Erniedrigt und doch erhöht!

 

Erniedrigt und doch erhöht!

 

(Philipper 2, 5-11)

 

 

„Denn ihr sollt so gesinnt sein, wie es Christus Jesus auch war, der, als er in der Gestalt Gottes war, es nicht wie einen Raub festhielt, Gott gleich zu sein; sondern er entäußerte sich selbst, nahm die Gestalt eines Knechtes an und wurde wie die Menschen; und in seiner äußeren Erscheinung als ein Mensch erfunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott auch über alle Maßen erhöht und ihm einen Namen verliehen, der über allen Namen ist, damit in dem Namen Jesu sich alle Knie derer beugen, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

_________________________________

 

Jesus erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über allen Maßen erhöht! Dieses Bild des erniedrigten und dadurch erhöhten Knechtes findet sich auch im Alten Testament. Im Buch des Propheten Jesaja lesen wir: „Siehe, mein Knecht wird einsichtig handeln, er wird erhoben sein, erhöht werden und sehr erhaben sein.“ (Jesaja 52,13)

 

Wie kommt es, dass ein Knecht so erhöht und erhaben sein kann? Und umgekehrt, wie kommt es, dass eine Erhöhung und ja sogar außerordentliche Erhöhung im Elend beginnt? Heute an Karfreitag können wir fragen: Warum musste Jesus, der doch der Sohn Gottes ist, leiden und gedemütigt werden wie ein Knecht? Warum musste er sterben und von den Toten auferstehen?

 

Was ist es, das Elend und Erhöhung zusammenbringt? Wie kann das Elend der Weg zur Erhöhung sein, oder wie kann der Tod die Auferstehung ermöglichen?

 

In unserem Leben, liebe Gemeinde, gibt es vieles, was verhindert, dass unser wahres Selbst sichtbar wird. Manchmal ist es unser eigener Stolz, unsere Bequemlichkeit oder unsere Anhänglichkeit an Dinge im Leben. Oft denken wir genau andersherum. Wir denken, dass diese Dinge definieren, wer wir sind. Wir denken zum Beispiel, dass wir durch unseren Stolz unser eigenes Selbst und unser Leben beweisen und bewahren. Oder wir denken, dass die Dinge, die wir besitzen uns beschützen. Aber heute, an diesem Karfreitag, schauen wir auf das Kreuz und denken an Jesus, der daran gestorben ist. Und wir wollen fragen: Was wäre anders, wenn Jesus nicht gestorben wäre? Was wäre gewesen, wenn Jesus der Konfrontation mit den religiösen Führern seiner Zeit aus dem Weg gegangen wäre, um dem Tod zu entgehen? Wenn er vielleicht noch zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahre länger gelebt und in seinen Achtzigern oder Neunzigern gestorben wäre? Glauben Sie, dass wir ihn heute, fast zweitausend Jahre später noch kennen würden? Dass wir ihm nachfolgen und an ihn glauben würden? Ich denke nicht.

 

Heute kennen wir Jesus, glauben an ihn und wollen ihm nachfolgen, gerade aus dem Grund, weil er am Kreuz gestorben ist, gerade weil er auf alles verzichtet hat; auf seinen Stolz, seine Bequemlichkeit und seinen Besitz, auch wenn er fast nichts hatte.

 

Warum hat Jesus auf alles verzichtet? Warum wollte der dem sicheren Tod nicht einfach entkommen? Wir kennen die Worte, die er vor seinem Tod gebetet hat und wissen deshalb, wie schwer es für ihn war, den Tod zu akzeptieren. Warum aber ist er dann gestorben? Ich habe heute eine Antwort auf diese Frage; eine Antwort, die sich in einem Wort zusammenfassen lässt, nämlich Jesu „Fürsorge“.

 

Es ist für uns an diesem Karfreitag wichtig zu sehen, dass Jesus starb, weil er auf alles verzichtete, sogar auf sein Leben. Er verzichtete auf alles, weil er für andere sorgte. Weil er stärker um die Wahrheit besorgt war, seine eigene Wahrheit und die Wahrheit Gottes. Diese Reihenfolge ist wichtig, wenn wir über den Tod Jesu nachdenken: Er sorgte sich zuerst um die Wahrheit, er sorgte sich zuerst um andere, und dafür verzichtete er auf seine eigene Zeit, seine Energie, seinen Stolz, er verzichtete auf alles, sogar auf sein Leben, und so ist er gestorben. In diesem Sinne können wir verstehen, was mit der Aussage gemeint ist, dass Jesus starb, weil er die Menschen liebte. Liebe und Fürsorge gehören zusammen.

 

Anders als wir es vermuten, verhindert unser eigener Stolz und unsere Anhänglichkeit an Dinge der Welt sehr oft, dass sich unser wahres Selbst offenbart. Diese Dinge sind wie eine Abdeckung, die auf einem Klavier liegt und auf der sich im Laufe der Zeit eine Menge Staub ansammelt, so dass nach Jahren niemand mehr erkennen kann, dass es sich um ein Klavier handelt. Nimmt man aber die Abdeckung weg, wird plötzlich sichtbar, was es ist. Doch die Abdeckung wegzunehmen ist nicht einfach. Ich meine damit den Prozess, in dem wir beginnen auf das zu verzichten, was unser Selbst daran hindert, sich zu zeigen, wie es ist. Dieser Prozess ist meist schmerzhaft, denn wir gewöhnen uns im Laufe der Jahre an die Dinge, wie sie nun einmal sind. Oft haben wir nicht den Mut, Dinge zu ändern. Einfach weil sie allen bekannt sind, oder vielleicht weil sie für uns zur Routine oder gar einer Art Tradition geworden sind, so dass wir uns nicht um sie kümmern möchten. Dieser Prozess ist im Predigttext mit dem Wort „entäußern“ beschrieben: Jesus „entäußerte sich selbst, nahm die Gestalt eines Knechtes an“. „Entäußern“ bedeutet leer machen, entkräften, erniedrigen. Jesus hat sich erniedrigt. Er hat sich entleert, damit er gesehen werden kann.

 

Und hier kommen wir wieder zu der Rede vom Gottesknecht im Alten Testament, denn in Jesus ist dieser Gottesknecht wieder erkennbar. Jesus war auch ein geschlagener Mann, der mit einer Dornenkrone verspottet und zwischen zwei Übeltätern gekreuzigt wurde. Im Buch des Propheten Jesaja lesen wir: „Er hatte keine Gestalt und keine Pracht; wir sahen ihn, aber sein Anblick gefiel uns nicht. Verachtet war er und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut; wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt, so verachtet war er, und wir achteten ihn nicht.“ (Jesaja 53, 2-3)

 

Liebe Gemeinde, es gibt eine tiefe Beziehung zwischen dem Wesen des Menschen als leidender Knecht und dem wahren menschlichen Selbst; eine Beziehung, die nur verstanden und wahrgenommen werden kann, wenn einem selbst Schmerz und Leid widerfahren ist und man die menschlichen Verletzungen kennt. Diese Einsicht in die menschliche Hinfälligkeit ist notwendig. Denn nur dann öffnet sich das menschliche Selbst für das erhebende und stärkende Wirken Gottes.

 

In unserer heutigen Welt haben viele menschliche Ansprüche, Werke und Leistungen eher den Charakter von Desinteresse, als von Einsatz und Entschlossenheit. Menschen tun meist Dinge, weil sie es müssen. Und als Gegengewicht zu genau diesem Desinteresse gewinnt die Fürsorge an Bedeutung. Derjenige, der leidvolle Erfahrungen gemacht hat, kann den Schmerz eines anderen nachvollziehen und Mitleid empfinden. Wenn Sie wollen, können wir es heute so ausdrücken: Die Fürsorge für einen anderen ist der Weg, um aus dem eigenen Elend herauszukommen. Denn in der Fürsorge ist etwas vom Verzicht, etwas vom Tod. Auf ähnliche Weise ist das Kreuz der Weg zur Auferstehung. In meinem Elend bin ich allein gelassen, aber wenn ich zu dir komme und dir meine Hand reiche, um deinen Schmerz mitzutragen, dann bist du in der Tat derjenige, der mich von meinem Elend und aus meiner nur um mich selbst bekümmerten Verschlossenheit befreit und mich hochzieht. Durch Fürsorge bekommen wir die Chance das zu sein, was wir im Herzen sind. Genau aus diesem Grund sagen wir, dass der Mensch derjenige ist, der für einen anderen da-sein kann. Mensch-Sein ist Da-sein.

 

Deshalb sagen wir, dass in dem Tod Jesu für andere das Geheimnis seiner Auferstehung liegt. Denn durch seinen Tod ist seine Wahrheit offenbart. Und so haben wir in der Schriftlesung gehört: „Als aber der Hauptmann sah, was geschah, pries er Gott und sprach: Wahrlich, dieser Mensch war gerecht!“ (Lukas 23,47)

 

Liebe Gemeinde, der Kampf, den Jesus in den letzten Stunden seines Lebens durchlebte, dauerte nicht lange. In wenigen Stunden wurde er verhaftet, verurteilt und durch Kreuzigung hingerichtet. Aber sein Kampf war anders als alle Kämpfe oder Kriege dieser Welt. In diesem Kampf gewinnt der Kämpfer, wenn er besiegt wird, er wird erhöht, wenn er erniedrigt wird, und er lebt, wenn er stirbt.

 

Wenn wir heute auf das Kreuz schauen, sehen wir unseren leidenden Herrn, aber auch den erhöhten Christus, und in ihm sehen wir unsere eigenen Leiden und doch unsere Auferstehung. Amen.