Der Mut der Töchter und der Söhne

 

Der Mut der Töchter und der Söhne

(1.Johannes 3,1-2)

 - Predigt am ersten Weihnachtsfeiertag -

 

 

"Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist."

 

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Die beiden Verse aus dem ersten Johannesbrief machen eine klare Aussage darüber, wer wir sind: Wir sind die Kinder Gottes. „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!“

 

Das erste, das uns in den Sinn kommt, wenn wir diesen Vers lesen oder hören, ist die Vater-Kind-Beziehung. Gott ist unser Vater und wir sind Gottes Kinder. Aber was ist mit diesem Bild gemeint? Und wer genau wird hier als Kinder Gottes angesprochen?

 

Dieses Bild der Vater-Kind-Beziehung, wie es auf Gott übertragen wird, stößt in der heutigen Zeit auf unterschiedliche Kritik. Einige würden vielleicht sagen, dass Gott nicht männlich ist und es daher nicht ganz angemessen ist, von Gott als Vater zu sprechen. Andere könnten meinen, dass die Bezeichnung „Kinder Gottes“ eine so einschränkende, entmündigende und uns in unserer Freiheit einschränkende Beschreibung sei, dass sie die Verwendung dieses Begriffs für sich selbst vermeiden wollen.

 

Trotz aller Kritik möchten wir heute, liebe Gemeinde, das Bild von Gott als unserem Vater betrachten, denn es ist eines der bedeutendsten Bilder von Gott. Es geht hier nicht darum, ob Gott männlich oder weiblich ist. An anderen Stellen kann man auch von Gott als Mutter sprechen. Es geht aber heute darum, dass Gott die Quelle unserer Existenz ist. Wir gehören zu ihm und er zu uns. Daher ist die Bezeichnung „Kinder Gottes“ auch eine der umfassendsten Beschreibungen des menschlichen Daseins, der zufolge wir in der Tiefe eng mit allen Menschen verbunden sind. Die Bezeichnung „Kinder Gottes“ ist an sich auch keine entmündigende, sondern eine befreiende Beschreibung. Wir brauchen uns vor nichts zu fürchten, uns um nichts zu sorgen und niemanden zu hassen, denn wir sind Töchter und Söhne Gottes, Brüder und Schwestern in Christus.

 

Diese Bezeichnung will uns deutlich machen, dass etwas von Gott, ein Stück der Ewigkeit, in uns ist, dass wir die Spuren Gottes in uns tragen, so wie Kinder notwendigerweise etwas von ihren menschlichen Eltern in sich tragen. Wie aber tragen wir die Spuren Gottes in uns?

 

Im Gegensatz zu den menschlichen Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Kind, die meist auch einen äußerlichen, körperlichen Aspekt umfassen, sind die Ähnlichkeiten zwischen Gott und uns rein innerliche Ähnlichkeiten und innige Verbundenheit. Als menschliche Wesen sind wir, trotz dieser Verbundenheit, immer der Gefahr ausgesetzt, Opfer unseres Eigennutzes, unseres eigenen Stolzes zu werden. Jedes Mal, wenn wir den anderen nicht beachten, jedes Mal, wenn wir die Bedürfnisse eines anderen ignorieren, jedes Mal, wenn wir denken, dass wir die anderen nicht brauchen und dass es uns gut geht, solange wir in unseren verschlossenen familiären, oder gesellschaftlichen Kreisen bleiben, ohne die Einmischung anderer Menschen, werden wir zu Opfern unserer Überheblichkeit. Und doch, wenn wir uns auf einmal entschließen, uns für andere zu öffnen, wenn wir uns entscheiden, anderen zu vergeben, andere zu lieben, sind wir in der Lage diesen Entschluss umzusetzen. Wir können uns öffnen, wir können lieben und vergeben, wir können den anderen die Hand reichen und ihnen in der Not beistehen. Dies sind, liebe Gemeinde, die Spuren Gottes in uns. Und diese Spuren sind uns gegeben, nämlich die Möglichkeit zu lieben, zu helfen und zu vergeben. In diesem Sinne ist der Mensch innerlich auf Gott ausgerichtet, denn er kann lieben, er kann barmherzig sein, auch wenn unsere Liebe und Barmherzigkeit in dieser Welt fragmentarisch und bruchstückhaft bleiben.

 

Gleichzeitig sind wir aber nicht nur Kinder Gottes, sondern leben auch in dieser Welt. Wir werden im Fleisch geboren, wir müssen essen und trinken, um aufzuwachsen und langsam, im Laufe unseres Lebens werden wir Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit und Güte kennenlernen.

 

Im Predigttext schreibt der Apostel, dass die Welt uns nicht erkennt; denn sie hat auch ihn, nämlich Jesus, nicht erkannt. Das griechische Wort für Welt [Kosmos] hat mehrere Bedeutungen, aber ich glaube, dass im Kontext dieses Predigttextes „die Welt“ für alle irdischen Dinge, Reichtümer, Vorteile und Vergnügungen steht, die, obwohl sie zerbrechlich und vergänglich sind, den Menschen von Gott ablenken können. Zur Welt gehören auch viele Bewohner der Erde, die sich von Gott und von ihrem eigenen Gotteskindsein entfremden. Diese Menschen haben die Erfahrung, als Kinder Gottes zu leben, nicht gemacht. Deshalb werden wir von ihnen oft missverstanden. In diesem Sinne kann die Welt uns nicht erkennen, weil sie die Zugehörigkeit und die innige Verbundenheit zu Gott und zu anderen verneint.

 

Obwohl das „Kinder Gottes sein“ alle Menschen betrifft, ist es deshalb doch unsere freie Entscheidung, die uns als Kinder Gottes leben lässt. Und wenn wir den Mut haben, uns zu entscheiden als Kinder Gottes in der Welt zu leben, werden wir auch hoffen können, hoffen auf die unbegrenzte Nähe Gottes. Erst dann werden wir ihn sehen können, ihn sehen, auch hier in der Welt.

 

Liebe Gemeinde, der heutige Predigttext scheint keinen direkten Bezug zu Weihnachten oder zur Geburt Jesu zu haben. Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle: Warum ist dieser Text nach der Perikopenordnung für den 1.Weihnachtsfeiertag vorgesehen?

 

Jesus wird geboren. Der Mensch und der Sohn Gottes. In ihm und durch ihn, liebe Gemeinde, haben wir auch die Chance selbst als Kinder Gottes geboren zu werden. Durch Christus werden wir uns unseres eigenen Menschseins und unserer Gotteskindschaft bewusst. Menschliches und Göttliches sind in Jesus Christus miteinander verbunden. Aber wie bei ihm, so in gewisser Weise auch in uns. Jesus Christus war ein Mensch wie wir alle, und doch sind in ihm die Ausrichtung auf Gott und die Gotteskindschaft vollkommen. Er lebt und stirbt als wahrer Mensch und Sohn Gottes, und er lebt für immer in allen seinen Brüdern und Schwestern, allen Söhnen und Töchter Gottes, die den Weg der Liebe und des Dienstes, des Mutes und der Barmherzigkeit für ihr Leben wählen. Lassen Sie uns heute, liebe Gemeinde, wenn wir das Vater Unser beten, dieses Gebet ganz bewusst als Töchter und Söhne Gottes beten, sodass wir uns innerlich ganz auf unseren Vater im Himmel ausrichten.

 

An diesem Weihnachtstag und mit der Geburt Jesu sind wir aufgerufen, den Mut zu haben als Töchter und Söhne Gottes in dieser Welt zu leben, Neues zu wagen, zu glauben in der Zeit des Zweifels und das Licht Christi in die Dunkelheit zu bringen, sodass die Welt, wann immer sie uns anschaut, eine Ahnung vom Himmlischen bekommt. In diesem Sinne schließe ich die Predigt mit den Worten des Franz von Assisi (1182-1226):

 

Was keiner wagt, das sollt ihr wagen,

Was keiner sagt, das sollt ihr sagen,

Was keiner denkt, das wagt zu denken,

Was keiner anfängt, das führt aus.

 

Wenn keiner ja sagt, sollt ihr´s sagen,

Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein.

 

Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben,

Wenn alle mittun, steht allein.

 

Wo alle loben, habt Bedenken,

Wo alle spotten, spottet nicht,

Wo alle geizen, wagt zu schenken,

Wo alles dunkel ist, macht Licht.

 

Amen.