Die Umkehr als Neuanfang
(Micha 5,1-4a)
- Predigt zum Heiligen Abend -
"Und du, Bethlehem-Ephrata, du bist zwar gering unter den Hauptorten von Juda; aber aus dir soll mir hervorkommen, der Herrscher über Israel werden soll, dessen Hervorgehen von Anfang, von den Tagen der Ewigkeit her gewesen ist. Darum gibt er sie hin bis zu der Zeit, da die, welche gebären soll, geboren haben wird; und der Überrest seiner Brüder wird zurückkehren zu den Kindern Israels. Und Er wird auftreten und [sie] weiden in der Kraft des HERRN und in der Hoheit des Namens des HERRN, seines Gottes; und sie werden [sicher] wohnen; denn nun wird Er groß sein bis an die Enden der Erde. Und dieser wird der Friede sein!"
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Ein Neuanfang ist immer eine Rückkehr in die Vergangenheit, eine Rückkehr zum Ursprünglichen, zum wahren, reinen Selbst. Die Adventswochen sind in diesem Sinne Wochen zurück in die Vergangenheit, in die Gegenrichtung der Uhr, denn sie führen uns zur Geburt eines Kindes, zum Beginn eines Lebens. Und wenn es uns gelingt, diese Reise in die Vergangenheit zu machen, erfahren wir gleichzeitig unser wahres Selbst, nämlich dass wir Kinder Gottes sind. Auf diese Weise ist Weihnachten für uns sehr eng mit unserer eigenen Kindheit verbunden, mit unseren Eltern, mit der Wärme, die wir daheim erfahren durften. Oder, falls wir diese Wärme vielleicht zu Hause nicht erfahren haben, bleibt doch immer die Wärme, die wir immer empfinden, wenn wir vor der Krippe Jesu sitzen und versuchen, seine Reinheit, seine Zerbrechlichkeit und seine Wärme zu spüren.
Aber an Weihnachten geht es nicht nur um eine Rückkehr in die Vergangenheit, sondern auch darum, dass wir einen neuen Anfang machen möchten und machen können. Die Schritte rückwärts in unserem Leben ermöglichen es uns, uns zu entscheiden, einen anderen Weg zu beschreiten als den, den wir vielleicht bereits seit zehn, zwanzig oder dreißig Jahren gehen. Es ist, als ob die Geburt Jesu es uns ermöglicht, mit ihm neu geboren zu werden, ein neuer Mensch zu sein, ein neues Leben zu beginnen, mit neuen Hoffnungen, neuen Herausforderungen, neuen Träumen. Man könnte auch sagen: Erst dann, wenn wir das Jesuskind in unserem Herzen geboren werden lassen, wird sich der Neuanfang auch in unserem Leben vollziehen können.
Aber können wir einen solchen Neubeginn in unserem Leben überhaupt initiieren, indem wir Jesus in unseren Herzen geboren werden lassen, vielleicht schon heute, an diesem Heiligen Abend?
In unserem Leben sind wir oft, liebe Gemeinde, so sehr an die Umstände des Lebens gefesselt und gebunden, dass diese Umstände uns fast beherrschen und wir nicht in der Lage sind, uns einen anderen Weg vorzustellen und das zu sein, was wir von Herzen sein wollen.
Die Schwierigkeit des Neuanfangs liegt also gerade in der Schwierigkeit der Rückkehr in die Vergangenheit. Manchmal, liebe Gemeinde, gehen wir in unserem Leben die falschen Wege, und irgendwann merken wir das. Vielleicht erkennen wir, dass wir umkehren und diese Wege nicht weitergehen sollten. Aber wenn wir an diesem Punkt ankommen, haben wir nicht immer den Mut, umzukehren oder neu anzufangen. Wahrscheinlich haben wir in der Vergangenheit einige Anstrengungen unternommen, um zu unserem aktuellen Zustand zu gelangen und wollen, was wir im Leben geschafft und erreicht haben, nicht aufgeben. Oft erscheint uns eine Rückkehr in die Vergangenheit oder zum Anfangspunkt sogar unmöglich. Oft sind wir nicht bereit, unsere alten Überzeugungen aufzugeben, sondern halten an ihnen fest. Denn wir wollen nicht zugeben, dass wir uns so viele Jahre lang geirrt haben. Deshalb werden wir oft einfach den gleichen Weg weitergehen wollen, wir werden weiterhin die Meinungen vertreten und verteidigen, die wir einst gewählt haben, auch wenn wir im Herzen erkannt haben, dass diese nicht die richtigen für uns waren und sind.
Aus diesem Grund ist jeder neue Weg schwierig. Es erfordert den Verzicht auf das, was man bisher erreicht hat. Man kommt wieder an einen Punkt, wo man nichts weiß, wo man nichts ist, man wird also wieder wie ein neu geborenes Kind. Dann muss man sich wieder neu bewähren, nämlich einen neuen Weg gehen können, einen Weg, der uns aber heimführen würde, näher zu Gott.
Jeder Neubeginn ist eine Rückkehr in die Vergangenheit, in die Heimat, nämlich zum Ursprung. Aber auch gleichzeitig ein Schritt nach vorne in die Ungewissheit. Das ist so, weil der Ursprung auch ein Anfang ist, ein Anfang, der durch die Geburt entsteht.
In diesem Sinne können wir die Worte des Propheten Micha verstehen: „der Herrscher über Israel werden soll, dessen Hervorgehen von Anfang, von den Tagen der Ewigkeit her gewesen ist.“ Jesus ist der neue Adam, der neue Mensch, der als Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Denn Adam, und damit ist jeder Mensch gemeint, lebte viele Jahre und ging viele Wege immer weiter weg von Gott. Durch Jesus macht der Mensch, jeder Mensch, eine Rückkehr zum Ursprünglichen, zu Gott.
Wenn wir keinen Neuanfang wagen, drehen wir uns auf der Stelle im Kreis. Wir tun jeden Morgen, jeden Mittag, jeden Nachmittag, jeden Abend dasselbe, und wir gehen schlafen, um am nächsten Morgen wieder einen Tag zu beginnen, der nicht wirklich neu ist und nichts Neues bringt.
Diese beiden Möglichkeiten, entweder etwas Neues zu beginnen oder im Bestehenden zu kreisen, lassen sich an unseren Beziehungen zu anderen Menschen verdeutlichen. So zum Beispiel meine Nachbarin mit der ich vor zwanzig Jahren einen Konflikt hatte. Seither reden wir nicht mehr miteinander. Jeden Morgen sehe ich sie, und sie mich, und ich wende mein Gesicht von ihr ab. Und so bleibe ich weiterhin in meinem eigenen Zustand und sie wahrscheinlich auch in ihrem. Aber wenn ich morgen früh aufwache und sie sehe, könnte ich mein Gesicht nicht abwenden, sondern sie einfach anlächeln. Genau in diesem Moment wird etwas Neues beginnen. Mit meinem Lächeln werde ich eine Rückkehr in die Vergangenheit unternehmen, vielleicht zu dem allerersten Moment, in dem ich meine Nachbarin kennengelernt habe, zu dem Moment, in dem die Beziehung noch nicht geboren und nicht gebrochen war; zum reinen Anfang. Dieser Anfang wird es uns beiden ermöglichen, eine neue Beziehung zu beginnen, eine Beziehung, die uns beiden die Chance gibt, einander zu verzeihen und füreinander da zu sein, ungeachtet all der bitteren Geschichte von zwanzig Jahren, die wir in der Vergangenheit hatten. Und dennoch ist dieses Wagnis, etwas Neues zu beginnen, ein Schritt voller Ungewissheit, da ich vorher nie weiß, ob meine Nachbarin zurücklächeln wird. Und das Risiko einer unbeantworteten Initiation wird sicherlich vorhanden sein.
Aber was würde passieren, wenn meine Nachbarin nicht auf mich reagiert, ihr Gesicht wieder abwendet? Wäre das das Ende der Welt, wie wir manchmal denken? Ganz und gar nicht. Ich werde darauf warten müssen, dass die Gnade Gottes ihr Herz berührt, damit sie auch an einem Morgen mir zulächelt, sodass sie auch verzeihen und lieben kann.
Die Weihnachtsgeschichte, aber auch die gesamte Geschichte unseres Glaubens, liebe Gemeinde, ist eine Geschichte des Wartens. Wir warten, wie eine Mutter, die darauf wartet, dass ihr Kind schläft, dass es aufwacht, dass es erwachsen wird und in die Welt zieht und dass es wieder heimkommt. Und am Ende ist nur dieses Warten wichtig, denn es macht die Rückkehr nach Hause möglich und alles andere ist zweitrangig. Erst das Warten macht die Hoffnung möglich, die Hoffnung, dass das Kind noch einen Platz daheim hat, die Hoffnung, dass wir noch zu Gott zurückkehren können, weil er auf uns wartet, egal wie weit wir von ihm weggegangen sind.
Liebe Gemeinde, an diesem Heiligen Abend sind wir eingeladen, neue Wege im Leben zu beschreiten, und wir sind vor allem eingeladen, dies in unserem Herzen zu tun. Die äußeren Umstände des Lebens sind manchmal sehr schwer zu ändern, aber glauben Sie mir, die äußeren Umstände sind zweitrangig gegenüber der Haltung des Herzens. In allen Lebenslagen, egal wie beschwerlich oder erleichternd, egal wie glücklich oder traurig, in allen Lebenslagen sind wir eingeladen, unser Herz für Gott und für die Menschen um uns herum zu öffnen. Nur eine solche Offenheit des Herzens kann neue Wege möglich machen, und keine äußerliche Veränderung kann uns die Heimkehr zu Gott gewähren.
Heute, an diesem Heiligenabend, und mit diesem gemeinsamen Gottesdienst beginnen auch wir etwas Neues und wir wollen hoffen und beten, dass das Kind in der Krippe unser Licht und unser Wegweiser sein wird, der allein uns heimführen wird. In diesem Sinne können wir sagen: das neugeborene Kind schenkt uns Frieden, Vergebung und Versöhnung. Das neu geborene Kind öffnet vor uns einen weiten Himmel, einen Himmel ohne Wände, ohne Rahmen, ohne Grenzen, ein Horizont ohne Ende, denn er ist der Friede, auf den wir alle warten.
Ich möchte die Predigt mit einem Vers aus dem Buch der Offenbarung, Kapitel 2, beenden: „Bedenke, aus welcher Höhe du gefallen bist! Kehr zurück zu deinen ersten Taten! …“ (Offenbarung 2,5 [Einheitsübersetzung]) Amen.