Mit Sorgfalt wandeln

Mit Sorgfalt wandeln

(Epheser 5,15-20)

 

 

„Seht nun darauf, wie ihr mit Sorgfalt wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise;

 

16 und kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse. Darum seid nicht unverständig, sondern seid verständig, was der Wille des Herrn ist! Und berauscht euch nicht mit Wein, was Ausschweifung ist, sondern werdet voll Geistes; redet zueinander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern; singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen; sagt allezeit Gott, dem Vater, Dank für alles, in dem Namen unseres Herrn Jesus Christus“.

 

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Sorgfältig gehen. Was würde das bedeuten? Es gibt mehrere Hinweise im Text, wie das gelingen könnte. „… wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise; und kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse … seid verständig, was der Wille des Herrn ist!“

Wie sollen wir aber wissen, was der Wille des Herrn ist, sodass wir auch sorgfältig im Leben wandeln können? Mir scheint, der Schlüssel zu all dem liegt in einer einzigen Aussage des Apostels, besteht aus drei Worten im Text: „werdet voll Geistes“.

Der Geist ist, liebe Gemeinde, ein inneres Prinzip, das anders ist als das Prinzip der Welt. Ich möchte an die beiden Kreise erinnern, die wir letzten Sonntag gezeichnet haben: Der große Kreis war der Kreis der Welt, in der wir leben: Wir treffen Menschen, wir sehen die Dinge, die uns umgeben, wir arbeiten und tun viele Dinge. Deshalb haben wir diesen Kreis auch die Sphäre des „Tuns“ genannt. Dies ist die greifbare Welt. Wir können alles sehen, anfassen, hier haben wir Fakten und die Fakten sprechen. In dieser Welt ist der Mensch fast wie alle anderen Dinge oder Wesen, die ihn umgeben, mit dem einzigen Unterschied, dass er ein denkendes Wesen ist; ein Wesen, das durch seinen Verstand andere Dinge kontrollieren und sie zu seinem eigenen Vorteil nutzen kann. Der zweite Kreis, den wir gezeichnet haben, war der kleinere Kreis innerhalb des Großen. Dieser Kreis steht für unser inneres Wesen. Innerhalb dieses kleinen Kreises ist nichts zu sehen. Es ist unsere innere Welt, unsere Gefühle, unsere Wünsche, Hoffnungen und Träume. Es ist innerhalb dieses kleinen Kreises, dass der Geist herrschen kann. Der Wohnort des Geistes ist also unsere innere Welt. Und der Geist ist uns gegeben. Die Frage ist dann, ob wir uns des Geistes bewusst sind und wie sehr wir uns vom Geist leiten lassen.

 

Wenn wir uns des Geistes in uns und der Kraft des Geistes nicht bewusst sind, werden wir denken, dass wir in dieser Welt mit unseren Hoffnungen und Enttäuschungen allein gelassen sind. Wir werden dann alle von außerhalb unseres Seins verordneten Regeln befolgen müssen und jeden unserer Fehler fürchten, der unsere Existenz in der Welt gefährden könnte. Ohne uns der Kraft des Geistes bewusst zu sein, werden wir als Lebewesen ohne Geist leben, das allein den Prinzipien der Welt unterworfen ist. Im Gegensatz dazu, wenn wir uns des Geistes in uns bewusst sind und dem Geist erlauben, uns zu leiten, dann werden nicht die Fakten der Welt, nicht die Art und Weise, wie alles in der Welt sein sollte, nicht die konventionellen Lebenseinstellungen und nicht die menschlichen Berechnungen für ein besseres Leben, sondern der Geist uns herausfinden helfen, was wir tun und wie wir leben sollen.

 

Es genügt also nicht, sich des Geistes bewusst zu sein, sondern wir müssen den Mut haben, uns vom Geist leiten zu lassen, uns von ihm zeigen zu lassen, wie wir sorgfältig im Leben wandeln können.

Und wie geschieht das? Wie kann ich mich vom Geist leiten lassen? „Seht nun darauf, wie ihr mit Sorgfalt wandelt“. Wir nehmen dafür das Beispiel des Gehens wörtlich. Ohne die Hilfe des Geistes werde ich überall meine Gedanken, meine Überzeugungen, die Geschichte meiner Beziehungen zu anderen in mir tragen. Ich werde bestimmt einen Grund haben, um zu gehen, vielleicht möchte ich an einem bestimmten Ort ankommen, vielleicht bei der Arbeit, oder in einem Restaurant, oder ich möchte einfach nur einen Spaziergang machen. Und wenn ich dann plötzlich auf meinem Weg eine Person treffe, die in Not ist, werde ich die Person wahrscheinlich nicht sehen können. Der Grund dafür ist, dass ich so sehr mit der Welt der Dinge beschäftigt bin, oder in der Welt der Dinge gefangen bin, dass ich für die Not einer Person nicht mehr die Zeit habe. Ich habe Dinge zu tun und Ziele zu erreichen. Das Beispiel des barmherzigen Samariters trifft genau den Punkt hier.

 

Ein Mensch fiel unter die Räuber, die ihn halb tot auf die Straße liegen lassen. Ein Priester geht dieselbe Straße. Er sieht ihn und trotzdem ging er auf der anderen Seite vorüber. Das gleiche macht ein Levit, der für den Tempeldienst zuständig wäre. Beide Männer helfen dem halbtot daliegenden Menschen nicht. Wahrscheinlich waren sie so sehr mit den Gesetzen und ihren Aufgaben in dieser Welt beschäftigt, dass sie dem Bedürftigen nicht helfen konnten. Und dann kommt ein Samariter. Er hatte sicherlich auch einen Grund oder einen Ort, den er erreichen wollte, zumal lesen wir im Evangelium, dass er auf Reisen war. Das ist ein zusätzlicher Druck, wenn jemand auf Reisen ist. Trotzdem sieht er die Person in Not. Verbindet er ihm die Wunden und pflegt ihn. Aus welchem Grund konnte dieser barmherzige Samariter sorgfältig gehen, während die beiden anderen das nicht tun konnten?

 

Was ich heute sagen möchte, liebe Gemeinde, ist, dass der Heilige Geist uns einen zusätzlichen Sinn in uns verleiht, zusätzlich zu unseren fünf Sinnen, die wir alle haben. Und durch diesen Sinn können wir anders sehen und anders leben. Was ist denn dieser zusätzliche Sinn? Ich würde es heute als Gefühl bezeichnen. Das ist aber nicht bloß ein emotionales Gefühl in uns, dass wir gegen etwas empfinden, und dann kann das Gefühl auch wieder verschwinden. Sondern mit Gefühl ist hier das Denken des Herzens und das Sehen des Herzens gemeint. Durch dieses Gefühl können wir mehr sehen, als das bloße Auge sieht, und es ist durch dieses Gefühl, dass wir sorgfältig im Leben gehen können und den Willen Gottes für uns erkennen können.

Paulus schreibt weiter: „kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse“. Dieses Verb „auskaufen“, oder „loskaufen“ [griechisch exagorazō], sollen wir im ursprünglichen Kontext der spätantiken Sklavenmärkte verstehen. Dort bezeichnete das Verb den Vorgang, bei dem eine entsprechende Geldsumme bezahlt wird, damit ein Sklave aus dem Sklavenstand in die Freiheit entlassen wird. Im Kontext unseres Textes sollte es etwa so heißen: Wenn wir wissen, wie wir unsere Zeit nutzen, d.h. wenn wir unterscheiden und auswählen können, was wichtig und gut ist, und den richtigen Moment für das Richtige ergreifen, so dass eine Veränderung in unserem Leben oder im Leben unserer Mitmenschen eintritt, ohne Zögern oder Angst, dann ist dies eine Erfahrung, die der Erfahrung der Befreiung eines Sklaven ähnelt. Es ist eine Erfahrung von Freiheit, ein Moment des Kairos, des Himmels hier auf der Welt. Durch den Geist, der derselbe Geist Christi ist, werden wir von aller Versklavung und allen Fesseln im Leben befreit. Der Augenblick, in dem der Samariter dem verletzten Mann half, ist ein Augenblick des Kairos, in dem das Licht der Ewigkeit in der Welt aufleuchtet. Es ist ein Moment, der dem Guten dient.

 

In diesem Sinne hat die Aufforderung, die Zeit gut zu nutzen, hier eher eine quantitative Dimension als eine qualitative, im Sinne von Zeit sparen oder mehr Zeit für sich selbst haben. Normalerweise versuchen wir das Letztere zu tun: Zeit zu sparen und dann etwas Zeit für uns selbst zu haben, und die Herausforderung hier ist, diesen Moment der Freiheit zu haben, eine Erfahrung, die nicht zur Welt gehört, die es uns ermöglicht, aus der „bösen Zeit“ heraustreten zu können. Wir werden uns von der Sphäre des Tuns in die Sphäre des Seins und des Lichts bewegen, sodass wir nicht nur über Licht und Freiheit hören, sondern diese werden können.

Das ist dann auch eine Art des sorgfältigen Gehens, denn der Geist ist es, der uns zur Freiheit führt. In diesem Sinne sagen wir, dass der Geist uns Freiheit schenkt; Freiheit das zu tun und zu sein, was durch und durch eine befreiende Wirkung hat, wie uns der Geist führt, „in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten“ wie auch Paulus schreibt und wir in der Schriftlesung gehört haben. „Als »Verführer« und doch wahrhaftig, als Unbekannte und doch wohlbekannt, als Sterbende — und siehe, wir leben; als Gezüchtigte, und doch nicht getötet; als Betrübte, aber immer fröhlich, als Arme, die doch viele reich machen; als solche, die nichts haben und doch alles besitzen.“ Amen.

 

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Gott, unser Vater,

 

wir kennen dich als Vater, Sohn und Heiligen Geist.

 

Du warst ganz am Anfang von allem,

 

Du hast die Gestalt eines Menschen angenommen

 

und bist in Jesus Christus zu uns gekommen.

 

Hilf uns, Gott, dass auch wir wie deine Söhne und Töchter leben.

 

Durch deinen Geist wohnst du in jedem einzelnen von uns.

 

Hilf, dass wir sorgfältig leben und die Wege unseres Lebens

 

mit Weisheit und Wachsamkeit gehen können.

 

 

 

In dieser Welt sind wir nicht alleingelassen.

 

Dein Geist ist mit uns, ist in uns.

 

Er stärkt uns, er tröstet uns, wenn wir Beistand brauchen.

 

Mach uns dies bewusst,

 

damit wir die Stimme des Geistes hören und seinem Rufen folgen.

 

In dieser Welt sind wir nicht alleingelassen.

 

Es sind Menschen in unserer Mitte, Menschen mit Leben und Licht,

 

durch sie kommst du zu uns,

 

in ihren Gesichtern können wir dein Licht sehen,

 

und in ihren Nöten deine Zerbrechlichkeit.

 

Menschen, in denen dein Geist wohnt,

 

Menschen, die du geehrt und gewürdigt hast.

 

Hilf uns, das Gleiche zu tun.

 

Hilf uns, andere zu lieben und zu unterstützen, ohne Bevorzugung,

 

ohne Selbstsucht,

 

Menschen anderer Nationalitäten, anderer Länder, anderer Farben, anderer Rassen.

 

Bewahre die Welt in deiner Fürsorge, unser Gott, und hilf uns, das Gleiche zu tun.

 

 

 

 

 

Avakian

 

15.10.2022