Dichterisch Wohnen

 Dichterisch Wohnen

(Predigt zum 2.Advent)

 

 

„Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, …“ (Jesaja 63,19)

 

 

Ein bekannter Philosoph hat in den fünfziger Jahren einen Vortrag vor Architekten und Baukünstlern mit dem Titel: „Bauen, Wohnen, Denken“ gehalten. Durch diesen Vortrag wurde das Phänomen des Wohnens in der Architekturwelt in bisher nicht gekanntem Maße thematisiert und erhellt. In dem Vortrag war von einem dichterischen Wohnen des Menschen in dieser Welt die Rede und damit war zugleich gemeint: ein menschliches Wohnen in dieser Welt. Ein dichterisches, menschliches Wohnen! So hat auch Hölderlin geschrieben:

 

„Voll Verdienst, doch dichterisch,

 

wohnet der Mensch auf dieser Erde.“

 

 

Im Sinne dieser poetischen Zeilen können wir heute fragen: Ist das Entwerfen von Wohnraum, wie es Architekten tun, einfach eine Sache des technischen Messens, oder ist es mehr? Kann ein Architektenentwurf eines Hauses dazu beitragen, dass der Mensch dichterisch wohnt?

 

Was sagt die Art, wie wir wohnen, über uns aus? Was ist hier mit Wohnen gemeint?

 

Im Alten Testament gibt es zwei wichtige Worte für „wohnen“, die sowohl für das menschliche Wohnen als auch für das Wohnen Gottes bei seinem Volk verwendet werden. Das erste Wort [yashabh] bedeutet „sich niederlassen“, „sitzen“, „bleiben“ und verweist auf die starke Bindung an den Ort, an dem Ruhe und Geborgenheit möglich sind, und auf den Wunsch oder das Bedürfnis des Menschen, das Land zu besitzen, es also zu seinem Eigentum zu machen im Sinne eines Wohnens im künftigen Erbbesitz.

 

Das zweite Wort für „wohnen“ [shakhan] hat mehr mit dem Niederlassen zu tun, das man ohne Angst, ohne dauerhafte Fixierung oder Bindung an einen Ort tut, d.h. ohne die Notwendigkeit, ein Stück Land unbedingt zu besitzen. Dieses zweite Wort bezeichnet eher eine dynamische und offene Ausrichtung auf eine zukünftige, noch unbestimmte Lebensform. Wann immer dieses zweite Wort für „Wohnen“ für das Wohnen Gottes unter seinem Volk verwendet wird, soll damit die räumliche Lokalisierung des göttlichen Wesens vermieden werden. D.h. man bezieht sich auf das Wohnen Gottes bei seinem Volk mit einem Verb, das eher eine gegenwärtige, eine dynamische Bedeutung hat als einen konkreten, physischen Sinn von Bindung und Besetzung. Dies macht auch die Beschreibung Gottes als Jahwe, also als derjenige, „der ist“, nämlich derjenige, der bei allen existierenden Wesen gegenwärtig ist, deutlich. Und ich glaube, dass es dieses zweite Wort für Wohnen ist, das uns heute hilft, zu verstehen, was es bedeutet, dichterisch zu wohnen. Es ist ein solches Wohnen, das frei und offen ist für alles, was von oben, vom Himmel kommt.

 

Und die Frage, die sich uns heute stellt, lautet: Wie kann der Mensch von einer Art des Wohnens, das ängstlich ist und sich nach Besitz und Sicherheit sehnt zu einem Wohnen übergehen, das frei und offen für die Zukunft ist?

 

Zugegeben, diese Herausforderung ist für uns Pfarrerinnen und Pfarrer leichter, da wir nie Eigentümer der Häuser sind, in denen wir wohnen.

 

Bevor ich zu dieser Frage komme, möchte ich aber nochmals auf die erste Frage zurückkommen, die ich vorhin gestellt habe: Kann ein Architekt mit seinem Entwurf, oder ein menschliches Wohnen in der Welt, dazu beitragen, dass der Mensch dichterisch wohnt? Eins, liebe Gemeinde, ist klar: Dichterisches Wohnen kann nicht berechnet und aus den vorhandenen Materialien abgeleitet und errichtet werden. Dementsprechend ist ein dichterisches Wohnen eine freie Schaffung, ein Geschenk und eine Stiftung, die wir üblicherweise „Kunst“ nennen.

 

Es kann deshalb in dieser Hinsicht hilfreich sein, einen größeren Teil von Hölderlins Text zu lesen:

 

 

 

„Reinheit aber ist auch Schönheit.

 

Innen aus Verschiedenem entsteht ein ernster Geist.

 

So sehr einfältig aber die Bilder, so sehr heilig sind die,

 

dass man wirklich oft fürchtet, die zu beschreiben.

 

Die Himmlischen aber, die immer gut sind, alles zumal,

 

wie Reiche, haben diese, Tugend und Freude.

 

Der Mensch darf das nachahmen.

 

Darf, wenn lauter Mühe das Leben, ein Mensch aufschauen und sagen:

 

so will ich auch sein?

 

Ja. So lange die Freundlichkeit noch am Herzen, die Reine, dauert,

 

misset nicht unglücklich der Mensch sich mit der Gottheit.

 

Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar wie die Himmel?

 

dieses glaub‘ ich eher. Des Menschen Maß ist’s.

 

Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde.

 

Doch reiner ist nicht der Schatten der Nacht mit den Sternen, wenn ich so sagen könnte,

 

als der Mensch, der heißet ein Bild der Gottheit.“

 

(Friedrich Hölderlin: In lieblicher Bläue, 1808)

 

Diesen Worten zufolge hat das dichterische Wohnen ein besonderes Maß.

 

Das Maß, das Dichtung nimmt, ist ein anderes als das Maß der Architektur oder eines Menschen, der sich nur berechnend verhält. Für Dichtung findet sich das Maß in der Dimension zwischen Himmel und Erde. Und Hölderlin schrieb, dass die „Gottheit“ selbst das Maß ist, mit dem der Mensch sein Leben ausmisst.

 

In diesem Sinne sind wir, liebe Gemeinde, eingeladen, uns das Maß Gottes anzueignen. Auch wenn die Gottheit oder Gott uns gewissermaßen unbekannt bleibt, wie Hölderlins sagt. In all seiner geheimnisvollen Wahrheit ist und bleibt Gott unser Maß und das Maß unseres Wohnens. Man könnte auch sagen: Die Wohnung oder das Zuhause des Menschen, also der Bereich, in dem der Mensch wohnt und in dem sich sein Wesen offenbart, ist Gott. In Gott verweilt der Mensch und kommt zu seinem Wesen und seiner Wahrheit. Und so hat einmal ein Philosoph darauf hingedeutet, dass der Mensch, soweit er Mensch ist, in der Nähe Gottes verweilt.

 

Die Aneignung dieses Maßes ist aber oft eine große Herausforderung. Oft werden wir missverstanden, weil andere Menschen diesen Maß nicht haben möchten. Die große Mehrheit der Menschen bevorzugt andere Maßstäbe. Menschen wollen sich oft sicher fühlen. Sie wollen besitzen und Macht haben. Wenn wir dagegen Gottes Maß an uns selbst anlegen, bleiben wir oft ohne Besitz, ohne Sicherheit, frei und offen für Kritik, für Missverständnisse, für Fehlurteile und Leid. In diesem Sinne ist das Leiden eine einsame Erfahrung und erfordert eine einsame Wahrnehmung. Und doch, durch dieses Leid und das dichterische Wohnen in der Welt, kommen Himmel und Erde zusammen, denn dann wohnt Gott bei uns.

 

Die Geschichte von der Geburt Jesu sagt uns, liebe Gemeinde, dass Gott nicht irgendwo da oben ist, weit weg von uns, so wie er in der Vergangenheit dargestellt wurde oder man sich ihn vorgestellt hat. Sondern Gott kommt und wohnt in dieser Welt. Er kommt zu uns, wenn wir sein Maß, sein Wort, seine Botschaft und seine Leiden auf uns nehmen. Er ist unser Zuhause und unsere Heimat, in der wir wohnen wollen. Das Kommen Gottes zu uns hat immer die Form eines Abstiegs und eines Wohnens in der Welt, ähnlich wie die Geburt Jesu, und unser Kommen zu Gott hat die Form eines Aufstiegs, denn indem wir sein Maß an uns anlegen, erhebt er uns zu sich, sodass wir in ihm wohnen.

 

„… Ach dass du [Gott] den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, …“ (Jesaja 63,19) Amen.