„Das Wort ist sehr nahe“

„Das Wort ist sehr nahe“

(5.Mose 30,11-14)

 

(Konfirmandenvorstellungsgottesdienst)

 

 

Konfirmandenfrage:

Leonie: Meine Religionslehrerin hat mich letztens gefragt, ob ich Gott schonmal begegnet bin und ich antwortete mit: Nein! Und meine Frage ist jetzt: Ist es schlimm, dass ich Gott noch nicht begegnet bin?

 

Carmen: Es heißt Gott sei uns immer nahe, aber warum fühlen wir uns trotzdem manchmal alleine und sogar von Gott verlassen?

 

Jakob:

Manchmal sind die Aussagen der Bibel nicht wissenschaftlich beweisbar. Wie sollen wir damit umgehen?

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„Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu wunderbar für dich und nicht zu fern. 12 Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: »Wer will für uns zum Himmel fahren und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun?« 13 Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: »Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun?« 14 Sondern das Wort ist sehr nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen, sodass du es tun kannst.“ (Schlachter Bibel)

 

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Vielen Dank Carmen, Leonie und Jakob für eure Fragen. Ich werde gleich in der Predigt darauf eingehen.

 

„Das Wort ist sehr nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen, sodass du es tun kannst.“ Dieser Vers, liebe Gemeinde, beschreibt, was und wer wir sind. Wir sind Menschen, die das Wort Gottes sehr nahe bei uns haben. Das Wort Gottes ist uns in unserem Herzen gegeben. Wie ist das Wort uns gegeben? Klingt das Wort Gottes nicht oft fremd für uns? Ist es nicht der Fall, dass wir oft nicht wissen, wie wir mit dem Wort Gottes umgehen sollen? Scheint es uns oft nicht einfacher zu sein, auf das Wort Gottes zu verzichten?

 

Auch wenn das Wort Gottes fremd zu sein scheint, ist es dem Herzen und dem wahren Selbst des Menschen am nächsten. „Das Wort ist sehr nahe bei dir“. Ich möchte heute, liebe Gemeinde, diesen Satz als Erfahrung des Herzens beschreiben. Das Wort ist im Herzen, nämlich in der Mitte, im Zentrum unseres Lebens und unseres Seins. Denn das Herz ist das „Persönlichkeitszentrum“[1] des Menschen, das Zentrum an dem Gott und Mensch zusammenkommen. Und wenn wir dem Wort Gottes im Herzen begegnen, sollen wir es uns im Tun aneignen, es annehmen und durch unser Leben zum Ausdruck bringen. Das Wort Gottes ist für uns dann kein Ergebnis eigener Leistungen, sondern es ist uns bereits gewährt. Wir müssen nichts tun, um es zu gewinnen. Der Text ist klar, er sagt nicht, dass das Wort Gottes nahbar oder erreichbar ist, dass wir uns dem Wort nähern müssen, um dies zu gewinnen. Sondern „das Wort ist sehr nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen“.

 

Das Wort ist in uns und wir sind mit dem Wort verbunden. Diese Verbundenheit mit dem Wort können wir verstehen, wenn wir über die Verbundenheit mit Jesus Christus nachdenken. Denn Jesus Christus ist das wahre Wort Gottes. Man könnte sagen, wir sind existentiell mit dem Wort Gottes verbunden, und damit meinen wir, dass wir mit Christus verbunden sind. Martin Luther beschreibt die Erfahrung des Glaubens im Großen Katechismus auf die Art, dass der Heilige Geist „die Herzen erleuchtet und anzündet, dass sie es [das Wort] fassen, daran hangen und dabei bleiben“ (BSLK, 655) und durch das Wort Christus erkennen lässt, als einen „Spiegel des väterlichen Herzens“ (BSLK, 660).

 

Liebe Gemeinde, nur das Wort, das uns im Herzen gegeben und sogar auf dem Herzen geschrieben ist, kann uns handeln und tun lassen, ohne dass wir uns mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob wir um unseres Glaubens Willen etwas tun oder nicht tun müssen. Wenn das Gebot, das auf dem Herz geschrieben steht, uns aufruft, werden wir unserer Herzenskraft folgen, die uns zum Handeln bewegt.

 

Eine sehr bekannte Erzählung in der Bibel, die Geschichte des barmherzigen Samariters, erklärt diesen Aspekt für uns. Als der Samariter den verletzten Menschen auf dem Weg nach Jericho sah, ging er zu ihm hin, verband ihm die Wunden und pflegte ihn. Er konnte ihn nicht sterben lassen. Etwas, was der Priester und der Levit nicht getan haben, obwohl sie schon vor dem Samariter da waren. Beide kannten das Gesetz gut und damit waren sie auch zufrieden. Sie waren nicht bereit, das Wort im Herzen zu erfahren, das Wort durch das Herz zu verstehen. Hat das Wort, liebe Gemeinde, einen Wert für uns, wenn wir es nicht im Herzen hören und ihm von Herzen folgen wollen?

 

Die Erzählung aus dem Markus Evangelium, die wir in der Schriftlesung gehört haben, macht auch einen ähnlichen Punkt deutlich. Der reiche junge Mann hat alle Gebote von seiner Jugend an gelernt und gehalten. Er kommt zu Jesus und fragt ihn: Guter Meister, was soll ich tun, um das ewige Leben zu erben? „Da blickte ihn Jesus an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir! Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, … und komm, … und folge mir nach!“ Jesus sah, dass der junge Mann im Herzen nicht frei war. Im Herzen war er mit seinem Reichtum verbunden. Da blieb kein Platz mehr für Gott und sein Wort. Und hier liegt der Unterschied zwischen allen Geboten und Gesetzen dieser Welt und dem Gebot Gottes, das wir im Herzen empfangen und hören können. Alle anderen Gesetze erfordern Werke, aber das Wort Gottes verlangt unser Herz.

 

Und hier ist die Antwort deiner Frage, liebe Carmen. Im Leben sind wir oft, wie dieser junge Mann aus der Schriftlesung, mit vielen Dingen beschäftigt und im Herzen damit verbunden und damit sind auch unsere Hoffnungen, Träume und Freuden verbunden. Jesus aber sagte zu dem Jungen man: Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und komm, … und folge mir nach! Dieses Gefühl des Allein- und -Verlassenseins, das du beschreibst, gehört zu dem Auftrag Jesu. Geh hin, verkaufe alles, und komm, und folge mir nach! Wir können, liebe Carmen, verlassen sein, aber nie von Gott. Wenn alles und jeder uns verlässt, bleibt Gott mit uns.

 

Und ähnlich ist auch die Antwort deiner Frage, liebe Leonie. „Ist es schlimm, dass ich Gott noch nicht begegnet bin?“ Nein, es ist nicht schlimm. Das stimmt aber nicht ganz. Du und wir alle begegnen Gott in allem Guten, das uns begegnet. Gott kommt zu uns oft nicht durch Wunder und ungewöhnliche Geschehen. Gott kommt zu uns durch die einfachen Ereignisse unseres Alltags. Durch die Nöte anderer ruft Gott uns zur Hilfe, genau wie er den guten Samariter zur Hilfe gerufen hat. Meistens erwarten wir jedoch, dass außergewöhnliche Dinge geschehen, damit wir glauben können. Und der heutige Predigttext sagt: Dieses Gebot ist nicht zu wunderbar, … es ist nicht im Himmel und nicht jenseits des Meeres. Das Wort ist sehr nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen. In diesem Sinne ist jede Erfahrung der Liebe und der Wahrheit eine Enthüllung des Wortes in unserem Herzen.

 

Zu deiner Frage, lieber Jakob, möchte ich den Unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten des Bibellesens beleuchten. Es gibt eine wörtlich/geschichtliche und eine geistlich-spirituelle Art die Bibel zu lesen. Die wörtlich/geschichtliche Art des Lesens erfordert Beweise und Untersuchungen, denn sie sieht den biblischen Text entweder als eine sachliche Beschreibung etwas Konkretes, Physisches, oder sie behandelt die Bibel als ein göttliches Werk. Auf dieser Ebene wird die Bibel wörtlich gelesen und oft untersucht/analysiert. Obwohl die biblischen Texte auch geschichtliche Elemente beinhalten, sind sie keine pure sachliche Beschreibung. Die Bibel ist eher ein Buch des Glaubens. Heute würde ich sagen, ein Buch des Herzens. Sie ist geschrieben von Menschen, die hauptsächlich ihren Glauben beschrieben haben. Und wenn wir über Glauben sprechen, wissen wir, dass wir ihn nicht beweisen können, sonst würden wir ihn nicht Glauben nennen. Ich kann zum Beispiel nicht sagen: Ich glaube, du bist hier, wenn du wirklich hier bist, und es kann bewiesen werden, dass du hier bist. Ich kann aber sagen: Ich glaube und hoffe, dass du am nächsten Sonntag zum Gottesdienst kommst und dies kann ich nicht beweisen, aber ich kann natürlich glauben. Und deshalb würde ich sagen: Die Bibel ist bestens durch die spirituell/geistliche Art des Lesens zu verstehen. Dies ist die Ebene des Herzens. Natürlich kann die Bibel auch wissenschaftlich untersucht werden, um ihre tiefere Wahrheit zu entdecken ist jedoch die geistliche Ebene notwendig. Daher müssen wir, wenn wir die Bibel lesen, dies mit offenem Herzen tun. Wir lassen die Worte, nicht nur die Ebene des Verstandes in uns sprechen, sondern wir lassen zu, dass die Worte das Herz in uns berühren und die tiefsten Gedanken und Überzeugungen unseres Herzens verwandeln.

 

Heute, liebe Gemeinde, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, wollen wir hoffen und beten, dass wir nicht bloß kopfgesteuerte Menschen werden, sondern viel mehr herzgeleitete und Herzensmenschen werden. Wir hoffen und beten, dass unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden in der geistlich-spirituellen Tiefe ihres Seins und ihres Herzens dem Wort Gottes begegnen und damit im Glauben und im Tun wachsen, dass sie sich den Glauben als Wahrheitserfahrung nicht nur in der Konfirmationszeit, sondern lebenslang in Wort und Tat ersehnen, und dass Gott uns allen ein hörendes, sehendes und fühlendes Herz schenkt mitten in der Welt und für die Welt. Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

 

[1] B. Stolt, Martin Luthers Rhetorik des Herzens, Tübingen, 2000, 51.