Die Reise des Geistes

Die Reise des Geistes

 

(Gemeindebrief Sep.- Nov. 2020: Nachgedacht)

 

 

 Es war Februar 1995. Mein Vater war kürzlich gestorben. Es war nicht einfach, eine schwer-kranke Schwester und eine Mutter hinter sich zu lassen und sich auf den Weg zum Theologiestudium nach Beirut zu machen. Der Bürgerkrieg im Libanon (1975 - 1990) hat seine Spuren hinterlassen. Obwohl die Stadt Beirut zum großen Teil wiederaufgebaut worden war konnte man jedoch an manchen Stellen den Kriegsschaden noch spüren. Diese waren nicht nur an Gebäuden und Häusern zu sehen, sondern auch an den Gefühlen und Haltungen der Menschen, die immer noch nicht wagten, sich in den verschiedenen Teilen der Stadt Beirut zu bewegen. Während des Krieges war Beirut in Ost und West geteilt. Die „Near East School of Theology“, wo ich Theologie studieren wollte, befand sich im westlichen Teil der Stadt. Dieser Teil wurde aber während des Krieges hauptsächlich von Muslimen bewohnt. Und so zögerten die Christen, die im östlichen Teil lebten oft auch nach dem Krieg, den westlichen Teil Beiruts zu besuchen.

 

Vom ersten Tag meiner Ankunft an habe ich Beirut geliebt. Ich liebte es durch ihre Straßen zu gehen, ihre Steine zu berühren, und das Meer; das Meer mit dem weiten Horizont, darin fand ich eine befreiende Kraft verborgen. Ich konnte mich einfach in Beirut gut bewegen, da ich den Krieg ja nicht miterlebte. Vor allem liebte ich aber den Westen Beiruts. Ich konnte damals nicht ganz begreifen, warum die Christen im Osten—darunter auch meine eigenen Verwandte—Angst vorm Westen hatten. Nun, wenn ich darüber nachdenke, kann ich verstehen, dass besondere Ereignisse im Leben ihre Spuren hinterlassen; Spuren, die oft wie offene Wunden noch weh tun. Und so zieht der Mensch als Folge der schrecklichen Erlebnisse der Vergangenheit eine sichere Zone für sich, und das sind in der Regel innere Mauern und Grenzen, die ihn von der Außenwelt trennen, oder „schützen“; Mauern, die aber in der Realität nicht mehr zu rechtfertigen sind. Die Krankheit meiner Schwester und dann ihr Tod hinterließen ihre Spuren in meinem Leben auch bis heute. Und so scheint es mir, dass jeder Mensch, nach seinen eigenen Erfahrungen, einen sicheren Ort braucht, einen Zufluchtsort, wo er einfach sein kann was er will und wie er will.

 

Trotz aller bitteren Erfahrungen der Vergangenheit, trotz Ängste, Schwächen und der Unsicherheit sind wir heute, liebe Leserinnen und Leser, aufgerufen, uns von Mauern und Grenzen zu befreien. Wir sind aufgerufen uns auf den Weg der Freiheit zu machen. Eins hilft uns: Nur wenn wir uns mit den Verlusten unseres Lebens versöhnen werden wir uns nach Freiheit sehnen können, denn Freiheit ist nicht innerhalb von Mauern und Grenzen zu finden. Freiheit ist eher die Freiheit des Geistes. Mauern und Grenzen schränken daher vor allem die eigene Freiheit ein. Und genau das ist es, was wir meinen, wenn wir sagen, dass wir Gott vertrauen. Die Freiheit des Geistes ist nämlich mit unserem Gottvertrauen verbunden. Und so schrieb auch der Apostel Paulus: „Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ (2.Kor.3,17)

 

Wir sind heute, liebe Leserinnen und Leser, aufgerufen uns auf den Weg der Freiheit zu machen und die Reise des Geistes zu wagen, denn wir sind nicht allein gelassen.

 

 

 

Du, mein Neckar,

 

obwohl ich Dir eine Fremde,

 

behieltest Du mich mit Liebe und Zärtlichkeit.

 

Mehr als ein Jahrzehnt

 

gesellte ich mich zu Dir.

 

An Deinen Ufern gewann

 

das Leben Kraft und Mut.

 

Und in Deinen schwindenden Wellen

 

wohnte der Himmel

 

und alles was dem Leben fehlt.

 

Sylvie Avakian