Denken und glauben

 

Denken und glauben

 

(Apostelgeschichte 17,22-30)

 

Da stellte sich Paulus in die Mitte des Areopags und sagte: Männer von Athen, nach allem, was ich sehe, seid ihr sehr fromm. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. Der Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. Er lässt sich auch nicht von Menschenhänden dienen, als ob er etwas brauche, er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt. Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir; wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seinem Geschlecht. Da wir also von Gottes Geschlecht sind, dürfen wir nicht meinen, das Göttliche sei wie ein goldenes oder silbernes oder steinernes Gebilde menschlicher Kunst und Erfindung. Gott, der über die Zeiten der Unwissenheit hinweggesehen hat, gebietet jetzt den Menschen, dass überall alle umkehren sollen. (Einheitsübersetzung)

 

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Der Predigttext für heute ist eine Predigt, die der Apostel Paulus vor den griechischen Eliten hält. In seiner Predigt zitiert er die Worte von zwei griechischen Philosophen. Athen war zu dieser Zeit das Zentrum der intellektuellen Hochkultur der antiken Mittelmeerwelt. Paulus hält seine Predigt auf dem Areopag Mitten in Athen, wo in der Antike der höchste Rat der Stadt tagte. Dieser Ältestenrat, der „Areopag“ genannt wurde, gab dem Ort seinen Namen.

 

Die Griechen hatten eine lange Geschichte des Denkens und der Philosophie. Aber wissen Sie, was das Besondere am frühen griechischen Denken war? Das Besondere war, dass sie frei denken konnten, ohne ihr Denken durch Systeme oder Denkstrukturen einzuschränken. Daher gab es in ihrem Denken Raum und sie konnten offen sein für die Wahrheit in all den verschiedenen Formen, in denen die Wahrheit sich zeigt. Das Denken war auch kein Hindernis für ihre Religiosität. Deshalb konnte auch Paulus zu ihnen sprechen und sogar diese Predigt für sie halten. In seiner Predigt weist Paulus auf dieses offene Element in der religiösen Ausrichtung der Griechen hin. Er bemerkt, dass die Griechen in jeder Hinsicht sehr religiös waren. Die Griechen waren für das Göttliche sogar so offen, dass sie es sich vorstellen konnten, dass es einen Gott geben könnte, von dem sie nichts wussten. Und diesem unbekannten Gott widmeten sie deshalb einen eigenen Altar.

 

An diesem besonderen Ort und vor diesem besonderen Publikum spricht Paulus: „Männer von Athen … Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch.“ Der unbekannte Gott, den die Griechen bisher angebetet haben, ist laut Paulus derselbe Gott, über den er predigen möchte. Er ist der Gott aller Menschen. Es kann keinen anderen Gott geben als den Herrn des Himmels und der Erde, der den Menschen vom Staub bildete und den Odem des Lebens in ihn blies, sodass der Mensch ein lebendiges Wesen wurde (1.Mose 2,7).

 

Das Gott den Lebensatem in den Menschen blies, ist kein Wunderwerk Gottes, das er am Anfang der Schöpfung vollbrachte. Sondern Gott ist der, „der allen das Leben, den Atem und alles gibt. (12,25).“ Dies bedeutet, dass wir heute leben, weil Gott jeden Augenblick in uns atmet, weil sein Atem uns hier und jetzt Leben schenkt. Daher ist Gott jedem einzelnen von uns niemals ferne. Wir sind mit Gott verbunden, jeder Mensch ist mit Gott verbunden, auch wenn er oder sie sich seiner Verbundenheit mit Gott nicht bewusst ist.

 

Deshalb sagt Paulus seinen Zuhörern: „ich verkündige euch, was ihr unwissend verehrt.“ Wir suchen Gott, liebe Gemeinde, jedes Mal, wenn wir das Gute suchen. Wir suchen ihn jedes Mal, wenn wir die Liebe suchen. Und wir finden ihn jedes Mal, wenn wir vergeben, wenn wir barmherzig sein können.

 

Paulus versucht, diese tiefe Verbundenheit zwischen dem Menschen und Gott durch zwei Zitate zu erklären, die er in seiner Predigt nennt, und die von griechischen Philosophen stammen. Das erste Zitat lautet: „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (17,28a). Paulus meint, dass unsere Existenz völlig von Gott abhängig ist, denn wir leben, bewegen und sind in ihm. Und es ist unsere Abhängigkeit von Gott, die uns frei macht, frei zu leben, zu bewegen und zu sein. Diese tiefe Verbundenheit zwischen uns und Gott kommt durch das Bild des Weinbergs zum Ausdruck, von dem wir in der Schriftlesung gehört haben: „Bleibt in mir [sagt Jesus], und ich in euch! Gleichwie die Rebe nicht von sich selbst aus Frucht bringen kann, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.“

 

Paulus bringt noch ein anderes Zitat aus der griechischen Dichtertradition vor seinem Elitepublikum. Und so spricht er: „wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seinem Geschlecht.“ (17,28b) In anderen Übersetzungen heißt es: „Denn auch wir sind seine Nachkommen“. (Aratus [3. Jahrhundert v. Chr.]: Phaenomena. 5; vgl. Clemens von Alexander, Strom. 1.19.91). Der Sinn des Zitats hat auch eine tiefe biblische Grundlage: Wir sind Gottes Nachkommen, das bedeutet, wir sind nach Gottes Bild geschaffen (vgl. Genesis 1,26). Etwas von Gott ist in uns, sein Atem, sein Geist, sein Bild. Ohne Gott fehlt dem Menschen etwas Wesentliches, etwas Menschliches, denn ohne Gott hat der Mensch keinen Grund andere zu lieben, anderen zu helfen, ohne Gott hat der Mensch keinen Grund barmherzig zu sein. Menschsein ist ohne Gott unvorstellbar.

 

Tief im Herzen erfahren wir diese innere Verbundenheit mit Gott, und dass wir ihm gehören und er uns. Zu dieser Erfahrung der Verbundenheit kommen wir durch Besinnung und Gebet. Heute möchte ich diese innere Erfahrung Gottes besinnliches Denken nennen, ein Denken, das offen für Gott ist, ein Denken, das uns zum Glauben bringt, ein Denken, das durch das Herz geht, denn wir ertasten und finden Gott, wie auch Paulus sagt, im Herzen. Das Wort „besinnen“ oder „sinnen“ bedeutet über etwas nachdenken, es klären, aufdecken, dadurch, dass man sich selbst öffnet, damit die Wahrheit Gottes hervortreten kann. In diesem Sinne ist der Mensch ein denkendes Wesen. Solches Denken ist offen und frei von allen Vor-Urteilen und Vor-Entscheidungen. Ein solches Denken trennt uns nicht von Gott, sondern es ist durch den uns gegebenen Atem und Geist Gottes überhaupt erst möglich. Ein solches Denken und die daraus entstehende Öffnung des Selbst ist das Ziel, liebe Gemeinde, das Ziel jeden Gebets und jeder Besinnung. Durch besinnliches Denken kommt der unbekannte Gott zu uns und wird Teil unseres Lebens und Atmens sein.

 

Der unbekannte Gott hat sich uns in Jesus Christus offenbart. Und Paulus predigt keinen anderen Gott als den, der sich in Christus offenbart hat. Was ich heute sagen möchte, liebe Gemeinde, ist, dass unser Denken dem Glauben Raum geben soll, dass unser Denken für Gott Raum öffnen soll. Es ist nicht so, dass wir denkende Wesen sind, die alles haben können, so dass wir Gott nicht mehr brauchen, sondern wir sind denkende Wesen, weil Gott uns nach seinem Bild gemacht hat, weil er uns seinen Atem und seinen Geist gewährt hat, sodass wir atmen, leben und denken können. Wir wollen heute die göttliche Gabe des Lebens, des Atmens und des Denkens nicht mit Unwissenheit, sondern bewusst empfangen. Wir wollen heute bewusst zu Gott umkehren, „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“. Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

25.04.2021