„Geh hin und sündige nicht mehr!“

 „Geh hin und sündige nicht mehr!“

(Joh. 8,1-11)

 

 

Schon früh an jenem Tag kommt Jesus in den Tempel. Er will dort den Menschen begegnen und vielleicht weiß er, dass die Menschen ihn brauchen. Er hatte die ganze Nacht auf dem Ölberg verbracht. Alleine? Höchstwahrscheinlich. Vielleicht brauchte er Zeit, Zeit für sich, Zeit für Stille. Früh am Morgen kommt er in den Tempel. Die Menschenmenge kommt zu ihm, und er setzt sich zu ihnen und lehrt sie. Was lehrt er sie? Wir wissen es nicht. Aber wir können es erahnen: Was könnte es anderes sein, als die Botschaft von der Liebe Gottes; die Liebe, die den Menschen, wie der Psalmist schreibt, aus der Grube des Verderbens, aus dem schmutzigen Schlamm, herauszieht und seine Füße auf einen Felsen setzt; die Liebe, die die Schritte des Menschen festigt und ihm ein neues Lied in den Mund legt, ein Lied des Lobes und der Dankbarkeit.

 

Jesus spricht aber nicht einfach über die Liebe, lehrt die Liebe nicht nur mit Worten, sondern durch sein Leben und Handeln. Die Liebe ist seine geheime Kraft, eine heilende und rettende Kraft. Denn die Liebe erlöst nicht nur den Geliebten, sondern auch den liebenden Menschen. Die Liebe, und nur die Liebe, ist fähig den Menschen aus seiner Einsamkeit und Traurigkeit herauszuholen, damit er sich in Liebe auf den anderen zubewegen kann. Und so verlässt Jesus den Berg, wo er allein war, und kommt zum Tempel, als freier Mensch, als liebender Mensch.

Und die Menschen hören ihm gerne zu. Wahrscheinlich hatten sie noch nie jemanden getroffen, der so reden, ihre Herzen derart mit seinen Worten berühren konnte wie er. Nach seinen Belehrungen gab es dann immer wieder eine Zeit der Stille; Zeit, um über die gesprochenen Worte nachzudenken, zu reflektieren.

Doch plötzlich entsteht eine Unruhe, ein Lärm, der die Stille durchbricht. Diejenigen, die saßen, um den Worten Jesu zu hören, setzen sich in Bewegung.

Einige Männer schubsen eine Frau auf verächtliche, erniedrigende Weise über den Hof des Tempels und wollen sie in die Mitte bringen, vor alle anderen, vor Jesus. Wer sind sie und was wollen sie von der Frau?

In ihren Gesichtern konnte man ihre bösen Absichten und ihre Überheblichkeit sehen. Sie hatten geheime Ziele und Kalküle, die sie nicht offenlegen wollten.

 

„Meister, diese Frau ist während der Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Im Gesetz aber hat uns Mose geboten, dass solche gesteinigt werden sollen. Was sagst nun du?“

 

Eine Frau, die beim Ehebruch ertappt wurde! Nun wird sie von einigen „frommen“ Männer, Schriftgelehrten und Pharisäer, herbeigeschleppt. Wie heißt sie? Wer hat sie ertappt und wo bleibt der Mann, der zu Ehebruch dazu gehört? Ist es nicht seltsam. dass der Ehebrecher nicht dabei ist? Die „Männer sind da solidarisch, den Kollegen haben sie wohl einfach entkommen lassen.“ Und die Frau wird entsprechend eingeordnet, in eine Kategorie eingepasst. Mose hat geboten, solche Frauen zu steinigen. „Auf Schwäbisch genügt da ein ‚sodde‘ und alles ist gesagt.“ (A. Conrad, A+B, Mai 2022)

 

Nun, alle sind gegen diese eine Frau, die Pharisäer und die Schriftgelehrten, Mose und das Gesetz, und mit ihnen die ganze Menschenmenge, die dort versammelt ist. Einen Moment lang schweigen alle. Niemand widerspricht der Anklage. Und das mitgelieferte Urteil bleibt im Raum stehen. Keiner wagt das Böse zu stoppen, das sich gegen die Frau richtet. Keiner wagt es, mitfühlend zu sein. Aber waren es nicht dieselben, die die Worte Jesu im Tempel über die Liebe Gottes zu allen Menschen, zu Gerechten und zu Sündern, zu Reichen und zu Armen gehört haben? Haben sie nicht begreifen können, dass derjenige, der einen Sünder nicht lieben und ihm nicht vergeben kann, niemanden lieben und niemandem vergeben kann? Alle, die dort in einem Kreis herumstanden, um Jesus in der Mitte, um die Frau bei ihm, sie alle schauen zu, viele murmeln bloß: Oh, was hat sie getan? Mit wem war sie zusammen? Wie konnte sie es wagen? Was ist mit ihrer Familie? Hat sie denn niemanden? Was für eine Schande?

 

Nur einer macht nicht mit. Jesus sieht die Frau an, nicht mit Zorn, sondern mit Mitleid, mit Erbarmen. Er sieht auch die Menschenmenge an, wahrscheinlich voll Enttäuschung. Sie sagen, sie seien rechtschaffen, aber ihre Rechtschaffenheit ist nur vorgetäuscht.

„Doch im Grunde geht es nicht [bloß] um die Frau. Es geht um Jesus und um eine Fangfrage an ihn: Soll das Urteil an einer Frau, die nach Moses Gesetz … den Tod durch Steinigung verdient hat, tatsächlich vollzogen werden?“ Wenn Jesus sagt „Nein, lasst die Frau gehen“, würde er als Irrlehrer beschuldigt werden. Und wenn er die Steinen fliegen lässt, wird seine ganze Rede über Liebe und Barmherzigkeit zum schönen, realitätsfernen Geschwätz. „Dann wäre er wohl kein Irrlehrer, doch ein Lehrer des schönen Scheins.“

 

Jesus lässt die Frage unbeantwortet. Er lässt sich nicht dazu verleiten eine der beiden verfänglichen Antworten zu geben. Er will eine andere Antwort geben als die Männer erwarten. Und so bückt er sich und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Wahrscheinlich ist es Staub, da die Szene im Tempel spielt.

 

Die Schrift im Staub wird als ein Zeichen der Nichtigkeit verstanden. Meint er damit, dass die buchstäbliche Durchsetzung des geschriebenen Gesetzes nichtig ist? Oder schreibt er vielleicht, um seine Hände für etwas anderes zu benutzen, als auf die Frau zu zeigen oder nach einem Stein zu greifen? Was auch immer die Bedeutung ist, eines ist klar: Jesus will den tödlichen Schwung abbremsen, die Dynamik des Bösen durchbrechen.

„Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie! Und er bückte sich wiederum nieder und schrieb auf die Erde.“

Das war’s. „Mehr als ein solch geisterfülltes Wort gibt’s nicht zu sagen.“ (A. Conrad) Die Worte Jesu verändern die ganze Szene. Durch seine Worte öffnet Jesus den Blick auf andere Lösungen, und in dem er sich nach seinem Satz ein zweites Mal bückt, um auf die Erde zu schreiben, öffnet er die Szene endgültig.

Angesprochen auf ihre eigenen Übertretungen und Abscheulichkeiten gehen die Menschen fort. Auch die scheinbar frommen Männer, die die Frau bestrafen wollten, verlassen den Ort, einer nach dem anderen. Sie machen von der Freiheit und Offenheit, die Jesus gewährt Gebrauch. Sie lassen die Steine fallen und mit den Steinen auch ihr Vorhaben. Sie verzichten auf ihre Macht und Kontrolle und lassen sich von Jesu Wort treffen. Sie erkennen, wie wenig sie sich erheben dürfen über die Frau in der Mitte. Wie sehr sie ihr gleichen.

„Und Jesus wurde allein gelassen, und die Frau, die in der Mitte stand. Da richtete sich Jesus auf, und da er niemand sah als die Frau, sprach er zu ihr: Frau, wo sind jene, deine Ankläger? Hat dich niemand verurteilt? Sie sprach: Niemand, Herr! Jesus sprach zu ihr: So verurteile ich dich auch nicht. Geh hin und sündige nicht mehr!“

 

Ich möchte, liebe Gemeinde, die heutigen Predigt mit Gebetsworten schließen:

 

Jesus Christus,

 

deine Liebe macht andere Lösungen für die Lebensstörungen möglich,

 

so dass wir nicht andere verurteilen müssen

 

und von anderen verurteilt werden müssen.

 

Deine Liebe öffnet neue Türen in unserem Leben

 

und lässt dein Licht eintreten,

 

so dass wir mit allen anderen friedlich zusammenleben können.

 

Deine Liebe befreit uns vom alten Leben,

 

holt uns aus unserer Einsamkeit heraus

 

und führt uns ins Offene,

 

sodass wir in allen anderen,

 

liebenswerte und erbarmenswerte Menschen sehen.

 

„Was betrübst du dich, meine Seele,

 

und bist so unruhig in mir?

 

Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken,

 

dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist“ (Ps.42). Amen.