„Lasst beides … wachsen“

 

„Lasst beides … wachsen“

(Altjahrabendgottesdienst)

 

(Matthäus 13,24-30)

 

Er legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Als nun die Halme wuchsen und Frucht brachten, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein, auf dass ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune.

 

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Der heutige Predigttext besteht aus zwei Hauptteilen. Zunächst wird erzählt, wie der Weizen und das Unkraut zusammenkamen. Ein Mann sät guten Samen auf seinen Acker. Während alle schlafen, kommt sein Feind und sät Unkraut unter den Weizen. Das Unkraut, an das hier gedacht wird, heißt auf Griechisch zizanion und ist giftig. Es sieht aber zunächst dem Weizen sehr ähnlich. Erst nach dem beides gewachsen ist, kann man den Unterschied zwischen Weizen und Unkraut erkennen. Bis der Unterschied erkennbar wird, sind jedoch die Wurzeln der beiden Pflanzen schon so miteinander verwoben, dass das Ausreißen der einen Pflanze auch die andere beschädigen kann.

 

Als die Knechte das Unkraut bemerken, fragen sie den Hausherrn: „Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut?“ Dies ist die erste Frage, die der Predigttext stellt, nämlich: Woher kommt das Böse?

 

Schließlich kommt den Knechten der Gedanke, das Unkraut auszureißen. Deshalb fragen sie den Hausherrn: „Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten?“ Der Herr aber befiehlt seinen Knechten erstaunlicherweise, dies nicht zu tun, sondern stattdessen beides zusammen, Weizen und Unkraut, wachsen zu lassen bis zur Zeit der Ernte.

 

Direkt im Anschluss liefert das Matthäusevangelium eine Erklärung des Gleichnisses. Ich lese die Verse 37-39 vor: „Der Menschensohn ist's, der den guten Samen sät. Der Acker ist die Welt. Der gute Same, das sind die Kinder des Reichs. Das Unkraut sind die Kinder des Bösen. Der Feind, der es sät, ist der Teufel. Die Ernte ist das Ende der Welt. Die Schnitter sind die Engel.“ (Matthäus13,37-39)

 

Aber wer oder was ist hier mit dem Wort „Teufel“ gemeint? Das Wort „Teufel“ im griechischen Text lautet „diabolos“. Wörtlich bedeutet „diabolos“ „verleumderisch“. Gemeint ist also jemand, der andere verleumdet, der über andere lästert und unwahre Gerüchte oder üble Nachrede verbreitet oder andere in einer Gesellschaft fälschlich und zu Unrecht beschuldigt. Dennoch nimmt der „diabolos“ die Gestalt eines guten Menschen an, und gleicht damit dem Unkraut, das zunächst aussieht wie der Weizen. Auf ganz ähnliche Weise wird das Wort „diabolos“ z.B. im 1.Timotheusbrief verwendet. Dort heißt es: „Desgleichen sollen ihre Frauen ehrbar sein, nicht verleumderisch (klatschsüchtig), … “ (1.Timotheus 3,11). Unser Gleichnis vergleicht das Übel des böswilligen Geredes in einer Gesellschaft mit der Aussaat des Unkrautes auf dem Feld des Herrn. Ist es schlimm, wenn wir den neuesten Klatsch und Tratsch weiter erzählen? Wenn wir uns daran freuen, wenn über andere Menschen Unwahrheiten verbreitet, gelästert und sie verleumdet werden?

 

Bei einem Gottesdienst vor vielen Jahren fragte der Pfarrer rhetorisch: „Welches der Zehn Gebote wird in den Gemeinden am häufigsten gebrochen?“ Er antwortete: „Nein! Nicht das mit dem Ehebrechen, sondern das mit dem falschen Zeugnis über den Nächsten“ [Exegetical Notes, Brian Stoffregen]. So hat auch Luther das 8.Gebot erklärt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unseren Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“

 

Wenn wir über andere übel reden, wirken wir in gewissem Maße gegen den göttlichen Zweck seiner Schöpfung, der am Ende dieses Gleichnisses zum Ausdruck kommt, nämlich dass „die Gerechten … wie die Sonne in ihres Vaters Reich [leuchten]“ (Matthäus 13,43). Indem wir über andere böses reden, verdecken wir das Licht in den anderen. Deshalb wird derjenige, der seine Mitmenschen verleumdet, der andere zu Unrecht beschuldigt und sich dann trotzdem als ein Guter inszeniert, im Predigttext mit drastischen Worten als „diabolos“, als Teufel selbst beschrieben.

 

Aber „woher kommt das Böse“ überhaupt? Auch wenn diese gewichtige Frage in der Frage der Knechte an den Hausherrn anklingt, ist dies nicht die Hauptfrage, die der heutige Predigttext aufwirft. Denn die Anpflanzung des Unkrauts hat wahrscheinlich die Fruchtbarkeit des Weizens etwas gemindert, aber sie hat den guten Weizen nicht zerstört. Die Hauptfrage, die das Gleichnis in den Blick nimmt, lautet vielmehr:

 

Wie gehen wir mit dem Bösen in unserem Leben um?

 

Das Hauptaugenmerk im Gleichnis liegt daher nicht auf der Anpflanzung des Unkrautes, sondern vor allem auf der Ungeduld der Knechte. Sie sind kurz davor das Unkraut auszureißen, weil sie glauben, dass das dem entspricht, was der Hausherr von ihnen verlangt. Umso erstaunlicher ist für sie deshalb die Anweisung zu warten. Denn hätten die wohlmeinenden Knechte das Unkraut ausgerissen, hätten sie auch den guten Weizen vernichtet. In ihrem Eifer, dem Herrn zu gefallen, hätten sie vielleicht große Teile der Ernte vernichtet. Die Knechte hätten dann mehr Zerstörung anrichten können als der „Feind“, der „Teufel“ selbst!

 

In diesem Sinne liegt das Kernproblem im Gleichnis in der Ungeduld der Knechte. Sie denken, sie wüssten, was ihr Herr will, aber ihr Handeln hätte schlimmere Folgen als die Anwesenheit des Unkrauts. Weil die Wurzeln der guten und der schlechten Pflanzen so miteinander verflochten sind, kann das Böse nicht gewaltsam beseitigt werden ohne dass dabei das Gute schwer beschädigt wird. Anders als die Knechte erkennt der Herr das Problem und befiehlt: „Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte“.

 

Mit der Ernte ist das Ende der Welt gemeint, welches in der Zeit Gottes liegt und nicht in unserer Zeit. Die Überwindung des Bösen ist nicht die Aufgabe der Knechte, sondern des Menschensohns. Auf uns übertragend können wir heute sagen: Es ist nicht unsere Aufgabe, über die Übeltäter in unserer Gesellschaft zu richten. Es ist nicht unsere Aufgabe, andere zu be- und verurteilen. Dieses Thema taucht neben unserem Gleichnis noch an mehreren anderen Stellen im Matthäusevangelium auf. Zum Beispiel lesen wir in Kapitel 7:

 

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn mit demselben Gericht, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; … Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? “ (Matthäus 7,1-3)

 

Heute sind wir, liebe Gemeinde, aufgerufen, unser Leben auch mit denen zu teilen, die uns verleumden und über uns klatschen und übel reden. Sind wir dazu in der Lage? Schaffen wir das?

 

In diesem Sinne lenken diese Verse unsere Gedanken vom Versuch, andere zu beurteilen, auf uns selbst. Und persönlich möchte ich den Text heute so verstehen, dass das gesäte Unkraut zu uns allen gehört und dass dieses Unkraut, das so sehr mit dem Guten verstrickt ist, in jedem von uns existiert. Wir sind nicht die Guten, die den Bösen gegenüberstehen, sondern in uns gibt es beides, das Gute und das Böse, Unkraut und Weizen. Und daher wird ein Teil dessen, was wir in unserem Leben sagen und tun, nicht ewig Bestand haben. Der Tag wird kommen, an dem nur die Taten der Liebe bestehen und alles Böse beseitigt werden.

 

Am Ende dieses Jahres 2021 sind wir, liebe Gemeinde, aufgerufen, über das vergangene Jahr, aber auch über die vergangenen Jahre unseres Lebens nachzudenken. Wo habe ich als Unkraut gewirkt, als jemand, der zum Klatschen und Tratschen neigt und andere zu Unrecht beschuldigt? Wann habe ich andere verleumdet, Unwahrheiten gesagt und Menschen mit meinen Worten verletzt? Und wann habe ich wie die ungeduldigen Knechte gehandelt, die um jeden Preis das Unkraut loswerden wollten? Der Herr sagt: „Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte“. Heute sind wir aufgerufen, das Unkraut mit dem Weizen wachsen zu lassen. Wir sind aufgerufen zu hoffen, dass Gott auf seine geheimnisvollen Wege das Böse beseitigen wird, so dass nur die guten Werke und die guten Worte Bestand haben.

 

Das heutige Gleichnis deutet an, dass das Böse im Reich Gottes vernichtet wird, sodass nur die Taten der Liebe in Ewigkeit bestehen. Lasst uns, liebe Gemeinde, unserem Nächsten vergeben, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren, solange wir die dazu nötige Gelegenheit haben. Lasst uns die Schwelle zum neuen Jahr mit der Hoffnung überschreiten, dass wir mit allen anderen wie die Sonne im Reich Gottes leuchten werden. Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

31.12.2021