Gott, unsere Gerechtigkeit

 Gott, unsere Gerechtigkeit

(Predigt zum 1.Advent)

 

(Jeremia 23,5-8)

 

„Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR ist unsere Gerechtigkeit«. Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man … sagen wird: …: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.“

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Der Schriftsteller Franz Werfel ist vor allem als Autor des Werkes „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ bekannt. In dem 1933 erschienenen Werk beschreibt Franz Werfel die Selbstverteidigung und den Widerstand „von sechs armenischen Gemeinden [auf dem Musa Dagh, einem Berg in der Südtürkei an der Mittelmeerküste] mit knapp 5.000 Menschen, die sich dem Marschbefehl der [türkischen] Regierung widersetzten und sich gegen die Deportationen unter Einsatz von Waffengewalt verteidigten.“ (Klaus Holzweber, Erzählen gegen das Vergessen) Werfels Werk gilt als Zeugnis von der Verfolgung, den Deportationen von und den Massakern an den armenischen Bürgern während des Ersten Weltkriegs.

 

In einem anderen Roman „Höret die Stimme“, erschienen 1937, hat Franz Werfel auch die totalitäre Herrschaft seiner Zeit, kritisiert und einen Aufruf zum Widerstand gegen die Staatsgewalt und die Mächtigen verfasst. In diesem Roman hat Franz Werfel den Aufruf zum Widerstand mit dem Leben und Leiden des großen biblischen Propheten Jeremia verwoben.

 

Der Prophet Jeremia lebte in einer schwierigen Zeit in der Geschichte seines Volkes. Benachbarte Länder kamen an die Macht und eroberten das gelobte Land. Die Juden wurden zum großen Teil ins Exil geschickt. Während der babylonischen Fremdherrschaft wird der Prophet Jeremia gegen seinen Willen nach Ägypten verschleppt und dort, nach der Tradition, zu Tode gesteinigt. So gesehen sind die Leiden Jeremias im Roman von Werfel mit den Leiden der Juden im 2.Weltkrieg gewissermaßen vergleichbar. Denn sowohl Jeremia als auch die Juden im Zweiten Weltkrieg wurden Opfer herrschender Gewalt.

 

Im heutigen Predigttext will der Prophet Jeremia seinem Volk trotzdem Hoffnung schenken; Hoffnung, dass das Volk bald in seine Heimat zurückkehren und ihm Gerechtigkeit widerfahren wird. Auf welche Art von Gerechtigkeit, aber sollte das Volk hoffen? Ist diese Gerechtigkeit vergleichbar mit der „Gerechtigkeit“, die die Mächtigen dieser Welt durchsetzen? Ist diese Gerechtigkeit eine Gerechtigkeit für einige gegen die anderen? Wir lesen im Predigttext, wie Jeremia die Gerechtigkeit beschreibt: „Und dies wird sein Name sein …: »Der HERR ist unsere Gerechtigkeit«.“ Eine sehr merkwürdige Beschreibung: Der künftige Herrscher, den Gott Israel erwecken wird, und seine Gerechtigkeit sind nicht voneinander zu trennen. Vielmehr ist er selbst zugleich die Gerechtigkeit, die er schenkt!

 

Können Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, für einen Moment vorstellen, was dies bedeuten würde: »Der HERR ist unsere Gerechtigkeit«? Der Herr selbst, nämlich Gott ist unsere Gerechtigkeit. Das klingt so ähnlich, wie wenn wir in einer schwierigen, ja hoffnungslosen Situation sind und dann sagen: Gott ist unsere Hoffnung. Es ist auch vergleichbar mit der Aussage, dass Gott die Liebe ist. Denn das bedeutet nicht nur, dass Gott uns liebt, sondern dass wir, wann immer wir lieben, in Gott sind, denn Gott ist Liebe.

 

In diesem Sinne möchten wir heute versuchen, die göttliche Gerechtigkeit nicht als etwas von Gott selbst Getrenntes zu denken. Es fällt uns demzufolge ein deutlicher Unterschied auf zwischen der Aussage, dass Gott ein gerechter Gott ist, und der Aussage, dass Gott selbst unsere Gerechtigkeit ist. Die erste Formulierung bedeutet, dass Gott von außen, oder besser gesagt von oben, als gerechter Herrscher zu uns kommt, der uns nach unseren Taten richten will. Im Gegensatz dazu bedeutet die zweite Aussage „der Herr ist unsere Gerechtigkeit“, dass Gott nicht ein Gott ist, der von oben oder von einer höheren Stelle zu uns kommt und uns sein Urteil diktieren will, sondern dass Gott zu uns in unsere Herzen kommt und uns sogleich gerecht macht, wenn wir ihn hereinlassen. Er selbst ist unsere Gerechtigkeit in dem Sinne, dass wir, wenn wir uns ihm nähern, uns der Gerechtigkeit nähern.

 

Früher, liebe Leserinnen und Leser, wurde die Gerechtigkeit Gottes durch sein Gericht dargestellt, bei dem er sein Urteil vollstreckt, entweder durch Belohnung oder durch Bestrafung, je nach dem, was ein Mensch nach den Maßstäben des göttlichen Gesetzes verdient. Hinter einer solchen Vorstellung von Gerechtigkeit steht die Vorstellung, dass die Menschen zwei Gruppen angehören: die Guten, oder die Auserwählten, die das ewige Heil empfangen werden und die Bösen, die zur Verdammnis auserwählt sind. Diese Vorstellung der göttlichen Gerechtigkeit wurde durch eine Wort-wörtliche Lesung und Auslegung der Bibel bekräftigt. Diese Haltung wird als das „wir“ im Gegensatz zu den „sie“ ausgedrückt. Und diese Haltung wurde nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Soziologie und in der Politik verwendet und war der Grund für viele Kriege, für Deportationen von Menschen aus ihrem Heimatland und sogar für ihre Vernichtung.

 

Das Problem mit einem solchen Verständnis von Gerechtigkeit ist, dass sie zum Nutzen einiger gegen andere angewandt und eingesetzt, und daher immer manipuliert wird, um die Gerechtigkeit der einen und die Bosheit der anderen zu beweisen. Heute, liebe Leserinnen und Leser, wollen wir die göttliche Gerechtigkeit so verstehen, dass sie jedem Menschen zuteilwird, der sein Herz für Gott öffnet, wohl wissend, dass die göttliche Gerechtigkeit nicht vollständig mit menschlichen Worten definiert werden kann, da sie ihrem Wesen nach zum göttlichen Geheimnis gehört, zu dem wir keinen Zugang haben.

 

„Der Herr ist unsere Gerechtigkeit“ lesen wir im Predigttext. In der ursprünglichen hebräischen Sprache lauten diese Worte: „Jahweh unsere Gerechtigkeit“. Und „Jahweh“ stammt von der Verbwurzel „haya“, was existieren/sein, bedeutet. „Jahweh“ bedeutet also derjenige der ist, der Seiende, der zugleich die Quelle allen Seins ist. Diese Quelle allen Seins ist selbst unsere Gerechtigkeit, und wir sind aufgerufen, sie zu entdecken, uns ihr zu nähern und nach ihr zu leben.

 

Zu sagen, dass Gott unsere Gerechtigkeit ist, bedeutet, dass wir gerechtfertigt sind, dass uns vergeben wird und dass wir in insoweit als gerecht gelten, als wir uns Gott nähern. Diese Gottesannäherung wird uns dann helfen, Gerechtigkeit als Licht, als Aufklärung, als Freiheit, als Würde, als Liebe und Vergebung zu erfahren. Hier in der Welt können wir nur versuchen uns dieser göttlichen Gerechtigkeit anzunähern, d.h. zu versuchen, sie anzuwenden, wenn auch nur ansatzweise, denn die Welt wird durch Regeln und Normen regiert, sie wird durch Autoritäten der Macht mit ihrem eigenen engen Verständnis von Gerechtigkeit beherrscht, das zu ihren eigenen Vorstellungen von Macht passt.

 

Demnach übersteigt die Gerechtigkeit Gottes unsere Vorstellung davon, was Gerechtigkeit bedeutet. Es sollte eine Art von Gerechtigkeit sein, die jedem einzelnen Menschen in dieser Welt gerecht werden kann. Armenier, oder Juden, wie Werfel sie beschreibt, oder Palästinenser, oder die Tausenden von Migranten aus dem Nahen Osten, die seit den ersten Novembertagen bei eisigen Temperaturen im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen ausharren. Sie alle sehnen sich nach einer Heimat, einem Land, in dem sie in Freiheit und Frieden leben können.

 

„Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.“ Dieser letzte Satz des Predigttextes verkündet die Rückkehr der Juden aus dem Exil in ihr eigenes Land. Und doch, wenn Gott unsere Gerechtigkeit ist, dann ist Gott selbst unsere Heimat, in die wir alle zurückkehren werden, zurückkehren hoffen.

 

Heute, am ersten Advent, wollen wir uns auf das Kommen Gottes vorbereiten, der selbst für uns die Gerechtigkeit ist. Der, der schon da war und ist, und immer wieder zu uns kommt. Bereiten wir uns darauf vor, ihn im Herzen zu empfangen und ihm zu erlauben, uns gerecht zu machen, indem wir selbst Gerechtigkeit, Liebe und Vergebung ausüben, damit alle Menschen in Freiheit und Würde leben. Der gerechte Spross ist kein mächtiger Herrscher, wie die Herrscher dieser Welt, sondern ein schwacher, einer, der in aller Zerbrechlichkeit und Anfälligkeit zu uns kommt. Einer, der sein Leben mit Flucht und Vertreibung beginnt und am Ende seines Lebens ganz aus der Welt vertrieben wird. Heute, am ersten Advent hoffen wir auf das Kommen des Herrn, der für uns die Gerechtigkeit ist. In diesem Sinne schließe ich die Predigt mit den folgenden Zeilen:

 

Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.

 

und wir sind seine Gerechten.

 

Er ruft uns zur Unversehrtheit auf

 

und wir rufen ihn, uns zu rechtfertigen.

 

 

 

Der Herr ist unser Heil

 

und wir sind diejenigen, die er heilt.

 

Er ruft uns, an ihn zu glauben

 

und wir rufen ihn auf, uns zur Hilfe zu eilen.

 

 

 

Der Herr ist unser Heim

 

und wir sind sein Zuhause.

 

Er ruft uns, dass wir zu ihm kommen

 

und wir rufen ihn, zu uns zu kommen.

 

Amen.