Der Weg des Kreuzes

 Der Weg des Kreuzes

(Markus 8,31-36)

 

 

Und er fing an, sie zu lehren, der Sohn des Menschen müsse viel leiden und von den Ältesten und den obersten Priestern und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen wiederauferstehen. Und er redete das Wort ganz offen. Da nahm Petrus ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um und sah seine Jünger an und ermahnte den Petrus ernstlich und sprach: Weiche von mir, Satan! Denn du denkst nicht göttlich, sondern menschlich!

Und er rief die Volksmenge samt seinen Jüngern zu sich und sprach zu ihnen: Wer mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!

Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird es retten. 

Denn was wird es einem Menschen helfen, wenn er die ganze Welt gewinnt und sein Leben verliert?

 

______________________________

 

An diesem Sonntag vor der Passionszeit wollen wir, liebe Gemeinde, über den Weg des Kreuzes nachdenken, der vor uns liegt. Bei unseren Überlegungen begegnet uns eine widersprüchliche Sprache: Sich Selbst gewinnen durch Verlust und Selbst-Verleugnung, heißt es im Predigttext. Und in der Schriftlesung haben wir gehört: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verlorengehen; uns aber, die wir gerettet werden, ist es eine Gotteskraft“ (1.Korither 1,18).

 

Im heutigen Predigttext kündigt Jesus seinen Jüngern zum ersten Mal sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung an. Der Menschensohn müsse viel leiden und von den Ältesten und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden. Mit diesen Worten sagt Jesus seinen eigenen Weg voraus. Aber er gibt sich nicht damit zufrieden, seinen eigenen Weg vorherzusagen, sondern er fordert seine Nachfolger auf, denselben Weg zu gehen. Der Weg ist nicht einfach. Was hat Jesus uns heute zu bieten, damit auch wir es auf uns nehmen, den gleichen Weg zu gehen?

 

„Denn was wird es einem Menschen helfen, wenn er die ganze Welt gewinnt und sein Leben verliert?“

 

Die herkömmliche Auslegung dieses Verses lautet: „Was würde der Mensch gewinnen, wenn er die Welt gewinnt und alles hat, was er zu Lebzeiten braucht, aber am Ende des Lebens, im Endgericht, er sein Leben verlieren wird?“

 

Heute möchte ich diesen Text anders auslegen. Ich möchte diese Worte so verstehen, dass sie uns sagen: Denn was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und sein Leben, sich selbst, auch hier in dieser Welt verliert?

 

Der Mensch, liebe Gemeinde, ist so gemacht, dass er nach himmlischen Dingen strebt und gleichzeitig ein irdisches Wesen mit weltlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten ist. Eins sollte uns aber klar sein. Mit himmlischem Streben meinen wir nicht ausschließlich das fromme Leben. Sondern unter himmlischem Streben können wir das wesentliche menschliche Streben nach Liebe, Würde, Freiheit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit verstehen. Und ich glaube, dass jeder Mensch tief in seinem Inneren diese Sehnsüchte hat, unabhängig davon, ob er diese ausdrücken kann oder nicht. Solange der Mensch leben und lieben kann, bejaht er diese himmlischen Sehnsüchte im Leben bewusst oder unbewusst.

 

Manchmal gelingt es uns nicht ein klares "Ja" zu sagen zu unseren himmlischen Bestrebungen. Dann verirren wir uns im Leben, und gehen die falschen Wege. Oft fehlt uns der Mut, "Ja" zu sagen, zur Wahrheit, zur Liebe, zur Gerechtigkeit. Vielleicht haben wir auch oft Angst, dass wir durch unser "Ja" etwas verlieren könnten. Die Angst kommt aus der Welt, denn sie hat eine andere Logik als unser himmlisches Streben. Und dann passen wir uns der Welt an und hintergehen unser eigenes Streben. Meistens wählen wir die einfachen Wege und verraten damit wieder unser Selbst, von dem wir einmal geträumt haben.

 

Manchmal gelingt es uns nicht, zu lieben, denn die wahre Liebe ist nicht einfach. Sie erfordert, dass wir alles geben für die geliebten Menschen. Und so bewegen wir uns oft im Leben zwischen Liebe und Egoismus. Wir mögen manchmal denken, dass wir andere lieben, während wir eigentlich nur unser eigenes Wohl wollen, oder wir wollen andere für unser eigenes Wohl gewinnen. Bis wir lernen, dass Liebe bedeutet, zu geben und nur zu geben. In diesem Sinne sagt Jesus: Wer mir nachfolgen will, soll sich selbst verleugnen, sich selbst absagen. Geben und sich selbst verleugnen gehören zusammen und nur dadurch ist die Nachfolge und die Übernahme des Kreuzes möglich. Denn in jedem wahren Gefühl der Liebe ist Gott beteiligt. Wenn wir also andere lieben und uns für andere hingeben, lieben wir auch Gott und geben uns Gott hin. Und wenn wir behaupten, Gott zu lieben, aber die Menschen nicht lieben können, sollten wir unsere Haltung überdenken und erkennen, dass es nicht möglich ist, Gott zu lieben und die Menschen nicht lieben zu können. In diesem Sinne ist die Liebe unabhängig davon, wer der andere ist. Nach christlichem Verständnis ist jeder Mensch der Liebe würdig, und durch jeden anderen Menschen kommt Gott zu uns.

 

Denn die Liebe im christlichen Sinn des Wortes ist Gott und Gott schenkt seine Liebe, nämlich sich selbst jedem Menschen. Und deshalb sagen wir: Jeder Mensch ist der Liebe wert.

 

Auch die Liebe zwischen Mann und Frau hat in sich Elemente der Gottes Liebe. Denn jede wahre Liebe trägt Elemente der Gottes Liebe in sich und ist daher an sich gut. Die Menschen, die lieben schaffen es oft liebevolle Menschen zu sein, offen für alle anderen. Denn die Liebe kann nichts anderes tun als zu lieben. Die Liebe kann nicht hassen, nicht neiden, nicht fürchten, die Liebe sucht nicht das Ihre, sondern um das Wohlergehen des anderen.

 

Das menschliche Versagen, zu lieben und zu geben, ist im heutigen Predigttext durch die Worte des Petrus ausgedrückt, der gegen Jesu Worte über Leid und Tod einen Einwand erhebt. Der Einwand des Petrus offenbart seine Neigung, den Weg des Kreuzes zu vermeiden, vielleicht einen anderen Weg zu gehen, den einfacheren Weg zu wählen.

 

Für Jesus hingegen war der Weg klar. Was ihn bewegte und ihn dazu brachte, auf besondere Weise zu handeln oder zu sprechen, war seine Liebe, nicht Angst und nicht die Sorgen im Leben. In diesem Sinne, war er der Mensch, der nach seinen himmlischen Bestrebungen leben konnte und auch dafür starb. Aus Liebe nahm Jesus seine Jünger auf, auch wenn er wusste, dass sie ihm nicht immer treu waren. Aus Liebe vergab er den Sündern und setzte sich mit ihnen zu Tisch, auch wenn er wusste, dass dies die Pharisäer und Schriftgelehrten provozieren würde. Aus Liebe handelte Jesus an einem Sabbat, und heilte den Mann mit der verdorrten Hand, auch wenn er wusste, dass er dafür verurteilt werden würde. Aus Liebe hat er im Tempel nicht geschwiegen, als er die Ungerechtigkeit dort sah, auch wenn er wusste, dass er ein hohen Preis für sein Wort der Wahrheit zahlen würde. Es ist in diesem Sinne, dass wir sagen: „Das Leiden Jesu ist ein Leiden aus Liebe.“

 

Wegen der Verstocktheit der Herzen seiner Mitmenschen war er oft betrübt, so wie er im heutigen Predigttext wegen der Worte des Petrus betrübt zu sein scheint. Auch wir sind, wie Petrus, oft versucht, einfache Wege im Leben zu wählen, nicht mit Sündern zusammenzusitzen - was auch immer wir heute darunter verstehen, keine Kritik an ungerechte Autoritäten zu üben, nicht zu tun, was andere nicht tun... das klingt auch für uns heute zutreffend. Auch wir wollen oft den einfachen Weg gehen. Aber etwas Wesentliches geht verloren, wenn wir den einfachen Weg wählen, das, was im Grunde genommen unser ist, unser himmlisches Streben.

 

„Er aber wandte sich um und sah seine Jünger an und ermahnte den Petrus ernstlich und sprach: Weiche von mir, Satan! … Und er rief die Volksmenge samt seinen Jüngern zu sich und sprach zu ihnen: Wer mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!“

 

In diesem Sinne verstehen wir die Worte von Pilatus, der in Jesus den wahren Menschen sehen konnte. Und so lesen wir im Johannesevangelium, dass er zu den Juden sprach: Seht, ich führe ihn zu euch heraus, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde!“ Und als Jesus herauskam und trug die Dornenkrone und den Purpurmantel, sprach Pilatus zu ihnen: Seht, welch ein Mensch!“ (Johannes 19,4-5)

 

Und so bezeichnet sich Jesus selbst im heutigen Text als Menschensohn. Er ist der Sohn des Menschen, er ist der wahre Mensch und der Sohn Gottes.

 

Liebe Gemeinde, wer sein Leben gewinnen will, soll es verlieren. Und doch liegt die paradoxe Bedeutung dieses Verses in der Erkenntnis, dass wir nur durch die Liebe, nämlich durch das Geben und die Verleugnung des Selbst uns selbst gewinnen können. Der Sonntag Estomihi lädt uns ein den Kreuzweg mit Jesus mitzugehen. Der Weg des Kreuzes führt uns ins Leben hinein, in die Liebe, die Freiheit und die Gerechtigkeit.

 

Wollen wir mit ihm gehen? „Denn was wird es einem Menschen helfen, wenn er die ganze Welt gewinnt und sein Leben verliert?“ Amen.