„Der Leib … dem Herrn, und der Herr dem Leibe“
(1.Korinther 6,12-14. 19-20)
„Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich. Die Speise dem Bauch und der Bauch der Speise; aber Gott wird das eine wie das andere zunichtemachen. Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe. Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft.
Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört? Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.“
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Als ich vor ein paar Tagen frühmorgens auf einem der Wege in der Nähe des Klosters Heiligkreuztal joggen war, sah ich zwei Personen vor mir gehen. Die Sonne ging gerade vor uns auf, und so blieben die beiden Personen, die ich von hinten sah, für mich im Dunkeln. Weil ich nur ihre Rücken sah, konnte ich nur wenige Dinge erkennen: Die beiden Personen hatten ihre Köpfe bedeckt, waren dunkel gekleidet oder so kam es mir zumindest vor. Eine Weile dachte ich, sie könnten vielleicht nicht freundlich sein, wenn ich sie grüße. Als ich näher an sie herankam, musste ich sie überholen. In diesem Moment schaute ich sie an und grüßte sie mit einem Wort „Morgen“. In diesem Moment leuchteten ihre Gesichter plötzlich und sie standen ganz im Licht. Für einen Augenblick wurde mir klar, wie falsch ich sie eingeschätzt hatte. Die Schönheit und die tiefen und kleinen Gesichtsausdrücke wurden im Licht der Sonne enthüllt. Es waren ein Mann und eine Frau, die schweigend gingen. Habe ich ihre Stille durch mein Joggen und den plötzlichen Gruß unterbrochen? Auf mein Wort des Grußes grüßten sie mich mit einem Lächeln im Gesicht zurück: „Guten Morgen“. Und damit endete unsere Begegnung.
Der menschliche Leib, liebe Gemeinde, trägt die Schönheit seines Schöpfers in sich. Und doch ist er ein irdisches Ding. Sein Irdisch-sein hindert das Licht manchmal daran ihn zu durchdringen und ihn im Licht zu halten. Das war wahrscheinlich in Korinth der Fall als Paulus diese Worte schrieb. Korinth war eine multikulturelle römische Hafenstadt, wo die Menschen durch ihre heidnische Religion geprägt waren und wo Trunkenheit, Diebstahl und ein unverantwortlicher Umgang mit dem eigenemn Leib und Sexualität herrschten. Die Worte des Paulus zeigen, dass viele Gemeindeglieder in Korinth nach dem sogenannten korinthischen Motto lebten: „Alles ist mir erlaubt!“
Das Licht war aber am Anfang aller Dinge. Und es kam zur Welt im menschgewordenen Gottessohn, und die Welt hat es nicht erkannt, weil sie lieber in der Finsternis bleiben wollte. Und so bewegen wir Menschen uns bis heute zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen unserer Zugehörigkeit zu Gott und unserer irdischen Realität. In manchen Momenten ziehen wir es vor, in der Dunkelheit zu bleiben, in der Erde, und deshalb gelingt es dem Licht Gottes nicht, unser Leben zu durchdringen, es zu verwandeln. Jedes Mal, wenn wir das Licht Gottes in unserem Leben missachten, jedes Mal, wenn wir unseren eigenen Weg gehen und Gott aus unserem Leben verdrängen wollen, jedes Mal, wenn wir das Licht in den anderen Menschen übersehen und sie falsch einschätzen, bleiben wir selbst im Dunkeln. In anderen Momenten wollen wir uns Gott öffnen. Da kommt Gott, der Heilige Geist, zu uns, und nimmt für sich Wohnung in uns, sodass unser Leib wahrhaftig ein Tempel des Heiligen Geistes wird, der in uns ist und den wir von Gott haben sodass uns bewusst wird: Wir gehören Gott und nicht uns selbst.
In unserer Verwirrung, ob wir glauben oder zweifeln, ob wir vertrauen oder uns fürchten sollen, ob wir uns um die irdischen oder um die himmlischen Dinge kümmern sollen, wollen wir auf Jesus schauen.
Jesus war selbst ganz Mensch und ganz Gott. In Jesus sehen wir einen Menschen, der einen irdischen Leib hatte, einen Leib, wie ihn auch wir alle haben. Wir sehen Jesus als denjenigen, dem alles erlaubt war, über den aber zugleich nichts Macht hatte. Das ist es, was Paulus im heutigen Predigttext beschreibt: „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ Lassen Sie uns, liebe Gemeinde, Jesus heute als einen von uns sehen, und doch als den, dessen irdischer Leib ganz für Gott bestimmt war.
Wie aber hat es Jesus geschafft, sich den irdischen, weltlichen Mächten und Kräften nicht zu unterwerfen, und doch im Einklang leben, im Einklang zwischen dem Leib und dem Geist, der in ihm wohnte?
Paulus würde uns heute sagen: Lebt nach dem Vorbild unseres Herrn, lasst eure Leiber nicht durch weltliche Dinge beherrschen. Aber wie soll das möglich sein, dass ich nicht durch irgendetwas in dieser Welt beherrscht werde? Lebe ich nicht in dieser Welt? Bewegen mich nicht die Freuden und die Sorgen dieser Welt so sehr, dass ich mich manchmal über einfache Dinge freue, wie ein Kleidungsstück oder ein Paar Schuhe, die ich mir kaufe? Und zerbreche ich nicht manchmal an den Sorgen und Mühsalen dieser Welt so sehr, dass ich denke, ich könnte mich kaum noch auf den Beinen halten?
„Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ Hier ist eine Unterscheidung zwischen „alles“ und „nichts“ notwendig. Alles ist mir erlaubt. Mir und Ihnen ist es erlaubt, in dieser Welt nach unserem Willen zu leben. Wir konnten heute zum Gottesdienst kommen oder zu Hause bleiben, wir könnten morgen unseren Nachbarn besuchen oder einen festen Zaun zwischen ihm und uns ziehen, damit jeder die Grenzen klar erkennt und sieht. In diesem Sinne ist uns alles erlaubt, und doch schreibt der Apostel weiter, dass nichts Macht über uns haben soll. Und ich glaube, das ist der schwierige Teil der Anweisung: Nichts soll Macht über uns haben. Hier ist eine innere Macht gemeint, eine Macht, die unsere Herzen und unsere Gedanken beherrschen kann. Und die Herausforderung besteht darin, das innere Wesen, das Herz und den Verstand frei zu halten. Können wir das erreichen? Können wir so arbeiten und ausruhen, kommen und gehen, kochen und essen, andere besuchen oder zu Hause bleiben, dass nichts über unser Inneres Macht hat, kein Hochmut, kein Neid, keine Angst, keine Vorurteile, kein Hass, kein Ärgernis, keine Sucht, keine bitteren Gedanken, nicht einmal die Wunden der Vergangenheit?
Ein Beispiel könnte diesen Satz des Apostels für uns verdeutlichen: Es ist mir erlaubt zu sterben, denn jeder Mensch wird irgendwann sterben, und doch soll der Tod keine Macht über
mich haben. Dass der Tod keine Macht über mich haben soll bedeutet nicht, dass ich nicht sterben werde, sondern es bedeutet, dass ich den Tod im Herzen, im Inneren nicht fürchte, auch wenn ich
der Gefahr des Sterbens begegne.
Paulus beschreibt weiterhin den menschlichen Leib als Tempel des Heiligen Geistes. Diesen Geist, der in uns ist, haben wir von Gott empfangen. Dieser Vergleich, liebe Gemeinde, zwischen dem menschlichen Körper und einem Tempel als Ort des Heiligen zeigt die Verbundenheit zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen, dem Menschlichen und dem Göttlichen. Und genau in diesem Sinne verstehen wir die Einheit zwischen Leib und Geist und damit die Aufforderung, in Integrität zu leben, indem wir sowohl Leib als auch Geist als zueinander gehörig betrachten. Gott nahm durch die Menschwerdung unseren menschlichen Leib an und kam zu uns, damit wir seinen Geist aufnehmen und zu ihm kommen können. Man könnte auch sagen: Durch die Menschwerdung Gottes hat Gott den Menschen zu sich erhöht.
In diesem Sinne formulierte der Kirchenvater Athanasius von Alexandria: „Gott wurde Träger unseres Fleisches -, damit die Menschheit Träger des Heiligen Geistes - werden konnte.“
(Michael Quenot, THE ICON, S. 55)
Durch seine Erniedrigung und Verachtung und seine freie Annahme des Todes erlöst und enthüllt Jesus die Würde eines jeden Menschen und jedes menschlichen Lebens. In diesem Sinne ist er der Mensch, nach dessen Vorbild wir zu leben berufen sind. Völlig und wahrhaftig Mensch zu sein, bedeutet, Gott durch das eigene Leben erkennbar zu machen! Und wenn wir die uns verliehene Würde sorgsam bewahren, dann werden wir in Gott wohnen und Gott in uns.
Des weiteren hat der menschliche Leib, als Teil der natürlichen Welt, die Funktion, die ganze Schöpfung zu Gott zu bringen. Es ist die ganze Schöpfung, die in und durch den menschlichen Leib zur Erlösung berufen ist.
„Der Leib … dem Herrn, und der Herr dem Leibe.“ Diese Worte des Paulus fassen die ganze Geschichte der Menschheit und des Gottes, der Schöpfung und der Menschwerdung Gottes zusammen.
Gott schuf die Erde und nahm ihre Schmerzen und Leiden auf sich, damit die ganze Erde zu ihm kommt und durch seinen Geist durchdrungen wird.
Lasst uns, liebe Gemeinde, andere nicht verurteilen, auch wenn sie noch eine Weile in der Dunkelheit bleiben. Lasst uns warten und geduldig sein und ihr Licht wird leuchten wie das Licht der Sonne an jedem Morgen. Denn Gott hat jedem von uns sein Licht gegeben und sein Antlitz scheint auf jedem Gesicht. Lasst uns uns mit den anderen freuen, denn nur zusammen bilden wir den Leib Christi. Amen.
Avakian
25.07.2021