„Eine neue Seligkeit“

„Eine neue Seligkeit“

 

(Jakobus 5, 7-8)

 

 

„So wartet nun geduldig, ihr Brüder, bis zur Wiederkunft des Herrn! Siehe, der Landmann [damit ist der Bauer gemeint] wartet auf die köstliche Frucht der Erde und geduldet sich ihretwegen, bis sie den Früh- und Spätregen empfangen hat. So wartet auch ihr geduldig; stärkt eure Herzen, denn die Wiederkunft des Herrn ist nahe!“

 

(Schlachter 2000)

 

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Haben Sie einmal auf etwas ganz Besonderes gewartet, vielleicht auf etwas Schönes, vielleicht auf eine gute Nachricht? Haben Sie einmal einen wichtigen Antrag eingereicht und mussten sich für das Ergebnis gedulden? Das Warten hat auf uns, liebe Gemeinde, häufig zwei Auswirkungen. Einerseits freuen wir uns manchmal sehr bei dem Gedanken an das Erhoffte. Andererseits haben wir zuweilen aber auch Angst und Sorge, ob das Erwartete auch hält, was es verspricht.

 

Ich glaube, bei Beidem, in Freude und in Angst, ist das Warten gut. Aber warum ist es gut? Warum müssen wir uns überhaupt gedulden und immer wieder in Erwartung sein?

 

Im ersten Jahrhundert lebte die christliche Urgemeinde auch in Erwartung. Die Gemeinde wartete und hoffte, dass Jesus bald wiederkommen werde. Spürbar war die Spannung zwischen dem, was die Gemeinde durch ihren Glauben an Jesus bereits empfangen und erfahren hatte, und dem, was sie noch erwartete. In unserem Predigttext spricht Jakobus der Gemeinde Mut zu, sich zu gedulden. „So wartet nun geduldig, ihr Brüder [und Schwestern], bis zur Wiederkunft des Herrn!“

 

Wir kennen es vielleicht aus unserem Alltag, jetzt auch in der Adventszeit: Wer warten und aushalten kann, der wartet mit der Gewissheit, dass etwas kommt, und genau deshalb kann er warten und sich gedulden. Auch der Bauer, der im Predigttext beschrieben wird, wartet, selbst wenn er die Früchte noch gar nicht sehen kann. Was ist aber mit dem Warten hier gemeint? Heißt es einfach abzuwarten, bis etwas passiert, und weiter nichts zu tun? Wenn wir uns Gedanken über den Bauern machen, sehen wir, dass er sich auch in der Zeit des Wartens um das Feld kümmert, damit die Früchte gut reifen können. Über die Bedeutung des Wartens und der Geduld erfahren wir mehr im ersten Kapitel des Jakobusbriefes. Dort lesen wir: „Die Geduld aber soll zu einem vollkommenen Werk führen“ (Jakobus 1,4). Ich würde diese Aussage heute durch die Worte „aktives Warten“ ersetzen. Kann man aktiv auf etwas warten und sich aktiv gedulden? Das Warten und die Geduld erfordern Gelassenheit und inneres Vertrauen. Aktiv zu sein bedeutet aber, Verantwortung zu übernehmen, etwas zu tun, etwas zu initiieren. Dieses „aktive Warten“ klingt ein bisschen wie ein Widerspruch. Wir sollen zugleich gelassen und aktiv sein. Mit „aktiv“ ist aber nicht nur eine äußerliche Aktivität gemeint. „Aktiv“ meint hier eher eine innerliche Aktivität, bei der der Mensch im Warten in aller Freiheit über sich selbst entscheidet. Das Paradox wird dann aufgelöst: Wer aktiv wartet, der nimmt die Geduld selbständig auf sich. Er entscheidet sich aus gutem Grund zu warten und er tut dies mit einem festen Herzen. Und so lautet Vers 8 des heutigen Predigttextes: „So wartet auch ihr geduldig; stärkt [festigt] eure Herzen“!

 

Mit aktivem Warten ist auch nicht gemeint, dass man halb gelassen und halb aktiv sein soll. Sondern damit ist eine vollkommene Gelassenheit gemeint, die zugleich eine vollkommene Entschlossenheit ist. Solches Warten hat auch wenig mit unserem Alter zu tun oder mit unserer Funktion in der Gesellschaft. Jung oder alt, gesund oder krank, Arbeitsgeber oder Arbeitsnehmer, reich oder arm – jeder ist aufgerufen im Leben aktiv geduldig zu warten. Dies würde bedeuten, dass ich Gott im Herzen vertraue, auch wenn die Gefahr des Todes besteht, und dass ich zugleich über mich entscheide, selbst bei Todesgefahr.

 

Wenn wir über unsere Erwartungen im Leben nachdenken, wird uns vermutlich deutlich, dass wir oft nicht bekommen werden, was gut für uns wäre. Was ist es dann, das uns warten lässt? Was ist es, das uns in scheinbar aussichtslosen Situationen trotzdem Glauben, Vertrauen, Geduld und Hoffnung schenkt?

 

In der Zeit des Advents können wir, liebe Gemeinde, eine Antwort geben, und es ist dieselbe Antwort, die wir an allen Tagen des Jahres und an allen Tagen unseres Lebens geben können. Es ist auch die Antwort des heutigen Predigttextes. Es ist das Kommen des Herrn, das uns geduldig sein und uns glauben und hoffen lässt. Das Kommen des Herrn! Wir warten nicht auf Dinge! Wir warten auf den Herrn! Der Bauer wartet auf die Früchte und die Naturwissenschaft sagt, dass die Früchte kommen werden. In unserem Glauben machen wir noch einen weiteren Schritt, als es uns die Naturwissenschaft verspricht. Im Glauben wird uns klar, dass wir im Leben nicht alles bekommen, was wir wollen, und das ist in Ordnung, denn wir warten nicht auf Dinge, sondern auf den Herrn. Und deshalb sagen wir, dass zum Warten auch die Enttäuschungen des Lebens gehören und die Fähigkeit, sich zu gedulden, auch in der Zeit der Enttäuschung.

 

In diesem Sinne, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, könnt ihr auch die Zeit der Vorbereitung auf eure Konfirmation als eine Zeit des Wartens ansehen. Diese Zeit des Wartens ist aber auf keinen Fall eine passive Zeit. Sie ist für euch eher eine Zeit des aktiven Wartens, denn ihr lernt in dieser Zeit Gott und den Glauben näher kennen und besucht Gottesdienste. Ihr wartet also auf die Konfirmation, und der Tag wird kommen. Und es ist meine Hoffnung und mein Wunsch, dass ihr mit der Konfirmation mehr bekommt als die Dinge, die auch Freude im Leben machen, die aber auch nach einer Weile eventuell wieder verschwinden. Es ist mein Wunsch, dass ihr das bekommt, was euch zeitlebens erhalten bleibt, nämlich die Hoffnung und die Freude auf den Herrn.

 

Der Herr wird kommen, er ist gekommen und er kommt immer wieder zu uns. In diesem Sinne ist das Gute, auf das wir warten – das Kommen des Herrn – bereits in der Erfahrung der Geduld mitgegeben. Daher liegt, liebe Gemeinde, in der „Geduld“ bereits die „Hoffnung“. Im christlichen Sinne des Wortes gedulden wir uns, weil wir wissen, dass uns die Hoffnung bereits gegeben ist.

 

Wenn wir uns die Geschichte der Geburt Jesu anschauen, finden wir dort Beispiele für das Warten. Maria wartet auf die Geburt des Sohnes und durch ihr Warten erduldet sie die Erschwernisse des Wartens. Durch Marias Geduld und Warten empfängt die Welt Jesus. Auch Josef wartet und ist geduldig. Er wartet, und in seinem Warten empfängt er den Heiland der Welt. Jede Erfahrung des Wartens ist auch eine Erfahrung des Empfangens. In jedem Warten gibt es ein „Ja“, ein „Ja“ für die Mitmenschen, ein „Ja“ für Gott.

 

Gott kommt zu uns durch ein zerbrechliches, armes Kind. Er kommt heute auch durch unsere Mitmenschen, durch die Armen, die Ausgestoßenen und Schwachen, die keinen Platz in der Welt haben. Geduld fordert uns auf, auf unsere Mitmenschen zuzugehen, besonders auf die Benachteiligten und Verachteten, auf sie zu warten. So können wir heute die Worte des Propheten Jesaja verstehen, die wir in der Schriftlesung gehört haben:

 

„Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“

 

Und genau in diesem Augenblick, wenn wir es schaffen, zu den anderen zu gehen, kommt er zu uns. In unserem Gehen zu den anderen geschieht der aktive Teil des Wartens und in Gottes Kommen zu uns kommt das Warten zu seinem Ziel. Man könnte sagen, wenn wir den anderen aufnehmen, nehmen wir Gott in unserem Leben auf, und damit geschieht ein Wunder, eine neue Seligkeit wird uns geschenkt, das Wunder, dass Gott zu uns kommt und wir ihn so empfangen.

 

Zuletzt bleibt zu sagen, dass Geduld besonders in schwierigen Lebensumständen eine Herausforderung darstellt. In schwierigen Situationen des Lebens ist das Warten nicht einfach. Es fordert uns heraus, durch Schmerz und Leid zu gehen und diesen nicht einfach zu entfliehen, sie nicht einfach zu verdrängen. Auch die jetzige Zeit ist eine schwierige Zeit, denn die Corona-Pandemie bringt das Leben vieler Menschen in Gefahr und wir brauchen viel Geduld und müssen ausharren, um in dieser Zeit nicht rücksichtslos zu leben. Diese schwierigen und mühsamen Erfahrungen des Lebens sind, wie es aussieht, lebensnotwendig, und sie gehören offenbar genauso zu uns wie die erfreulichen Momente.

 

Und so spricht Hölderlin von der „neuen Seligkeit“, die dem Herzen aufgeht, wenn es „die Mitternacht des Grams“ erduldet. Er schreibt:

 

„Ich hatt' es nie so ganz erfahren, …daß eine neue Seligkeit dem Herzen aufgeht, wenn es aushält und die Mitternacht des Grams durchduldet, und daß, wie Nachtigallgesang im Dunkeln, göttlich erst in tiefem Leid das Lebenslied der Welt uns tönt.“ (Hölderlin, Hyperion)

 

Heute sind wir alle aufgerufen, arm oder reich, jung oder alt, krank oder gesund, wir sind aufgerufen auf das Kommen des Herrn zu warten: Festigt eure Herzen, denn das Kommen des Herrn ist nahe. Amen.

 

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Gott unser Vater und Schöpfer,

 

unser Erlöser und unser Heiland,

 

unser Tröster und Lebensspender,

 

wir danken dir für unser Leben und für das Leben aller Menschen und Lebewesen.

 

Wir danken dir für diese Gemeinschaft heute,

 

und dass wir auch in diesen schwierigen Umständen

 

zusammenkommen, zusammen beten und auf deinen Advent,

 

dein Kommen warten dürfen.

 

Komm, Gott, zu uns, wir warten auf dich.

 

Wir bitten: Komm zu den Armen in dieser Welt,

 

zu den Kranken, zu den Leidenden

 

und in Gefangenschaften Eingesperrten.

 

zu denen, die ein verzagtes Herz haben.

 

Komm und schenke uns allen ein wartendes, harrendes Herz,

 

sodass wir andere Menschen sehen

 

und die Erschwernisse des Wartens erdulden können.

 

Du kommst zu uns, Gott, und bist immer im Kommen.

 

Hilf, dass wir auf dich warten und dich so durch unser Warten bei uns haben.

 

 

 

Komm, Gott, zu uns, wir warten auf dich.

 

Komm in unsere dunkle Welt.

 

Komm und bleibe bei uns,

 

Nimm uns unsere Unsicherheit, die Enttäuschungen unseres Lebens

 

und schenke uns Hoffnung,

 

Hoffnung, die nicht ins Leere geht, Hoffnung, die uns trägt.

 

Nimm uns unsere Ängste, unsere Sorgen und die Einsamkeit,

 

denn unser Weg ist auch dein Weg.

 

Komm zu uns mit deinem Licht

 

damit wir die Dunkelheit der Nacht nicht mehr fürchten müssen.

 

Komm, wir wollen mit dir gehen,

 

mit dir gehen bis ans Ende.

 

Komm, Gott, zu uns und schenke uns im Herzen eine neue Seligkeit,

 

schenke uns Heil und Hoffnung,

 

dass Wasser in der Wüste hervorbreche

 

und Ströme in der Einöde,

 

dass der glutheiße Boden zum Teich werde

 

und das dürre Land zu Wasserquellen. (Jesaja 35,6-7)

 

Komm, unser Retter und unser Heiland, wir warten auf dich. Amen.

 

 

 

06.12.2020

 

Sylvie Avakian