Der Glanz des Himmels
(2.Korinther 5,1-10)
Volkstrauertag
"Denn wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn
darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. Denn solange wir in
dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber dazu
bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir
wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim
sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut
oder böse."
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Liebe Gemeinde, an diesem Volkstrauertag, an dem wir an die Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Terror durch die Geschichte der Menschheit hindurch und bis zum heutigen Tag denken, kann ich heute keine besseren Worte finden als die Worte des Apostels Paulus:
„Denn darum … sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, … wir [wollen] lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben.“
Leben und Sterben, die himmlische Behausung und die irdische Hütte, beide gehören zu uns.
Wir wollen heute, liebe Gemeinde, die himmlische Behausung, die uns von Gott geschenkt wird, nicht nur als eine zukünftige Hoffnung wahrnehmen, als etwas Schönes, dessen Verwirklichung wir nach dem Tod herbeisehnen, sondern vielmehr als einen Teil unseres Seins hier in der Welt. Das macht uns bewusst, dass wir uns in dieser irdischen Hütte befinden, welche mit dem Tod enden und zur Erde zurückkehren wird, und doch sind wir hier in der Welt mit der himmlischen Behausung bekleidet, die uns im und durch den heiligen Geist geschenkt wird.
Die folgenden Zeilen mögen diese Zwischenrealität des Menschen zwischen Leben und Sterben auf den Punkt bringen:
In ein und demselben Moment bin ich glücklich und traurig,
gelassen und zurückhaltend.
Ich bin hemmungslos und heiter in der Liebe und doch völlig unruhig,
stöhnend in der elenden Hütte des Leibes,
allein gelassen im Tragen des Leides.
In ein und demselben Moment bin ich mutig bis in den Tod
und doch nicht im Stande, alles loszuwerden.
Was für ein elendes Wesen bin ich!
Gespalten in zwei,
zwei Welten, zwei Realitäten,
unfähig, die eine zu wählen und die andere aufzugeben.
Ein halbes Mitglied der Welt,
fremd zu ihren Freuden,
renitent zu ihren Normen,
rebellisch wie der Wind.
Als ob da niemand wäre,
dem ich vertrauen könnte.
Und doch laufend, unermüdlich,
wie das strömende Wasser,
beflügelt und sehnsüchtig
nach dem Frühlingsduft.
Und immer dankbar
für die Hütte,
und die Möglichkeit im Leibe
auf das Mehr zu hoffen,
zu warten und erwarten,
auch wenn ich weiß,
dass ich eines Tages verlieren werde,
alles verlieren.
Diese Zeilen beschrieben die Suche nach Gott wie ein Zwischending. Die Suche nach Gott bedeutet zwischen zwei Welten zu sein, irgendwo auf einer Leiter, die Himmel und Erde überbrückt. Manchmal steigen wir die Leiter hinauf, wir streben den nächsten Sprung an und strecken uns nach der Zukunft aus. Dann sind wir Gott im Geist und in der Freiheit nahe. Und manchmal werden wir von den Schmerzen und Leiden der Welt geplagt und landen mit beiden Beinen hier unten in dieser Welt.
In diesem Sinne ist unsere Sehnsucht nach Gott keine Flucht aus der Welt und ihren Leiden. Wir wollen in der Welt sein, im Hier und Jetzt. Es ist auch nicht so, dass die Welt, in der wir leben, völlig dunkel und ohne göttliches Licht und Gnade ist. Ganz und gar nicht. In der Welt, in der wir leben, in den Menschen, die uns umgeben, in der Natur und in den Bäumen, gibt es Strahlen des göttlichen Lichts. Selbst an den dunkelsten Orten, selbst in all den Situationen, die wir als der Gnade Gottes beraubt betrachten würden, selbst in diesen Situationen und Momenten des Lebens gibt es einen Schimmer der Gnade Gottes; ein Hauch von Gnade, den wir oft nicht spüren, weil wir leider mehr urteilen als Gott selbst. Wir urteilen, dass manche Menschen völlig falsch sind und dass sie weit weg von der Wahrheit und der Liebe Gottes sind. Und doch ist Gott da, an den dunkelsten und gefährlichsten Orten. Jesus selbst erlebte diese dunklen Momente, wurde wie ein Verbrecher verurteilt und am Kreuz getötet. In einem dunklen Moment ist er gestorben. So erzählt uns das Evangelium, dass sich der Tag im Augenblick seines Todes in Nacht verwandelte. Alles war dunkel, aber sein Licht leuchtete in der Finsternis.
Daher ist diese Zwischenrealität nicht immer eine reibungslose Bewegung oder Existenzweise. Wir werden oft unterbrochen und fühlen uns zwischen den beiden Welten zerrissen. Das ist so, weil wir in der Welt leben und uns immer wieder erklären müssen und hoffen, dass die Menschen uns verstehen werden. Manche werden die Quelle unseres Lichts, unserer Freude, in Frage stellen, und andere werden uns auch gar nicht beachten wollen.
Bei all dem dürfen wir hoffen, dass wir von der himmlischen Behausung überkleidet werden. Dieses Bild des Überkleidetwerdens scheint etwas Ähnliches zu sein wie umarmt und geküsst zu werden; eine Umarmung, die in uns Hoffnung auf ein neues Leben einhaucht. Wir werden überkleidet werden mit einem Kleid, das wir nicht gekauft und nicht verdient haben; ein neues Kleid, ein schönes Kleid. Ein Kleid, in dem wir am schönsten aussehen werden, schöner als wir jemals hätten aussehen können.
Das alte Kleid ist immer noch da, es ist dieser irdische Leib, in dem wir existieren, der aber die himmlische Behausung braucht, damit wir wahrlich daheim sein können. Diese Behausung des Göttlichen ist so ähnlich wie die Umarmung des verlorenen Sohnes durch den Vater; eine Umarmung, die Hoffnung spendet und besagt: Du bist hier daheim, mein Lieber. Du brauchst dich nicht zu fürchten, du brauchst nicht zu zweifeln, du brauchst dich nicht zu sorgen. Ich bin für dich da, und ich werde für dich immer eine Zuflucht sein.
Aber was ist es, das wir hier in der Welt und in unserem elenden Leben haben, das uns Hoffnung für die Zukunft gibt? Was ist es, das uns mit unserem geliebten Verstorbenen verbindet und uns hilft, die Enge und das Versagen dieser Welt zu überwinden?
Paulus schreibt: „Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat.“ Das Wort Unterpfand ist in der ursprünglichen Sprache (Griechisch auch Hebräisch) ar-hrab-ohn' und bedeutet: Geld, das als Anzahlung oder Vorschuss bei Einkäufen gegeben wird. Als Anzahlung sichert es den Verkauf, denn damit bekräftigt der Käufer seinen Willen, den vollen Betrag später zu bezahlen.
In diesem Sinne ist der Geist uns als Unterpfand gegeben, als ein Vorgeschmack auf den Glanz des Himmels, auf das „Mehr“ als wir hier in der Welt erfahren dürfen und auf die Vollkommenheit allen Seins. Der Geist ist das Band zwischen Himmel und Erde. Er bewahrt unsere Herzen hier in der Welt und hält unsere Sehnsucht nach dem Himmlischen wach.
Hier in der Welt kann nichts je perfekt sein. Und manchmal wird uns klar: wir sollen erst den Weg des Kreuzes gehen, sodass wir die Auferstehung erfahren.
Gott hat uns den Geist als Unterpfand gegeben, sodass wir im Glauben und im Vertrauen wandeln. Durch den Geist dürfen wir begehren daheim zu sein, bei dem Herrn. Daheim, wo wir einfach sein können was wir sind. Das Wort „daheim“, oder das „Heimkommen“, berührt die tiefsten Ebenen unseres Gefühlshaushalts. Im heutigen Predigttext bedeutet „daheim zu sein“ einfach, in Gott und bei Gott zu sein. Manchmal sind wir bei einem anderen Menschen auch daheim; ein Mensch, bei dem wir so sein können, wie wir einfach sind, ähnlich dem Gefühl, wenn wir in der Gegenwart Gottes sind. Und das ist gut so. Eins müssen wir beachten: Die innere Verbundenheit mit einem anderen Menschen ist tiefer und prächtiger als jede andere Art von Verbundenheit, sei es ein Vertrag zwischen zwei Menschen, sei es eine geschäftliche oder eine leibliche Beziehung. Das liegt daran, dass der Geist über alle materiellen Dinge hinausgeht, und selbst wenn die irdische Hütte vergeht, wird die himmlische, die geistige Behausung bestehen.
Heute, liebe Gemeinde, können wir hoffen und darauf vertrauen, dass alle Verstorbenen der Vergangenheit und wir einst mit ihnen in der Gnade unseres Schöpfers ruhen werden. Sie und wir werden von allen Leiden befreit und uns an dem kommenden Glanz erfreuen.
„Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.
Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ (Römer 14,7-8) Amen.
Sylvie Avakian
09.11.2021