Die Liebe, die trägt
(Micha 7,18-20)
Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.
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„Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt‘ (Mi 7,18). Heute wollen wir fragen: Warum brauchen wir Vergebung? Ist es nicht so, dass jeder von uns lebt und sich verhält wie er will, sodass am Ende er selbst für seine Taten und Worte steht?
Im Grunde, liebe Gemeinde, braucht der Mensch Vergebung nicht für Worte, die er gesprochen, oder die Dinge, die er getan hat. Im Grunde braucht der Mensch Vergebung für seine unrechten Haltungen. Woher kommen diese Haltungen dann? Wozu dienen diese? Wieso können wir uns selbst nicht von solchen verfehlten Haltungen befreien?
Die unrechten Haltungen gehören irgendwie zusammen mit unserem Sein in der Welt. In der Welt sind unsere Leben nicht perfekt oder vollkommen. Und die heutige Gesellschaft ist zumeist individualistisch orientiert, so dass der Mensch oft versäumt, andere zu sehen und ist mit allem was er hat und ist beschäftigt und zufrieden. Diese Haltungen, liebe Gemeinde, können nur ausgelöscht werden, wenn der Mensch sich erlaubt von einem anderen getragen zu werden, nämlich, wenn er sich erlaubt geliebt zu werden. Warum braucht denn der Mensch getragen zu werden? Dies braucht er denn die Wurzel aller unrechten Haltungen ist das geschlossene Selbst, das sich nur um sich selbst kümmert. Diese Haltungen verschwinden aber in dem Moment, wenn wir geliebt, nämlich getragen werden. Haben Sie irgendwann im Leben erfahren, dass ein aggressiver Mensch in einem Moment der Liebe und des Getragen-seins sich ändert, sich öffnet und sogar liebt? Irgendwie wirkt das Getragen-Werden gegen das geschlossene Sein des Menschen, da dies zeigt, dass der Mensch nicht allein ist und nicht alles selbst tragen kann und muss. Wir sind, liebe Gemeinde, von Gott getragen, wir sind geliebt. Wir sind nicht allein. Wann immer wir zu Gott kommen, lassen wir uns von Gott tragen. In diesem Moment sollen wir nichts tun. Er trägt uns. Er trägt unsere Schuld, unsere Krankheit, er trägt alles was uns verletzt, alles was wir vergessen wollen. Er wird all dies „unter die Füße treten“, wie der heutige Predigttext sagt. Er wird diese „in die Tiefen des Meers werfen“. In diesem Augenblick sind wir völlig passiv. Er wirkt. Er, der hinter allem steht, wirkt auch alles. Wir sollen aber erst zu ihm kommen. Und diese Entscheidung ist ganz unsere, denn Gott zwingt den Menschen zu nichts. Sobald aber der Mensch sich der Liebe Gottes, nämlich seinem Getragen-Sein bewusst wird, beginnen die verfälschten Haltungen zu schwinden sodass ihm damit vergeben werden kann.
Gott wirkt in diesem Augenblick wie die fließenden, rauschenden Wellen eines Flusses, die in ihrem Verlauf die Sorgen unsers schweren Herzens tragen und vergehen und uns ein leichtes, freies Herz überlassen. Die Liebe ist dann im Grunde das Tragen. So ist auch der ursprüngliche Sinn des Wortes im heutigen Predigttext „vergibt“. „Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt“, auf Hebräisch [נָשָׂא - nasa], nämlich, der die Sünde hebt, trägt, wegträgt, auf sich nimmt. Dasselbe Verb wird auch in Jesaja Kapitel 53 (4-6) verwendet:
„Fürwahr, er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen; … die Strafe lag auf ihm, damit wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt worden. Wir alle gingen in die Irre wie Schafe, jeder wandte sich auf seinen Weg; aber der HERR warf unser aller Schuld auf ihn.“
Daher sagen wir, dass Gott die Liebe ist. Er trägt uns. Er trägt mich uns dich, sodass wir nichts mehr unternehmen sollen. Wenn wir zu ihm kommen macht er den Rest für uns. Manchmal verweigern wir zu Gott zu kommen, denn es fällt uns schwer getragen zu werden. Oft wollen wir selbst alles in Besitz nehmen, alles selbst tun und tragen können. Oft denkt der Mensch, dass er nur frei ist, wenn er alles in der Hand hat. Es ist aber so, liebe Gemeinde, dass wann immer uns Gott trägt, er zugleich unsere Schmerzen, unsere Fehler, unsere Schwäche und verfälschte Haltungen trägt, sodass wir wahrlich frei sein können. Nur wenn wir uns loslassen können, nämlich wenn wir uns auf Gott einlassen, so ähnlich wie wir uns das rauschende Waser einlassen, in dieser Erfahrung der Gelassenheit liegt die wahre Freiheit.
Alle wahren Erfahrungen der Liebe, liebe Gemeinde, sind Erfahrungen des Tragens. Wie kann ich aber andere tragen? Dies geschieht oft durch unsere Reaktionen oder Erwiderungen auf die Bedürfnisse der Anderen. Dies geschieht auch wenn ich für andere Menschen da sein kann. Zu diesem Tragen gehört auch das Tragen der Fehler der Anderen und dass ich ihnen vergeben kann. Oft helfen auch ganz einfache Dinge, wie ein Lächeln oder ein Grußwort. Die Liebe trägt. Die Liebe kann nichts anderes. In all ihren Erscheinungen trägt die Liebe das was sie liebt. So ähnlich hat es auch der Apostel Paulus in seinem Brief an die Epheser geschrieben: „Seid aber gegeneinander freundlich und barmherzig und vergebt einander, gleichwie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“ (Eph.4,32)
Gott trägt uns, wir tragen auch einander.
Andere zu tragen ist eine freie Entscheidung und nur deshalb ist dies auch ein Ausdruck der Liebe, denn die Liebe ist frei. Man kann nicht gezwungen werden andere zu tragen und falls dies geschieht, ist dies dann ein Zeichen der Ungerechtigkeit in der Welt.
Im Bereich der Wirtschaft und der Politik gibt es immer diejenigen, die alles unter Kontrolle haben und diejenigen, die gezwungen sind, die Schulden der anderen zu tragen. Das sollte aber in der Kirche nicht der Fall sein. Und so haben auch die Worte des Propheten Micha, dessen Buch fast dreihundert Jahre von der Geschichte des jüdischen Volkes umfasst, die Eliten der derzeitigen Gesellschaft kritisiert, denn die Armen litten unter Ungerechtigkeit: „Wehe denen, die Frevel ersinnen und Böses vorbereiten auf ihren Lagern! Am Morgen, wenn es licht wird, führen sie es aus, weil es in ihrer Macht steht.“ (Mic 2,1) Heute, liebe Gemeinde, sind wir eingeladen nicht nur die Schulden unserer Nachbarländer, oder unserer strategischen Partnern zu tragen. Heute sind wir eingeladen uns um Gerechtigkeit und den Wohlstand aller Menschen der Welt zu bemühen, denn das Leben in Freiheit ist das Recht aller Menschen.
Daher sind wir eingeladen einander zu tragen. Ich würde heute nicht zögern zu sagen, dass die Größe (die Güte) der Person in ihrer Fähigkeit liegt, andere zu tragen und von anderen getragen zu werden. Jesus wurde auch getragen, sonst würden wir heute über ihn nichts hören können. Er wurde im Leben und im Herzen seiner vielen Jüngerinnen und Jüngern getragen, und damit konnten seine Nachfolgerinnen und Nachfolger an seine Auferstehung glauben.
Liebe Gemeinde, wir sind eingeladen nicht nur einander, sondern auch Gott in unserem Herzen zu tragen. Es ist so, wenn wir von Gott getragen werden können wir wahrhaftig ins Licht eintreten, uns wird vergeben werden und wir werden wahrlich frei sein, und wenn wir Gott in unserem Herzen tragen wird Gott erscheinen und sich offenbaren. In der Geschichte der Menschheit waren es immer die Menschen, die die Offenbarung Gottes erhalten und an andere weitergegeben haben. Der Mensch war und ist der Bereich wo Gott sich zeigt, sich offenbart. Wie sollte denn Gott sich ausdrücken, wenn nicht durch Menschen? Wer sollte für Gott sprechen, wenn nicht du und ich? Wer sollte für Gerechtigkeit, für Liebe und für Frieden sprechen und leben, wenn nicht wir?
Daher können wir sagen, dass wann immer wir zu Gott kommen, und wann immer wir uns auf Gott einlassen, trägt, vergibt und befreit er uns, sodass wir wiederum die befreiende Botschaft Gottes in die Welt tragen.
Brauchen wir so eine Liebe, so eine Vergebung, die uns trägt? Liebe Gemeinde, in den meist schwierigen Zeiten unseres Lebens hält uns nur die tragende Liebe Gottes; sie ist es die uns aufnimmt, befreit und Hoffnung schenkt. Gott liebt, Gott trägt, genauso wie der Hirte in der heutigen Schriftlesung, der nach dem verlorenen Schaf sucht und wenn er es findet legt er sich es auf die Schultern voller Freude. Und so wollen wir heute auch beten:
„Der HERR ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.“ Amen.