und warum; nicht die Anderen, nicht Traditionen oder die Bräuche einer Gesellschaft, sondern ich, der Nachfolger, in aller Freiheit. Das stimmt völlig, liebe Leserinnen und Leser. Denn der Weg der Nachfolge darf nur in Freiheit gegangen werden, genauso wie die Liebe, die man nur in Freiheit erfährt. Alles anderes kann nicht Liebe und nicht Nachfolge sein.

 

Dies ist die erste Hürde, die man auf dem Weg der Nachfolge erfährt: die Heimatlosigkeit, aber auch die Ungewissheit. Der Nachfolger wird nirgendwo etwas haben, um sein Haupt hinzulegen. Ist es aber nicht der Fall, dass diese Ungewissheit zu uns allen gehört? Wir wollen oft bestätigen können, dass wir vieles wissen und vieles sichern können. Das ist aber nicht immer wahr, besonders in der gegenwärtigen Zeit, wenn vieles, wegen einer ansteckenden Krankheit, in Ungewissheit steht. Es ist vielmehr, dass man in Ungewissheit der Gnade und der Liebe Gottes vertrauen kann. Der Nachfolger hat daher ein ganz anderes Verständnis von Gewissheit und Heimat; eine Gewissheit und Heimat, die nicht durch das Vergängliche zerstört und ausgelöst werden können.

 

In diesem Sinne ist die Nachfolge eine Art der Verbundenheit, die in sich Leid und Freud, Unruhe aber auch Befreiung trägt. Die Nachfolge ist eine Art der Verbundenheit, die man nicht einfach beschreiben kann, da der Mensch nicht die Kontrolle dafür hat. Sie ist einfach da. Sie gehört zu ihm und er zu ihr. Sie ist seine Heimat. Sie ist sogar was er ist. Er ist die Nachfolge. Auch wenn er sich entscheiden würde sich anders zu verhalten, würde er dies nicht tun können, denn die Nachfolge schlägt ihre Wurzel in der tiefsten Tiefe der Person. Sie formt die Person in ihrem Inneren, sodass es keinen anderen Weg mehr geben könnte.

 

Jesu Antwort an den zweiten Jünger, der seinen Vater begraben wollte bevor er Jesu nachfolge, ist auch eine radikale Antwort. Und so sprach Jesus zu ihm: „Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!“ Mit diesen Worten bricht Jesus das vierte Gebot von den zehn alttestamentlichen Geboten: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.“ Der dritte Jünger, wie der zweite, bittet um Erlaubnis, zuerst etwas anderes zu tun. In gewisser Weise haben beide Jünger Bedingungen für ihre Nachfolge aufgestellt: „Ich werde dir nachfolgen, aber zuerst...“ Dies könnte natürlich auch eine Hürde auf dem Weg der Nachfolge sein, denn man denkt oft, dass es noch was ganz Wichtiges gibt, dass man tun soll. Und Jesus meint, dass die Nachfolge die erste Priorität hat und nichts anderes. Jesus bietet aber keine anderen Regeln und Gebote an, nur die Liebe ist für die Nachfolge erforderlich, Liebe vom ganzen Herzen. Und so lesen wir im selben Evangelium, Kapitel 10, die Worte Jesu: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (Lukas 10,27).

 

Der Weg der Nachfolge, liebe Leserinnen und Leser, ist immer und überall derselbe Weg, denn er ist unabhängig von Ort und Zeit und von den vielen verschiedenen Umständen des menschlichen Lebens.

 

Kurz gesagt: Man wird von der Nachfolge ergriffen und erfasst, genauso wie der Verliebte durch Liebe erfasst wird. Die Nachfolge hört nicht auf, denn sie ist wie die Liebe, die nicht aufhört.

 

„Die Liebe höret nimmer auf“ (1.Kor.13.8). Amen.

 

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[1] Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Leipzig 1915, 162.

 

[2] Friedrich Hölderlin, „Hälfte des Lebens“.