Mit Flügeln auffahren

Mit Flügeln auffahren

 

(Jesaja 40, 26-31)

 

 

„Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

 

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Als ich Teenager war, war es ein Trend in der jugendlichen Gruppe unserer Kirche den Glauben wissenschaftlich zu rechtfertigen. Ich erinnere mich, dass damals ein „Wissenschaftler“ während einer Freizeit Vorträge über die Schöpfung Gottes, die Erde, die Sonne und die Sterne und den Gott, der hinter allem steht gehalten hat. Irgendwie war es damals für die Jugendliche spannend und faszinierend die Beschreibung eines „Wissenschaftlers“ zu hören, nämlich wie das Universum, die Sterne und die Sonne so korrekt und präzis von Gott gemacht worden sind und wie das Ganze im Plan Gottes von Ewigkeit steht; einen Plan, der nur beweist wie großartig Gott ist. Damals riefen diese Vorträge viele Frage hervor: hat Gott alles vorherbestimmt? Hatte Gott so einen Plan, dessen Ursprung in der Ewigkeit liegt? Wahrscheinlich beeindruckte uns damals am meisten zu glauben, dass Gott jedes winzige Detail in der Hand hat und sogar die volle Kontrolle über unser Leben.

 

Man könnte denken, dass der heutige Predigttext auch in diese Richtung geht, denn Gott ist beschrieben als ein mächtiger Gott, der selbst die Bahn der Gestirne setzt. In diesem Sinne lautet der Vers 22 im selben Kapitel: „Er thront über dem Kreis der Erde, und die darauf wohnen, sind wie Heuschrecken; er spannt den Himmel aus wie einen Schleier und breitet ihn aus wie ein Zelt, in dem man wohnt“.

 

Vom Kontext des Textes wissen wir aber, dass der Prophet in einer poetisch-sinnbildlichen Sprache schreibt. Seine Worte sind aber auch gleichzeitig revolutionär. Er adressiert an das Volk Israel im babylonischen Exil und ermutigt die Menschen dort die Werke Gottes, nämlich den Sternhimmel, zu bewundern: „Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.“ Obwohl die Gestirne für die Babylonier die göttlichen Mächte repräsentierten, beschreibt der Prophet diese so ähnlich wie die Herdentiere, von denen keins verloren gehen wird, denn Gott, der Schöpfer kennt sie mit Namen. Gleichzeitig ist dem Propheten aber bewusst, wie hoffnungslos das Volk Israel im fremden Land ist. Er will den Menschen wieder Hoffnung schenken, Hoffnung, dass sie zurück zu ihr Land kehren werden. Und so lesen wir im Vers 27: „Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«?“ Und die Antwort des Propheten—nicht weniger poetisch—kommt: „Der Herr … wird nicht müde noch matt“.

 

Es wäre hier, liebe Leserinnen und Leser, ein Fehler den biblischen Text wortwörtlich zu lesen, ohne den historischen Kontext des Textes zu beachten. Das poetische Genre des Textes darf auch nicht unbeachtet bleiben, als ob durch diese Worte eine physich-natürliche Kraft dem Volk versprochen wurde. Die Weisheit hinter der gesamten natürlichen Ordnung ist natürlich nicht außer Acht zu lassen. Diese dienen aber nur als Zeichen und Symbole für das göttliche Mysterium, das dahintersteht. Und so lesen wir auch im Predigttext: „der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, … sein Verstand ist unausforschlich.“ Die natürliche Ordnung kann nicht als Beweis für Gott angesehen werden, denn die Natur und die Sterne, wenn geprüft und getestet, nur das Sichtbare und Greifbare bezeugen und demgegenüber bleibt die göttliche Weisheit unerforschlich. Von Gott darf nur ein Vorgeschmack—durch die Natur, die Berge und den Sternhimmel—im Herzen erfahren werden.

 

Was ich heute, liebe Leserinnen und Leser, sagen möchte ist, dass unser Glaube auf einer anderen Ebene steht als alles andere, was sichtbar und konkret in der Welt ist. Das ist nun wichtig zu sehen, denn wann immer dieser Unterschied—diese Differenz—zwischen Gott (und Glauben) und alles was konkret und beweisbar ist fehlt, wird der Glaube missverstanden und missachtet. Dieses Missverständnis sehe ich heute oft zum Beispiel bei unseren Jugendlichen, die hauptsächlich an den wissenschaftlichen Experimenten und Methoden orientiert sind und denken, dass diese mit dem Glauben nicht passen. Wann immer wir aber uns bewusst sind, dass der Glaube auf keine wissenschaftliche Anstrengung gegründet und kein Konkurrent für Wissenschaft ist dann werden wir uns auch bewusst wie unnötig die ganze Anstrengung wäre den Glauben mit den wissenschaftlichen Theorien—oder einer Art Urknall-Theorie—vereinbaren zu versuchen—Ein ähnlicher Versuch wurde z.B. von dem „Wissenschaftler“ unternommen, von dem ich oben berichtet habe. Die naturwissenschaftlichen Sichten und Auskünfte können auch den Glauben nicht ersetzen, denn dies sind zwei verschiedene Dinge. Die Naturwissenschaften bemühen sich die Welt, die Menschen und das Universum von einer experimentalen—empirischen—Sicht zu beschrieben. Sie richten ihre Bemühungen dahin aus, die konkrete Welt und die biologische Realität der Menschen, der Tiere und Pflanzen zu untersuchen. Glaube aber ist ein geistlich-spirituelles Bestreben zu welchem die Wissenschaften keinen Zugang haben. Denn das was geistlich und geistig ist kann nicht in einem Labor untersucht werden. In diesem Sinne sind die Wissenschaften keine Gefahr für den Glauben. Ganz im Gegenteil können diese den Glauben unterstützen und vor Aberglauben bewahren, denn oft kann der Glaube auch durch fiktive Überzeugungen missverstanden werden. Die Wissenschaften unterstützen den Glauben, diese können aber, wie eben erwähnt, den Glauben nicht beweisen und nicht untersuchen, denn Gott ist jenseits der empirischen Bemühungen der Menschen.

 

Dass Gott durch keine wissenschaftlichen Bemühungen bewiesen werden kann leugnet Gott und unseren Glauben nicht, sondern gibt Gott und dem Glauben einen höheren Status, einen höheren Rang, welcher jenseits aller objektiv-sachlichen Realitäten, die uns in der Welt umgeben, ist. Gott und Glaube erfährt der Mensch in seinem Inneren und dies macht aus uns Menschen, denn wir sind nicht bloß eine biologische Realität. Diese geistliche Dimension und dieses spirituelle Bestreben in uns machen uns zu Menschen, denn zum Menschsein gehört auch das geistliche Bestreben.

 

Die Wunder der Schöpfung, der Natur, der Bäume und eines Sternhimmels erwecken in mir heute nicht unbedingt die Gewissheit der Macht Gottes und auch nicht den Forscherdrang mich in die astronomischen Kenntnisse zu vertiefen. In der Natur, in den Bäumen und in einem Sternhimmel erahne und spüre ich stattdessen wie klein und wie vergänglich ich bin. Dieses Empfinden des klein-und-vergänglich-Seins ist aber tief mit einem Gefühl der Gelassenheit und des Vertrauens verbunden. Das Vergänglich-sein und das Vertrauen sind ähnliche Erfahrungen wie des Todes und der Auferstehung. Nur durch den Tod, und nicht durch eine physikalische Macht, erfahre ich die Auferstehung. Der Gott, an den wir glauben hat sich in Jesus Christus offenbart, der über dem Kreuz thronte und seine Macht die Macht der Liebe war, die Liebe, die sich für den anderen opfert.

 

Natürlich ist dies für uns nicht immer einfach zu begreifen, denn wir wollen alles mit den Augen sehen und mit den Händen berühren können, genauso wie Thomas, der sagte: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich's nicht glauben.“

 

Heute, am ersten Sonntag nach Ostern sind wir eingeladen Jesus mit unserem Herzensauge zu sehen und ihn durch den Glauben zu berühren. Wir sind eingeladen, auch in der heutigen schwierigen Situation mit der Corona-Krise- auch wenn wir allein gelassen sind und keine Kontakte mit unseren lieben Menschen haben dürfen- wir sind eingeladen nicht müde und nicht matt zu werden, sondern in Gott neue Kraft und neue Stärke für unsere Seelen zu finden.

 

Daher „breitet Eure Flügel aus und fliegt!“

 

Fliegt, Ihr, die auf den Herrn harrt!

 

Fliegt von der kalten Welt der Wüste,

 

fliegt mit Flügeln wie Adler!

 

„Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ Amen!