Die Gemeinschaft der Menschen und die Einheit des Geistes

Die Gemeinschaft der Menschen und die Einheit des Geistes

 

(Epheser 4,1-6)

 

 

So ermahne ich euch nun, ich, der Gebundene im Herrn, dass ihr der Berufung würdig wandelt, zu der ihr berufen worden seid, indem ihr mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut einander in Liebe ertragt und eifrig bemüht seid, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens: Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, über allen und durch alle und in euch allen. Amen.

 

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Heute, liebe Gemeinde, möchte ich mit Ihnen bei einem Vers aus dem heutigen Predigttext verweilen: „eifrig bemüht seid, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens.“ Üblicherweise wird der Vers so verstanden, dass die Einheit des Geistes im Vordergrund steht und somit das Band des Friedens nur eine zweitrangige Rolle im Hintergrund spielt. Wenn wir aber diese Zeile nochmal aufmerksam lesen, oder hören: „eifrig bemüht seid, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens“, wird uns deutlich, dass der Satz eine andere, eine tiefere Bedeutung haben kann. Die Einheit des Geistes ist im und durch das Band des Friedens möglich. Es ist das Band des Friedens, das der Einheit des Geistes vorausgeht und für diese unerlässlich ist. Demnach kann man sagen, dass der Geist in allen Lebenszusammenhängen und Situationen, in denen das Band des Friedens fehlt, für sich keine Wohnung finden können und damit auch die Einheit des Geistes fehlen wird.

 

Was bedeutet aber das Band des Friedens und wie sollen wir uns bemühen, dieses Band, diesen Frieden zu bewahren?

 

Bedeutet den Frieden zu bewahren, dass wir es allen anderen Menschen recht machen müssen, um Frieden mit ihnen zu haben? In vielen Situationen lautet die Antwort nein. Zum Beispiel, wenn wir in einer Versammlung sind und von uns erwartet wird, über jemanden zu lästern. Dann sollten wir das nicht tun, auch wenn das Ergebnis nicht so ist, wie wir es uns gewünscht hatten.

 

In anderen Situationen wissen wir, dass andere Menschen unser Leben besonders schwer machen wollen und uns Stolpersteine in den Weg legen. Und dann muss man aufpassen, dass man nicht hinfällt. Man muss so wahrheitsbewusst sein, dass man zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Irrtum unterscheiden und dann die richtige Entscheidung treffen kann. Meistens wollen wir dann andere beschuldigen und verurteilen, wegen all des Schmerzes und der Schwierigkeiten, die sie in unserem Leben verursacht haben. Und dann entsteht eine Art von Bitterkeit in der Beziehung, die gar nicht so leicht zu beseitigen ist. Können wir trotz allem denen vergeben, die uns Stolpersteine in dem Weg gelegt haben? Dazu gehört eine Menge Mut. Die Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind, mit all den Fehlern, die man manchmal sieht und unter denen man leidet. Wissend, dass niemand ohne Fehler ist. Und sie dann mit der Liebe zu lieben, die Gott uns schenkt und ihnen eine neue Chance zu gewähren. Das ist die Herausforderung, das Band des Friedens zu bewahren.

 

Das Band des Friedens zu bewahren ist dann eine schwierige Aufgabe und meistens scheitern wir daran. Man könnte sagen, dass die Suche nach Frieden ein Lebensauftrag ist, denn wir werden immer wieder mit Ereignissen konfrontiert, die den Frieden zerstören, und dann gelangen wir zu dem Schluss, dass vollkommener Frieden in dieser Welt nicht erreicht werden kann.

 

Und doch, wann immer es uns gelingt, ein Band des Friedens zwischen dir und mir zu knüpfen, macht dies es für uns möglich, dass der Heilige Geist kommt und unter uns wohnt. Der Friede ist also der Ausgangspunkt. Der Weg des Geistes beginnt mit Frieden und findet in Frieden seine Erfüllung. Frieden macht die Einheit des Geistes, das Miteinanderleben, das Miteinander-eins-sein möglich und das ist genau was wir im christlichen Sinne des Wortes Leib Christi nennen. Denn der Leib Christi ist ein geistlicher, spiritueller Leib. Und die Zugehörigkeit zum Leib Christi ist eine spirituelle, geistliche Zugehörigkeit.

 

Als religiöser Mensch könnte man meinen, dass man eher mit dem Geist beginnen sollte, oder mit einer Art spiritueller, jenseitiger Erfahrung, einer Erfahrung, die jedoch die Tendenz hat, die Notwendigkeit des Friedens mit allen anderen außer Acht zu lassen. Aber das ist ein Missverständnis von Glaube und Religion. Der christliche Glaube beginnt immer mit Frieden, mit Liebe, Vergebung und Demut. Und der Geist kann nicht von oben, vom Himmel oder sonst woher erfahren werden, sondern immer von unten, aus der Welt, von unserer menschlichen Existenz und unserem Sein. Und zum Geist gelangen wir insofern, als wir uns langsam erheben oder hinüberbewegen können von unserem Schmerz, vom Leid, von der Einsamkeit zu dem, was wir Gott oder Liebe nennen, in dem unser Schmerz Ruhe und das Leid Trost findet. Um dies mit einem Bild zu erklären, können wir uns einen Menschen vorstellen, der zunächst in der Lage sein sollte, auf beiden Beinen aufrecht zu stehen, so dass er seinen Kopf nach oben bewegen und mit den Augen zum Himmel und seiner Schönheit schauen kann. Und wenn man den Himmel länger betrachten möchte, sollte man sich auf die Erde legen und das tun. Der Mensch ist ein irdisches Wesen und doch kann er von der Erde aus, den Himmel schmecken.

 

Andere Wege, die behaupten, den Geist auf wundersame Weise von oben herab zu erfahren, sind meist irreführend. Die frühen griechischen Kirchenväter sagten es richtig, dass der Glaube ein Weg des Bergansteigens ist, von unten nach oben so ähnlich wie ein Berg zu besteigen. Alle Erfahrungen des Geistes beginnen mit der Vergebung eines kleinen Versehens eines Freundes, beginnen mit Liebe, mit Aufopferung, mit Verzicht auf das Materielle und Hingabe des Selbst, damit der Geist unter uns wohnen und gedeihen kann. Dies ist der schmale Weg, der schwierige Weg im Leben, denn wir gelangen zur Einheit des Geistes nicht, wenn wir nicht durch Dornen gehen, wenn wir nicht über Steine auf unserem Weg stolpern. In diesem Sinne hat Spiritualität keinen mythischen oder wundersamen Charakter, in dem Sinne, dass der Glaube übernatürliche Ereignisse herbeiführen soll. Sondern der Glaubende erfährt in den kleinen Gaben der Liebe und Verzeihung die Wunder Gottes.

 

In unserer heutigen Welt besteht eine weitere Gefahr, den Geist und die Spiritualität falsch zu interpretieren. „Spiritualität“ und Meditation werden heutzutage zu einem beliebten Trend in der Gesellschaft und werden allgemein als nützlich für den menschlichen Geist und Körper angesehen, um Stress abzubauen, die Konzentration zu verbessern. Spiritualität im christlichen Sinne hat mit dieser Art von Meditationen und Rituale wie Yoga nicht viel zu tun.

 

Was aber ist dann der Unterschied zwischen den beiden? Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass bei solchen Praktiken der Mensch selbst im Mittelpunkt steht und das Endziel eine bessere Wirkung des Selbst in der Welt ist. Das ist an sich natürlich nichts Schlechtes, aber für den christlichen Glauben und die christliche Spiritualität ist das nicht ausreichend. Christliche Spiritualität beruht auf Demut und Sanftmut, auf Geduld und Nachsicht in der Liebe, wie uns der heutige Predigttext sagt. Für die christliche Spiritualität ist natürlich der Mensch wichtig, aber die Entfaltung des menschlichen Selbst kann nicht ohne den anderen und ohne Gott erfolgen. Deshalb ist der andere notwendig, um man selbst sein zu können. Ich kann nicht der werden, der ich bin, und die Erfüllung meines Selbst erreichen, indem ich zu Hause irgendwelche Übungen oder Rituale mache. Ich muss hinausgehen. Ich muss den Armen begegnen und das, was ich habe, mit ihnen teilen. Ich muss meinem Feind verzeihen können und demjenigen weitergeben, der mir etwas weggenommen hat. Und nur dann werde ich wahrhaftig den Frieden erfahren, nicht bloß im Sinne eines privaten Friedensgefühls, das solche Rituale in mir schaffen können, sondern ein Frieden, die die Einheit des Geistes mit anderen ermöglicht.

 

In diesem Sinne können wir die heutige Schriftlesung aus dem Matthäusevangelium (17,1-13) verstehen. Jesus nimmt Petrus, Jakobus und Johannes mit sich, seine engsten Freunde, und führt sie allein auf einen hohen Berg. Dort wird er verklärt und seine Herrlichkeit wird offenbar. Sein Angesicht leuchtet wie die Sonne, und seine Kleider werden weiß wie das Licht. Die so genannte Transfiguration, oder Verklärung Jesu, konnte wohl nirgendwo anders auftreten, wo der Frieden fehlte. Nur im engeren Freundeskreis konnte Jesus das sein, was er ist, so hell und voller Licht.

 

Dort schlägt Petrus vor, dass sie da bleiben, hoch oben auf dem Berg. Er könnte drei Hütten bauen, für Mose, Elia und für Jesus, sodass sie nicht wieder herunterkommen sollen, an einen Ort, an dem Konflikte und sogar der Tod drohen könnte. Niemand sollte sie stören, niemand durfte ihnen diese Momente der Freude wegnehmen. Manchmal ist es auch bei uns so, dass wir wollen, dass die Zeit mit Freunden oder Geliebten Menschen nie zu Ende geht. Jesus aber geht hinunter. Er weiß, dass nicht nur wenige, sondern mehr zu dieser Gemeinschaft gehören. Auch diejenigen, mit denen er damals in Konflikt geriet, und diejenigen, die ihn quälen lassen wollten. Auch diese gehören zu ihm und er zu ihnen.

 

In diesem Sinne, liebe Gemeinde, lese ich die Worte Paulus wieder und damit schließe ich die heutige Predigt: „eifrig bemüht seid, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens.“ Amen.

 

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Gott, unser Vater,

 

wie sehr die Welt in diesen Tagen deinen Frieden braucht,

 

wie sehr die Menschen verwirrt sind und Trost und Zuversicht suchen.

 

Du bist es, der uns Frieden schenkt,

 

du bist der, in dem unser Geist ruht.

 

Komm heute und jeden Tag zu uns

 

und hilf uns, aus unseren Ängsten, unseren Sorgen herauszukommen,

 

hilf uns, aus unserem verschlossenen Selbst herauszutreten.

 

 

 

Wir danken dir, Gott, für Familie und Freunde,

 

für die Gemeinschaft der Menschen, bei denen wir so sein können, wie wir sind.

 

Wir danken dir für all die Freuden und die Sorgen, die wir teilen können.

 

Komm und sei Teil unserer Zusammenkunft,

 

sprich mit uns, lehre uns und hilf uns, dich zu sehen,

 

dein Licht zu schauen, deine Herrlichkeit zu spüren.

 

Schenke uns deinen Geist, den Geist der Wahrheit und der Freiheit.

 

Hilf, dass wir unsererseits dein Licht in die Welt tragen können.

 

 

 

Gott, Vater aller Menschen,

 

wir beten heute für alle, die ihre Heimat und ihre Familien verlassen mussten,

 

für alle Opfer von Naturkatastrophen,

 

für alle, die einsam sind und keine Freunde oder Familie haben.

 

Hilf uns, unseren Teil zum Wohlergehen der anderen beizutragen,

 

nicht zu zögern, nicht zu resignieren.

 

Du bist Gott unsere Hoffnung, unsere Heimat, unser Zuhause.

 

Hilf uns und allen, den Weg zu dir zu finden. Amen.

 

 

 

 

 

Sylvie Avakian