Der Ruf der Freiheit

Der Ruf der Freiheit

(Phil 3,12-14)

 

Ich möchte nicht behaupten, dass ich das alles schon erreicht habe oder bereits am Ziel bin. Aber ich laufe auf das Ziel zu, um es zu ergreifen –weil ja auch ich von Christus Jesus ergriffen bin. Brüder und Schwestern, ich bilde mir wirklich nicht ein, dass ich es schon geschafft habe. Aber ich tue eines: Ich vergesse, was hinter mir liegt. Und ich strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt. Ich laufe auf das Ziel zu, um den Siegespreis zu gewinnen: die Teilhabe an der himmlischen Welt, zu der Gott uns durch Christus Jesus berufen hat.

 

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„Ich möchte nicht behaupten, dass ich das alles schon erreicht habe oder bereits am Ziel bin. Aber ich laufe auf das Ziel zu“, so beschreibt der Apostel Paulus seine Sehnsucht nach dem Endziel, nämlich nach Gott. Wie ist aber dieses Endziel zu erreichen? Soll und kann der Mensch ein vollkommenes Leben hier in der Welt führen sodass das Endziel erreicht werden kann? „ich laufe auf das Ziel zu“. Auf das Ziel zulaufen und dadurch im Prozess, im Fortschritt zu sein. Das ist das Wichtigste, meinte der Apostel. Und dies ist natürlich ein innerliches Zulaufen, eine innerliche Bewegung. Dies würde bedeuten, liebe Gemeinde, dass wir über unseren Glauben nie sagen können, dass wir das Ziel des Glaubens im Leben schon erreicht haben sodass uns nichts bleibt wofür wir uns bemühen sollen. Gänzlich anders dazu scheint unser Leben in der Welt zu sein. In der Welt arbeitet der Mensch in seiner Jugend und in den gesunden Lebensjahren seines Lebens. Er baut seine Karriere, sein Haus. Er spart Geld für die Zukunft und möchte das Ergebnis seiner Arbeit später, wenn er in Rente geht, genießen. Dies ist aber anders, wenn wir über unseren Glauben reden. Spirituell/geistlich gesehen soll Fortschritt immer möglich sein, denn Vollkommenheit ist in der Welt nicht zu erreichen.

 

Daher macht das Streben nach Gott keine Pause, kein Halt. Und wir werden immer wieder in unserem Glauben mit der Frage konfrontiert: Was ist jetzt? Welchen Schritt tue ich als nächstes? Wie kann ich im Prozess, im Fortschritt sein und was ist mit Fortschritt gemeint? Die frühen griechischen Kirchenväter haben eine Antwort auf die Frage gegeben. Sie haben den innerlichen Fortschritt wie eine spirituelle/geistige Reise bezeichnet, eine Reise mit drei Phasen, durch welche sich der Mensch zu Gott bewegt, oder besser gesagt: zu Gott erhebt. Eine Wanderung so ähnlich wie eine Bergbesteigung. Ganz unten steht der Mensch und oben ist Gott.

 

Diese geistliche Wanderung fängt mit Reinigung an und damit ist die innerliche Reinigung gemeint, dass man innerlich alles weglassen kann und soll, was der Mensch nicht wesentlich braucht und was nicht wesentlich zu ihm gehört. In diesem Sinne haben die Kirchenväter die Wanderung Moses zum Berg Sinai als eine spirituelle Wanderung der Seele zu Gott dargestellt. Und so haben sie auch das Waschen der Kleider, die wir in der Schriftlesung gehört haben, als Symbol für innerliche Reinigung und Vorbereitung für die Begegnung des Menschen mit Gott interpretiert. Die Kleiderstücke stehen in diesem Fall für die äußeren Sehnsüchte des Menschen, die immer wieder gereinigt werden sollen. Paulus hat einen ähnlichen Gedanken ausgedrückt, wenn er schrieb: „Ich vergesse, was hinter mir liegt.“. Und die Frage für uns heute wäre: Was ist es in meinem Leben, das meine Begegnung mit Gott und Menschen behindert? Auf was soll ich verzichten, was soll ich vergessen?

 

Die zweite Phase dieser Wanderung oder des Besteigens des Berges ist das Anschauen. Damit ist gemeint eine innere Sicht, eine innere Anschauung, ein inneres Verständnis, ein Anblick im Herzen auf das Göttliche und Himmlische, ein Blick, den man gewinnt erst nach dem Verzicht auf das was unwesentlich im Leben ist. Wann haben wir die Chance für so eine Anschauung, oder Betrachtung? Wie komme ich dazu dieses innere Licht mir anzueignen?

 

Im Gottesdienst wird Betrachtung während des stillen Gebets möglich, da man durch das stille Gebet die Chance hat, das eigene Leben zu betrachten aber dies auch zu Gott zu bringen, nämlich im Licht Gottes die Wahrheit zu suchen. Daher sagen wir, dass durch Gottesdienst, aber auch durch das Hören des Wortes, der Mensch auch auf sich selbst achtet und durch dieses Erheben des Selbst zu Gott betrachtet er eben auch Gott. Und so schreibt Paulus: „Und ich strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt“. Dieses Strecken nach vorne geschieht aber erst wenn der Mensch auf einiges im Leben verzichten kann.

 

Und über die dritte Phase der Wanderung wären die folgenden Worte des Paulus auch passend: „Ich laufe auf das Ziel zu, um den Siegpreis zu gewinnen: die Teilhabe an der himmlischen Welt, zu der Gott uns durch Christus Jesus berufen hat.“

 

Die dritte Phase ist als die Teilhabe an der himmlischen Welt beschrieben, nämlich an Gott. Diese Teilhabe an Gott und an der himmlischen Welt ist, obwohl uns allen hier in der Welt teilweise geschenkt, in ihrer Vollkommenheit aber nur durch den Tod erreichbar. Denn nur durch Tod verzichtet der Mensch auf alles was der materialen Welt gehört und kommt zu Gott mit nichts, sodass Gott ihn vollendet. In diesem Sinne macht der Tod die Auferstehung und die vollkommene Teilhabe an der himmlischen Welt möglich. Im Gegensatz dazu bleibt unser Leben hier in der Welt unvollkommen und Gott bleibt ein Geheimnis, ein Gipfel des Berges, der durch eine dichte Wolke, wie in der Geschichte Mose, und durch den Rauch verborgen bleibt. Wir erkennen ihn im Herzen, aber begreifen können wir ihn gänzlich nicht.

 

Liebe Gemeinde, die Kirchenväter haben dieses Bergsteigen, oder die geistliche Wanderung des Menschen, vor vielen Jahrhunderten beschrieben. Dies hat aber doch auch für uns heute etwas zu sagen: Nur wenn wir das Unwesentliche in unserem Leben loslassen können, können wir das Himmlische sehen. Nur wenn ich mein zweites Hemd einem anderen schenken kann, der keines hat, kann ich die Liebe lernen. Nur wenn wir es verstehen, dass die Erde, das Land und der Fluss nicht uns gehören, sondern uns und anderen gewährt und geborgt wurden, erst dann können wir denjenigen sehen, der uns das Ganze schenkt.

 

Wie kann ich mich heute auf den Weg dieser innerlichen Reise machen? Kann ich das, was meine Freiheit behindert, weglassen, darauf verzichten? Wie kann ich ein reines Herz haben, ein Herz frei von den Flecken der Vergangenheit? Eins ist wichtig. Die Freiheit ist keine individuelle Erfahrung und dieses Bergsteigen würde ich auch allein nicht schaffen können und genau deswegen kehrte Mose zurück zu dem Land, aus dem er weggeflohen war, als er den Ruf Gottes erhielt. Er sollte das ganze Volk aus der Sklaverei herausführen.

 

In diesem Sinne ist die innere Freiheit nicht vom Leben und Handeln isoliert. Die innere Freiheit erfordert freie Handlungen und freie Entscheidungen. Solange, liebe Gemeinde, die Welt existiert, solange andere Menschen unter Ungerechtigkeit leiden, solange es Kriege und Konflikte in der Welt gibt, hat der Mensch, jeder Mensch, viel zu tun. Solange eine Kirche als Moschee genutzt werden und ihre Wahrheit in Vergessenheit untergehen darf, solange eine Frau, wie ich und du, sagt, sie sei seit 17 Monaten im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos, und dass sie es nicht mehr schaffe dies zu ertragen, gibt es viel zu tun [Dunja Hayali im ZDF: Friedrich Merz zu Gast im Talk - Camp Moria sei „Schande für Europa“, 31.07.2020]. Solange Kinder in diesem Lager kein Bett zum Schlafen haben gibt es viel zu tun.  Solange Regierungen solche Handlungen unterstützen, solange das menschliche Elend und die unwürdigen Zustände einiger Menschen von anderen politisiert werden gibt es den Bedarf aus der Sklaverei, aus der Gefangenschaft raus zu kommen und in die Freiheit, im Licht Gottes, einzutreten.

 

Wie finden wir den Weg zu Gott, den Weg für die Reise? Liebe Gemeinde, diesen Weg finden wir nicht, sondern er ist uns von Gott geschenkt. Der Weg ist derselbe Ruf Gottes. Er kommt zu uns. Der Ruf kommt und wir können ihn nicht ignorieren, nicht zurückweisen und nicht zum Schweigen bringen. Er kommt aus meinem tiefen Inneren „und doch über mich“ (Heidegger). Der Ruf der Freiheit ruft heute mich und dich heraus. Der Ruf kommt zu uns wie ein Appell und treibt uns an, die Stille, die Einsamkeit und das Licht des Gebirges erleiden und ausstehen zu können.

 

In Gefangenschaft kam der Ruf der Freiheit zu Mose. „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten?“ Mose konnte aber nicht nein sagen. Nicht nur Mose, Jesus auch, und so lesen wir im Evangelium: „Es geschah aber in jenen Tagen, dass er hinausging auf den Berg, um zu beten; und er verharrte die Nacht hindurch im Gebet zu Gott.“ (Lukas 6,12). Den Weg können wir aber nicht allein gehen. „Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.“ Amen.

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Lieber Gott,

 

Gott der Wahrheit und der Freiheit,

 

Gott des Lebens und der Ewigkeit,

 

Unser Schöpfer und unser Retter,

 

zu dir kommen wir heute

 

und nur auf dich wollen wir warten.

 

Denn du bist unser Fels und unser Heil.

 

Wir kommen zu dir mit schweren Herzen,

 

mit den schmutzigen Flecken der Vergangenheit.

 

Wir wollen vergessen was dahinter ist

 

und uns ausstrecken, ausstrecken nach dir.

 

Aber wie?

 

Wie sollen wir die Stille, die Einsamkeit

 

und das Licht deines Gebirges ausstehen?

 

Wie können wir aller Bestimmtheit übersteigen

 

und den Weg zu dir finden?

 

Komm du Gott zu uns,

 

komm und rufe uns heraus,

 

dann werden wir uns erheben und zu dir auch kommen wollen.

 

Ja, wir werden dir nicht nein sagen können.

 

Wir werden zu dir mit all unseren Sorgen kommen,

 

mit den Trübsalen dieser Welt,

 

mit allen Leidenden, in Gefangenschaften Eingesperrten,

 

mit allen Stimmlosen, Rechtlosen in dieser Welt.

 

Komm, du Gott der Wahrheit, der Freiheit und der Würde,

 

Komm und brich die verhärteten Herzen,

 

damit auch sie deine Stimme

 

und die Stimmen der Mitmenschen hören können.

 

Komm Gott und rufe uns heraus

 

und wir werden deinem Ruf entgegenkommen.

 

Wir werden nur auf dich und auf deinen Ruf warten,

 

du unser Fels, unser Heil und unsere Würde. Amen.