Einheit in Vielfalt

 Einheit in Vielfalt

 (1.Mose 11,1-9)

 

 

"Und die ganze Erde hatte eine einzige Sprache und dieselben Worte. Und es geschah, als sie nach Osten zogen, da fanden sie eine Ebene im Land Sinear, und sie ließen sich dort nieder. Und sie sprachen zueinander: Wohlan, lasst uns Ziegel streichen und sie feuerfest brennen! Und sie verwendeten Ziegel statt Steine und Asphalt statt Mörtel. Und sie sprachen: Wohlan, lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, dass wir uns einen Namen machen, damit wir ja nicht über die ganze Erde zerstreut werden! Da stieg der HERR herab, um die Stadt und den Turm anzusehen, den die Menschenkinder bauten.

 

Und der HERR sprach: Siehe, sie sind ein Volk, und sie sprechen alle eine Sprache, und dies ist [erst] der Anfang ihres Tuns! Und jetzt wird sie nichts davor zurückhalten, das zu tun, was sie sich vorgenommen haben. Wohlan, lasst uns hinabsteigen und dort ihre Sprache verwirren, damit keiner mehr die Sprache des anderen versteht! So zerstreute der HERR sie von dort über die ganze Erde, und sie hörten auf, die Stadt zu bauen. Daher gab man ihr den Namen Babel, weil der HERR dort die Sprache der ganzen Erde verwirrte und sie von dort über die ganze Erde zerstreute."

 

(Schlachter 2000)

_____________________________________________

 

Pfingsten ist das Fest des Heiligen Geistes. Und der Heilige Geist vereint uns allen miteinander und mit Gott. Wie können wir heute die "Einheit" verstehen, die der Zweck des Wirkens des Geistes ist? Mit Einheit meinen wir hier also nicht die Einheit, die zwischen einigen Menschen mit ähnlichen Interessen und ähnlichen Vorhaben bestehen mag, sondern die Einheit, zu der der Geist uns herausfordert, ist die Einheit in der Vielfalt.

 

Nach ca. 50 Tage vom Tod Jesu war das jüdische Fest Schawuot, das Fest der ersten Ernte. Zu diesem Fest kamen oft zahlreiche Pilger nach Jerusalem. Wir haben in der Schriftlesung gehört, wie viele Juden aus verschiedenen Länder am Tag dieses Festes in Jerusalem waren: Parther und Meder und Elamiter und die Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadocien, Römer und Araber … (Apostelgeschichte 2,9-10). Dieses Fest wird dann immer 50 Tage nach dem Pessach-Fest gefeiert. Das griechische Wort dafür ist pentekostē (bedeutet „der Fünfzigste“) und davon wurde das deutsche Wort „Pfingsten“ abgeleitet. Die Jünger Jesu waren an diesem Tag „alle einmütig beisammen“ (Apg.2,1. Schlachter Übersetzung), und in ihrem Beisammensein empfingen sie den Heiligen Geist, der im Text wie „Zungen … von Feuer“ beschrieben ist. Der Heilige Geist wie „Zungen … von Feuer“. Das ist etwas Merkwürdiges. Wenn wir nun versuchen, uns vorzustellen, wie Feuerzungen auf uns wirken könnten, würden wir wahrscheinlich vermuten, dass solche Zungen uns zum Reden bringen würden, zum Reden wie Feuer, so wie wir nie ohne sie reden würden.

 

Und so ist es auch bei den Jüngern gewesen. Die Jünger fangen an „die großen Taten Gottes“ zu verkündigen und das Evangelium zu predigen, sogar in Sprachen, die sie früher nicht kannten. Durch diese feurige Kraft des Geistes wird Petrus predigen, und wir lesen weiter in der Apostelgeschichte, dass etwa 3000 Menschen an diesem Tag bereitwillig das Wort Gottes annahmen und sich taufen ließen, und dass alle Gläubigen beisammen und einmütig waren und teilten es zusammen alles was sie besaßen. Demensprechend wird dieser Tag, der Tag des Erscheinens bzw. der Aussendung des Heiligen Geistes traditionell als der Geburts-Tag der Kirche gesehen. Durch die Gabe des Geistes und die Verkündigung der frohen Botschaft des Evangeliums wurden die verschiedenen und vielfältigen Besucher des jüdischen Festes vereint. Wir wissen, wie schwierig es ist, mit jemandem zu kommunizieren, der nicht unsere Sprache spricht. Und doch hat der göttliche Geist die Kraft, alle Barrieren zu überschreiten, Barrieren der Sprache, der Kultur und der Nationalitäten. Der Geist schreitet seinen eigenen Weg, wo und wann er will. Er spricht nicht Worte der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe.

 

Und nun wollen wir uns den Predigttext anschauen: „Der Turmbau zu Babel“. Hier ist etwas völlig anderes geschehen als das, was wir in der Apostelgeschichte erfahren haben. Hier wirkt der göttliche Geist anders. Bei dem Turmbau von Babel hatten die Menschen eine einzige Sprache und sprachen dieselben Worte und Gott wird die Sprache der Menschen verwirren, so dass ein jeder die Sprache des anderen nicht mehr versteht und die Menschen von dort aus über die ganze Erde zerstreut werden.

 

Wie sollen wir nun das Wirken des Geistes verstehen? Vereint er die Menschen und bringt sie in Eintracht, oder zerstreut er sie und zerstört die Einheit?

 

Wenn wir uns den heutigen Text genauer ansehen werden wir die Gründe des göttlichen Handelns erahnen. Die Menschen hatten nur eine Sprache zu sprechen und alle sich gegenseitig verstehen konnten. Sie wollten „eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht“, sodass sie sich einen Namen machen, damit sie nicht über die Erde zerstreut werden. Die Menschen wollen durch ihre Leistung den Himmel erreichen. Sie wollen so stark und mächtig sein, dass sie Gott durch ihre eigene Kraft ersetzen können. Sie würden dann Gott nicht mehr brauchen, denn sie alles haben würden, was sie bräuchten: Intelligenz zum Planen, die physische Kraft zum Bauen und gute Kommunikationsmöglichkeiten durch die eine Sprache.

 

Die Erbauer des Turms wollen aber nicht nur auf Gott verzichten, sondern auch auf andere Menschen, andere, die ihre Sprache nicht sprechen und ihre Intentionen und Zielvorstellungen nicht teilen. Dass sie einen Namen haben wollten, um damit nicht über die ganze Erde zerstreut zu werden setzt voraus, dass es andere Menschen, andere Namen und andere Sprachen auf der Erde gaben. Sie waren nicht die Einzigen. Aber sie wollen von sich denken, als ob sie die Einzigen wären. Sie empfinden das Bedürfnis nach anderen Menschen nicht. Sie denken, sie wären stark genug, um allein durch ihre Kraft und Leistungen leben zu können, ohne Gott und ohne den anderen. Eine solche Idee der Einigung steht hinter den zahlreichen Beispielen in der Geschichte der Menschheit. Alle Kriege und Ungerechtigkeiten der Menschen wurden initiiert, weil einige sich für privilegierter hielten als andere: Einige Länder privilegierter als andere Länder, Rassen als andere Rassen, Männer als privilegierter als Frauen.

 

Und nun kommt das störende Werk des Geistes. Gott wird die Sprache der Menschen verwirren, so dass einer den anderen nicht mehr verstehen kann. Der göttliche Geist wirkt also manchmal als ein störendes Element. Tief im Herzen lässt er uns wissen, dass wir auf den falschen Wegen sind. Wir erleben dieses störende Wirken des Geistes, wenn wir uns entscheiden, von einem Weg umzukehren und anders zu denken, weil wir die Wegweisung des Geistes in Herzen spüren konnten, die gleichzeitig stark und doch sanft ist, eine leise Stimme, die uns immer wieder ermahnt, den richtigen Weg zu gehen.

 

Liebe Gemeinde, wir brauchen Gott und wir brauchen den anderen Menschen und wir können nur mit und im Ganzen wahrhaftig sein. Ohne Gott verliert das Leben seinen Sinn, und der Mensch verliert die Hoffnung auf die Zukunft. Und die anderen brauchen wir, um wir selbst zu sein, denn der Mensch muss außerhalb sein eigenem Selbst kommen, er muss mit Liebe und Fürsorge für den anderen da-sein können, um damit bei sich selbst wieder ankommen zu können. Diese Erfahrung, aus sich herauszugehen und für einen anderen da zu sein, wurde von einer Frau, die in einem Hotel auf der Kanarischen Inseln arbeitet, vor einigen Tagen ausgedrückt. Bei einer Radio-Sendung äußerte sie sich über ihr Engagement für die Flüchtlinge. Ihr Ziel sei es nun, den Flüchtlingen eine Unterkunft zu bieten und sich nicht nur um den Tourismus zu kümmern. Darin fand sie einen großen Sinn. Wir wollen nicht, dass unsere Insel zu einer „zweiten Moria“ wird, sagte sie.

 

Liebe Gemeinde, Einheit ohne Vielfalt ist nicht ausreichend und könnte gefährlich sein. Und Vielfalt bräuchte das Band der Liebe, um sich mit allen anderen zu vereinen.

 

An diesem Pfingstsonntag, dem Geburts-Tag der Kirche wollen wir die Kirche in ihrer schlichtesten, aber wahrsten Bedeutung wahrnehmen: Die Kirche ist die Gemeinschaft verbunden durch das Band des Geistes. Und so lautet der dritte Artikel des Glaubensbekenntnisses: Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche,

Gemeinschaft der Heiligen“. Der Geist Gottes vereint uns mit allen anderen, ungeachtet all unserer Unterschiede, denn es ist derselbe Geist, der mir und dir gegeben wurde. Der Geist selbst ist das Band. Er ist das Band zwischen mir und dir und zwischen uns und Gott. Es ist der Geist, der uns Frieden schenkt, Frieden mit anderen und Frieden mit Gott. Und doch kann dieses Band, der Geist der Liebe, nicht mit den Augen gesehen oder mit der Hand berührt werden. Er kann nicht bewundert werden, wie man ein hohes Gebäude bewundern würde, denn die Schönheit des Geistes liegt in seiner Demut, seiner Transparenz, seiner Klarheit und doch in seinem Geheimnis, seiner Freundlichkeit und in seiner Sanftheit.

 

Der Geist ist wie ein Vogel, wie eine Taube, stark in seiner Schwachheit, wirksam in seiner Sanftmut und bewundernswert in seiner Reinheit. Amen.