„Man nahm ihn nicht auf“

 

„Man nahm ihn nicht auf“

 

Jesaja 42,1-7

 

"Der Messias, der Knecht des Herrn (Schlachter)

 

Siehe, das ist mein Knecht, den ich erhalte, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt; er wird das Recht zu den Heiden hinaustragen. Er wird nicht schreien und kein Aufhebens machen, noch seine Stimme auf der Gasse hören lassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen; wahrheitsgetreu wird er das Recht hervorbringen. Er wird nicht ermatten und nicht zusammenbrechen, bis er auf Erden das Recht gegründet hat, und die Inseln werden auf seine Lehre warten. So spricht Gott, der HERR, … Ich, der HERR, habe dich berufen in Gerechtigkeit und ergreife dich bei deiner Hand; und ich will dich behüten und dich zum Bund für das Volk setzen, zum Licht für die Heiden; dass du die Augen der Blinden öffnest, die Gebundenen aus dem Gefängnis führst und aus dem Kerker die, welche in der Finsternis sitzen."

 

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„Mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt …“

 

Der heutige Predigttext trägt in manchen Übersetzungen den Titel „Der Messias, der Knecht des Herrn“. Wer ist dieser Messias? Das Wort Messias (māšîaḥ auf Hebräisch) bedeutet der Gesalbte. In der jüdischen Welt war der Messias traditionell ein König oder Hohepriester, der mit Salböl gesalbt wurde. Er ist jemand, der dazu bestimmt ist, das Volk aus Leid und Gefahr zu befreien. Im Kontext des Predigttextes ist die Rede von einem verheißenen Messias, der König und Erlöser sein wird.

 

Aber ist mit „Messias“ eine historische Person vorgestellt, die zur Abfassungszeit dieses Kapitels des Jesajabuches, also der Zeit des babylonischen Exils im 6.Jahrhundert v.Chr., gelebt hat? Oder ist der Text eher eine Vision, in der ein zukünftiger Prophet angekündigt wird? Der Kontext des Textes erzählt uns von der Hoffnung des Volkes auf einen wahren Anführer, der das Volk aus Gefahr und Gefangenschaft befreien kann.

 

Das griechische Wort Christós (Χριστός) ist die Übersetzung des hebräischen Wortes Messias. Jesus Christus bedeutet also „Jesus, der Gesalbte“. Für uns Christen ist Jesus Christus der auserwählte Messias. Wir glauben, dass Jesus Christus derjenige ist, der uns alle befreien kann. Er ist derjenige, der die Worte der Prophetie und Verheißung durch sein Leben und seinen Tod vollendet hat.

 

Wie unterscheidet sich aber dieser verheißene Messias von anderen Königen oder Propheten? Ein Unterschied wird im Text sehr deutlich: Dieser Messias wird als ein Knecht und Diener beschrieben. Haben Sie von irgendeinem anderen König gehört, der als Diener und Knecht beschrieben worden ist? Das Hauptmerkmal dieses Messias ist sodann seine Sanftmut und seine Zerbrechlichkeit. Und so lesen wir, dass dieser Messias „nicht schreien und kein Aufhebens machen“ wird. In seiner Demut und Zerbrechlichkeit wird er die Schwachen sehen können. Er wird die Kranken, die Ausgestoßenen und die Sünder annehmen und in ihrer Schwäche wird er ihre Stärke sehen und diese bewahren können.

 

„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“, schreibt Jesaja.

 

Das Bild eines glimmenden Dochtes erinnert uns an das Gefühl, ausgebrannt zu sein oder am Ende eines Weges zu stehen. In diesem Sinne verbreitet der glimmende Docht, anders als eine brennende Kerze, kein Licht und keine Wärme mehr. Im glimmenden Doch erahnen wir schon die Dunkelheit, die sich durch sein Erlöschen ausbreiten wird.

 

Ein glimmender Docht kann ein Bild für einen Menschen sein, der nicht mehr so aktiv ist, oder aktiv sein kann. Vielleicht ein Mensch im hohen Alter, oder ein kranker Mensch? Der auserwählte Messias ist dann derjenige, der sanft und respektvoll mit anderen umgeht und in ihren Schwächen ihre Stärke erkennt. Denn für ihn ist jeder Mensch wichtig, ob jung oder alt, gesund oder krank, produktiv oder unproduktiv, Freund oder Feind. Jeder Mensch ist eine Seele, die Gott im Leben und in der Ewigkeit bewahren wird, so dass sie niemals verlöschen wird.

 

Warum sagen wir Christen, dass Jesus Christus derjenige ist, der uns von all unseren Schwächen, Ängste und Befürchtungen befreien kann? Ich glaube, die Antwort ist, dass er selbst Schwäche und Ablehnung der Menschen in seinem Leben erfahren hat.

 

In der Schriftlesung haben wir gehört:

 

„als [Jesus] … sein Angesicht [entschlossen] nach Jerusalem richtete, um dorthin zu reisen, da sandte er Boten vor sich her. Diese kamen auf ihrer Reise in ein Samariterdorf und wollten ihm die Herberge bereiten. Aber man nahm ihn nicht auf, weil Jerusalem sein Reiseziel war.“ (Lukas 9,51-53)

 

Jesus wendet sein Gesicht nach Jerusalem. Trotz aller Widerstände ist er entschlossen, an den gefährlichsten Ort des Landes zu gehen, wo es sehr wahrscheinlich zu einer Konfrontation mit den religiösen Führern seiner Zeit kommen könnte. Auf dem Weg dorthin wollen seine Jünger in einem Samariterdorf einen Platz für ihn vorbereiten. Aber man nahm ihn in diesem Dorf nicht auf. Was für eine Enttäuschung, besonders für die Jünger Jesu, dass sie von anderen nicht angenommen werden. Und was war der Grund dafür, dass Jesus in diesem Dorf abgelehnt wurde?

 

Die Samariter waren den Juden gegenüber nicht freundlich gesinnt, vor allem wenn die Juden auf dem Weg in die heilige Stadt Jerusalem durch ihr Gebiet zogen. Doch am Ende ist, liebe Gemeinde, der Grund der Zurückweisung gar nicht so wichtig. Menschen finden immer Gründe, andere zurückzuweisen. Manche haben Angst vor anderen, manche sind nicht bereit, sich für das zu öffnen, was für sie neu oder fremd zu sein scheint. Jeder hat einen Grund, und unsere Gründe hindern uns oft daran, uns dem Licht zu nähern.

 

In diesem Sinne ist Jesus durch die Erfahrung gegangen in der Welt abgelehnt zu werden. Er hat selbst die Erfahrung gemacht, ein geknicktes Rohr und einen glimmenden Docht zu sein. Diejenigen, die ihn töten wollten, wollten vor allem sein Licht auslöschen, das sich in der Welt verbreitete. Sie zogen es vor, in der Finsternis zu bleiben, anstatt in sein Licht zu treten. Und Jesus ist gestorben. Er ist „gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes“, wie wir im Glaubensbekenntnis sagen. Und damit meinen wir: Er ist durch den Tod hindurchgegangen mit all seinen Schmerzen und seinen Folgen. Dennoch ist der glimmende Docht Christi nicht erloschen, und das Licht leuchtet noch heute, nach 2000 Jahren, unter uns.

 

Das Geheimnis Jesu zur Überwindung der Finsternis liegt in seinem vollen Vertrauen auf Gott, den Vater. Dies ist aber auch, liebe Gemeinde, das Geheimnis, wie Dunkelheit, Leid und Gefahr auch in unserem Leben überwunden werden können. Im Moment des großen Schmerzes und der Trübsal liegt das Geheimnis darin, dass wir unsere Schwäche anerkennen. Menschen müssen ihre Blindheit und Gefangenschaft erkennen, bevor sie geheilt und befreit werden können. Nur dann, wenn wir alles in Gottes Hand aufgeben, wird er es für uns tun. Nur dann werden wir von Gott getragen. Er wird uns den Weg durch Schmerz und Dunkelheit bahnen und unser Licht bewahren, damit es nicht erlischt.

 

Liebe Gemeinde, in einer Welt der großen Mächte, in einer Welt der Wirtschaft und des Marktes, in einer Welt, in der die glimmenden Dochte ausgelöscht werden, um die Macht der anderen zu beweisen, in einer Welt, die sich nach Kompetenzen richtet und in der Menschen sich immer wieder bewähren müssen, sind wir heute eingeladen, unsere Augen auf Jesus Christus zu richten. Er hat gesagt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Johannes 6,37). Dies ist auch die Jahreslosung 2022. Jesus Christus wird das Licht in jedem einzelnen Menschen sehen können, denn alle sind die Kinder und Auserwählte Gottes. Und er wird das Licht jedes Menschen zu sich ziehen, sodass wir mit allen anderen in seinem Licht wohnen.

 

In diesem Sinne möchten wir beten mit den Worten des Taizé Lieds:

 

Christus dein Licht,

Verklärt unsre Schatten,

Lasse nicht zu,

Dass das Dunkel zu uns spricht.

Christus dein Licht,

Erstrahlt auf der Erde,

Und du sagst uns

Auch ihr seid das Licht.

 

Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

23.01.2022