Die Großherzigkeit

Die Großherzigkeit

 

(Römer 12,17-21)

 

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

 

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„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Dieser Satz aus dem Lukas Evangelium, den wir in der Schriftlesung gehört haben, wollen wir heute als Überschrift für den heutigen Predigttext und der Predigt nehmen. Und das Wort Barmherzigkeit—auf Lateinisch: misericordia—wollen wir heute, liebe Gemeinde, als Großherzigkeit betrachten.

Das entsprechende hebräische Wort für ‚barmherzig‘ in Lukas 6.36 ist רַחוּם (rahum) und Barmherzigkeit ist im Alten Testament רַחַם [racham, rahme]. Das Wort bedeutet (auf Hebräisch, auch auf Arabisch): Mutterleib (die Gebärmutter), da wo ein Säugling geformt wird, wo die Organe, das Gehirn, die Beine … des Ungeborenen sich ausbilden und entwickeln. Der ungeborene Säugling wird immer mehr Raum brauchen um zu wachsen und sich zu bewegen und dafür wächst aber auch in gleichem Maße der Mutterleib. In diesem Sinne würde Barmherzigkeit רַחַם [racham, rahme] als der Ort verstanden, wo der Mensch für sich Raum findet, Raum zu wachsen, sich zu entwickeln und zu bewegen. Und wenn wir sagen, dass Gott barmherzig zu allen Menschen ist, meinen wir, dass bei Gott jeder Mensch Raum für sich hat. Die Barmherzigkeit, so ähnlich wie die Liebe, schafft für andere Raum, sodass der andere Platz für sich hat. Wenn wir uns das Bild einer Mutter vorstellen, würden wir sagen Barmherzigkeit ist Großherzigkeit, die nur mit Zärtlichkeit mit anderen umgeht.

 

Manchmal sind die Menschen jedoch versucht, den Raum des anderen zu zerstören. Sie tun das von der Logik her, dass, wenn dieser Raum, der dem anderen gehört zerstört wird, sie mehr Raum und mehr Platz für sich haben werden. Sie werden sich als mächtiger erweisen und sich bewähren können. Diese Gedanken und Haltungen herrschen und herrschten oft in der Vergangenheit nicht nur auf der Privatbeziehungsebene, sondern auch mit Blick auf die Beziehungen unter den Völkern und Ländern. In der Geschichte haben Völker immer versucht andere zu unterjochen sodass sie mehr Macht und mehr Privilegien für sich haben.

 

Das Apartheid- System in Südafrika der 60er ist ein Beispiel für ein solches Verhalten. Nach dem Apartheid System waren Rassentrennung, ungleiche Behandlung und räumliche Trennung der europäisch stämmigen Weißen und der Nicht-Weißen in städtischen Gebieten vorgeschrieben. Nelson Mandela, der ein führender Aktivist gegen die Apartheid war wurde 1963 verhaftet und von der amerikanischen Regierung als „Terrorist“ verschrien. 1990, nach 27 Jahren im Gefängnis, wurde Mandela aus der Haft entlassen und nach einigen Tagen stellte er seine Politik der Versöhnung vor. In einer Rede lud er „alle Menschen, die die Apartheid aufgegeben haben“, zur Mitarbeit an einem „nichtrassischen, geeinten und demokratischen Südafrika“[1] ein. 1994 wurde er als der erste Schwarze Präsident des Landes einstimmig gewählt. In diesem Jahr erschien seine Autobiographie „Der Lange Weg zur Freiheit“, wo er schrieb:

 

„Während dieser langen, einsamen Jahre wurde aus meinem Hunger nach Freiheit für mein eigenes Volk der Hunger nach Freiheit aller Völker, ob weiß oder schwarz. … Ein Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener des Hasses. … Der Unterdrückte und der Unterdrücker sind gleichermaßen ihrer Menschlichkeit beraubt.“[2]

 

„Während dieser … Jahre wurde aus meinem Hunger nach Freiheit für mein eigenes Volk der Hunger nach Freiheit aller Völker“. Man könnte auch sagen: Während dieser Jahre wurde die Barmherzigkeit gelernt. Wie lernt man aber die Barmherzigkeit, sodass man mit den Anderen nicht so umgeht wie man selbst behandelt wurde? Wäre das dann nicht Schwachheit, Naivität?

Nur diejenigen, liebe Gemeinde, die großherzig sind, die die Großherzigkeit lernen, die aus Licht und Schlichtheit gemacht sind, die wie ein Leuchtturm in der Welt leuchten, eine Welt, die sich oft nach Rassen, Farben, Religionen, und Geschlecht ausrichtet, diese sind die Barmherzigen. In diesem Sinne ist die Barmherzigkeit keine Naivität und keine Schwachheit, obwohl sie so scheinen könnte. Und so hat der Evangelist Lukas gefragt: „Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?“ Der Blinde ist hier derjenige, liebe Gemeinde, der die anderen nicht sehen kann, nicht wegen einer physischen Blindheit, sondern die Blindheit des Herzens, die keinen Raum für den Anderen hat. Und dies sei schlimmer als die körperliche Blindheit.

Ganz am Gegenteil beinhaltet die Barmherzigkeit ein Element der Weisheit, denn sie sieht das was andere oft versäumen zu sehen. Der barmherzige Mensch ist kein blinder Mensch. Er sieht den anderen ganz und gar und schafft für ihn Raum im Herzen, daher sagen wir, dass die Barmherzigkeit Großherzigkeit ist. In diesem Sinne ist die Barmherzigkeit immer mit dem Wohlwollen zu anderen Menschen verbunden, sodass der barmherzige Mensch sich bemüht den anderen aus seinem Elend und seiner Not herauszuholen, ihn zu heben.

 

Derjenige, liebe Gemeinde, der zu einem barmherzig ist, ist auch zu allen Menschen barmherzig. Hier macht es kein Unterschied wer der andere ist. Barmherzigkeit ist und betrifft alle. Daher schreibt Paulus: „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“ Das Bestreben nach eigener Freiheit ist ein unvollkommenes Bestreben, das zum Bestreben nach der Freiheit aller Menschen wachsen soll. So ist auch die Barmherzigkeit.

 

Die Barmherzigkeit ist aber auch keine plötzliche Entscheidung. Ich kann nicht in einem Moment aggressive Kritik an Jemandem üben und ihn be- und verurteilen und in einem anderen Moment, so unerwartet, mich barmherzig verhalten und mitfühlend zeigen. Die Barmherzigkeit ist eher eine Art des Lebens, des Seins. Die Barmherzigkeit kann sich nicht anders verhalten. Daher hat die Barmherzigkeit auch kein Ende.

Es kann hier bemerkt werden, dass bei einem juristischen Vorgang die Barmherzigkeit oft fehlt. Obwohl die Gesetze ein gewisses Maß an Barmherzigkeit enthalten, denn sie bezwecken Raum für alle Menschen zu schaffen, sie sind aber oft starr. Sie können sich nicht nach Bedarf ändern oder sich weiten lassen, wie der Mutterleib dies oft tut um Raum für das Kind zu schaffen.

 

Daher fehlt es einem juristischen Vorgang oft an Herz, denn bei solchen Vorgängen wird alles nach Gesetzen und Vorschriften laufen. Während die Barmherzigkeit die Wunde des anderen sieht und zugleich weiß, dass nichts anders im Leben wichtiger wäre, als diese Wunde zu heilen; keine Anforderungen und keine persönlichen Vorzüge. Und so lesen wir im Lukas Evangelium: „richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.“ (Lukas 6,37)

Daher ersehnt die Barmherzigkeit auch die Bosheit des andern zum Guten zu verwandeln. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“, schreibt Paulus. In einem Gedicht hat Reiner Maria Rilke den Schnee als barmherzig beschrieben, denn er deckt alles zu; alles was vielleicht unschön, bescheiden oder ärmlich ist wird durch den Schnee so prächtig aussehen. Obwohl wir nun im Sommer sind, möchte ich trotzdem die Worte Rilkes vorlesen, der einmal schrieb:

 

Es gibt so wunderweiße Nächte,

drin alle Dinge Silber sind.

Da schimmert mancher Stern so lind,

als ob er fromme Hirten brächte

zu einem neuen Jesuskind.

 

Weit wie mit dichtem Diamantstaube

bestreut, erscheinen Flur und Flut,

und in die Herzen, traumgemut,

steigt ein kapellenloser Glaube,

der leise seine Wunder tut.

 

(Rainer Maria Rilke- „Die Gedichte“ Insel Verlag)

 

Die Barmherzigkeit, liebe Gemeinde, ist ein reines Wunder, ein hohes Gut, das jedoch gelernt werden will, "mit dem ganzen Wesen, mit allen Kräften, versammelt um das eigene, einsame und bange Herz". Denn die Barmherzigkeit ist wie die Liebe „das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.“ (Rilke, Briefe an einen jungen Dichter)

 

Der barmherzige Mensch findet in Gott allein die Quelle aller Barmherzigkeit und in Jesus Christus, der einmal zu einer Frau sprach: „So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“ (Joh.8,11)

 

Amen.

 

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[1] Stephan Bierling, Nelson Mandela. München 2012, 93.

 

[2] Nelson Mandela, Der lange Weg zur Freiheit. Frankfurt a. M. 1997, 835.