Das Wort, das zur Liebe führt

 Das Wort, das zur Liebe führt

 

(Hebräer 4,12-13)

 

 

 

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

 

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Im Zentrum des heutigen Sonntags steht Gottes Wort. Was aber, liebe Gemeinde, ist mit „Gottes Wort“ gemeint? Ist es die Bibel, die wir üblicherweise als das Wort Gottes bezeichnen? Natürlich können wir sagen, dass die Bibel der erste Zeuge der Wahrheit Gottes und Jesu Christi ist. Wir haben auch heute nichts anderes oder Besseres als die Bibel, was uns in unserem Glauben begleiten könnte. Dennoch stellt sich die Frage, ob wir die Bedeutung des „Wortes Gottes“ wahrnehmen können, die auch jenseits des speziellen Kontextes und der geschriebenen Buchstaben der Bibel liegt.

 

Was mir beim ersten Lesen des heutigen Predigttextes aufgefallen ist, ist, dass Gott und Gottes Wort in diesen beiden Versen so beschrieben werden, dass sie als zwei austauschbare Begriffe erscheinen. Das deutet darauf hin, dass Gott und sein Wort ein und dasselbe sind. So sagt der Vers 12: Das Wort Gottes ist „ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“. Damit wird über das Wort Gottes etwas gesagt, was wir üblicherweise über Gott sagen, nämlich, dass Gott die Gedanken und Absichten des menschlichen Herzens erkennt. Hier ist es das Wort Gottes, das unsere Gedanken und Absichten erkennen kann. Eine solche Gleichstellung zwischen Gott und dem Wort Gottes finden wir auch in der Schöpfungsgeschichte. Dort hat Gott alles durch sein Wort geschaffen. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, indem er sprach: Es werde ... und es wurde. Deshalb können wir uns heute vorstellen, dass, da Gott alles durch sein Wort geschaffen hat, Teile seines Wortes überall in der Schöpfung verstreut sind, denn alles wurde durch das Wort geschaffen. Somit ist Gottes Wort auch heute bei uns gegenwertig. Das Schöpferwort Gottes ist dann auch seine Kraft, eine Kraft der Liebe, die es möglich macht, dass andere existieren und sein können. Das Gegenteil dieser Kraft der Liebe ist die Kraft, oder die Macht der Zerstörung, die die Existenz eines Anderen nicht zulässt, sondern den Anderen zerstören will, damit sie allein sein kann.

 

Und wenn wir sagen, dass Gottes Wort bei uns gegenwärtig ist, meinen wir, dass seine Kraft der Liebe und des Lebens auch Teil von uns ist, denn wir alle dürfen lieben und leben. Wir alle können dazu beitragen, dass andere leben und gedeihen können. Und in diesem Sinne verstehen wir die Worte des Propheten Jesaja, die wir in der Schriftlesung gehört haben: „Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist.“ (Jesaja 55,6) Gott und Gottes Wort sind uns nahe, und wenn wir Gott suchen, werden wir ihn finden können.

 

Als ich in eurem Alter war, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, habe ich angefangen, die Jugendgruppe der evangelischen Kirche zu besuchen. Ich habe damals auch angefangen, zu Hause die Bibel zu lesen. Meine Eltern gehörten der traditionellen Kirche an (mein Vater orthodox, meine Mutter katholisch), aber für sie war es nicht üblich, vielleicht auch etwas befremdlich, die Bibel allein zu Hause zu lesen. Deshalb habe ich die Bibel eher heimlich gelesen. Natürlich war die Bibel für meine Eltern etwas Wichtiges, aber sie wären nie auf die Idee gekommen, die Bibel selbst zu lesen. Das wäre zu viel für ihr eigenes Verständnis von Glauben gewesen. Vielleicht wussten oder ahnten sie, dass das Wort Gottes das ganze Leben des Menschen ergreifen und bestimmen wird. Auf eine Weise, dass man nicht auf halbem Weg zwischen dem Wort Gottes und der Welt stehen bleiben kann. Und da ist etwas Wahres dran. Wir können nicht sorglos an das Wort Gottes herangehen. Wenn wir uns ihm nähern, nimmt es uns zu sich und macht uns zu neuen Menschen. Was damals für meine Eltern nicht so einfach war zu verstehen, dass das Gottes Wort uns nicht das Leben zerstört, sondern es uns immer wieder neu schenkt.

 

In diesem Sinne möchte ich heute die Worte des Predigttextes verstehen: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein“. Das Wort Gottes ist lebendig, es bringt Leben hervor. Es ist nicht gegen das Leben, wie manche befürchten und sich deshalb nicht an das Wort herantrauen. Wenn wir uns dem Wort Gottes nähern, lehrt es uns, wie wir leben können, denn in ihm ist die Quelle des Lebens. Und die Aussage, dass das Wort so scharf ist, um Seele und Geist, Mark und Bein zu scheiden, deutet auf die durchdringende Kraft des Wortes hin. Das Wort dringt bis in die tiefsten Tiefen des menschlichen Wesens vor. Es durchdringt die Gedanken des Geistes, die Träume der Seele. Selbst die härtesten Teile des menschlichen Körpers, nämlich die Knochen und Gebeine, können der Kraft des Wortes nicht widerstehen.

 

Wir dürfen aber auch nicht übersehen, dass der Ausdruck „Wort Gottes“ auch für den Sohn Gottes, Jesus Christus, verwendet wird, durch den Gott seine Worte der Liebe und Vergebung spricht. In den ersten Versen des Johannesevangeliums lesen wir:

 

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. … Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht … In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen.“ (Johannes 1,1-5)

 

Und so sehen wir, dass das „Wort Gottes“ weit über die Worte der Bibel hinausgeht. Die Bibel ist deshalb nur in dem Sinn Wort Gottes, dass sie den bezeugt, der eigentlich das Wort und die Wahrheit Gottes ist: Jesus Christus. In diesem Sinne hat der Theologe Karl Barth die Bibel als „der erste Zeuge“ der Offenbarung Gottes bezeichnet. Die Bibel und der, von den sie Zeugnis ablegt, sind nicht dasselbe. Vielmehr bringt die Bibel den Christus vor uns (KD I/1,114; KD I/2, 524).

 

Aus diesem Grund sagen wir in unserem christlichen Glauben, dass Gott sich vor allem in der lebendigen Person Jesu Christi offenbart. Jesus Christus hat gelebt, ist gestorben und wir glauben, dass er heute mit uns lebt. Und damit wollen wir sagen, dass er auch heute noch mit allen leidet, die in dieser Welt leiden, dass er sich mit allen freut, die sich freuen. Er ist also heute noch in Bewegung und kommt auch heute noch zu uns.

 

Und auch wenn das Wort Gottes jedem von uns nahe ist, ist es nicht möglich, es vollkommen zu begreifen oder es mit menschlichen Worten vollständig zum Ausdruck zu bringen. Die Wahrheit Gottes kann nicht vollständig in menschlichen Worten festgehalten werden. Und hier ist die zweite Hälfte der Wahrheit des Wortes Gottes in Jesaja ausgedrückt: „so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“ (Jesaja 55, 9)

 

Dennoch möchte ich heute, nicht zögern zu sagen, dass jedes Wort, dass uns zur Liebe führt, zur Vergebung, zur Hoffnung, zum Trost in der Zeit der Not und zum Licht in der Dunkelheit der Nacht, Gottes Wort ist.

 

Wenn wir zum Wort Gottes kommen, kommen wir zu Gott und zu Jesus Christus. Vor dem Wort Gottes stehen wir wie vor einem Spiegel. Vor dem Wort Gottes sehen wir uns selbst und unsere Versäumnisse und Fehler, damit wir sie nicht verbergen können. Aber vor dem Wort Gottes erkennen wir auch, dass wir Menschen nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Wir erkennen, dass das Wort auch zu uns gehört. Anders als ein Spiegel, der an einem Ort verharrt, geht das Wort Gottes mit uns dorthin, wohin wir gehen. Es ist in uns und mit uns. Es begleitet uns und tröstet uns in Zeiten des Schmerzes.

 

Lasst uns, liebe Gemeinde, das Wort nicht fürchten, sondern auf es zugehen. Lasst uns dem Wort zugestehen, uns zu erforschen und zu reinigen, und uns Leben und Liebe zu schenken. In diesem Sinne möchten wir singen:

 

 

 

Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht;

 

es hat Hoffnung und Zukunft gebracht;

 

es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis,

 

Not und Ängsten, ist wie ein Stern in der Dunkelheit.

(Text: Hans-Hermann Bittger, 1978)

 

Lasst uns, liebe Gemeinde, unsere Herzen für das Wort Gottes öffnen. „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verstockt eure Herzen nicht.“ (Psalm 95,7-8; Hebräer 4,7) Amen.