„Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz“

 „Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz“

 

(Hohes Lied 8,6-7)

 

Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm! Denn die Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer unbezwinglich wie das Totenreich; ihre Glut ist Feuerglut, eine Flamme des HERRN.

 

Große Wasser können die Liebe nicht auslöschen, und Ströme sie nicht ertränken. Wenn einer allen Reichtum seines Hauses um die Liebe gäbe, so würde man ihn nur verachten!

 

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Liebe Gemeinde, das Buch „Hohes Lied“ im Alten Testament erscheint in der Bibel ein wenig seltsam. Es ist ein Buch mit 8 Kapiteln, das aus Liebesliedern besteht; eine Gedichtsammlung oder Liebesliedersammlung unter dem Titel „Lied der Lieder“, was im hebräischen Kontext das größte Lied bedeuten würde, also übersetzt „das Hohelied“. Eine junge Frau und der Mann, mit dem sie höchstwahrscheinlich verlobt war, ein Hirte, sind die Ersteller der Lieder. Bei der Lektüre der Lieder fällt die starke Sehnsucht der beiden nacheinander auf, eine Sehnsucht, die sich im ständigen Suchen und Finden des anderen ausdrückt.

 

„Denn die Liebe ist stark wie der Tod“. Wie können wir diese Worte verstehen? In der griechischen Übersetzung der Bibel wird die Liebe, die im Hohelied besungen wird, mit ἀγάπη übersetzt. Sie wird also im Sinne der göttlichen Liebe verstanden, oder der bedingungslosen Nächstenliebe, die der Apostel Paulus im 13. Kapitel seines 1. Korintherbriefes bescheibt, wie wir in der Schriftlesung heute gehört haben. Daher können Sie in dieser Predigt über die Liebe in all den verschiedenen Kontexten nachdenken, in denen Sie sie in Ihrem Leben erfahren, sei es gegenüber Partnern oder Kindern, sei es gegenüber Fremden oder gegenüber Gott.

 

Jedes Mal, liebe Gemeinde, wenn wir lieben, wenn wir Gott lieben, oder andere Menschen, befreit uns die Liebe von unserer Verloren-sein in der Welt der Dinge. Jedes Mal, wenn wir lieben, verleiht uns die Liebe Sinn und Bedeutung im Leben und damit finden wir uns selbst. Durch die Liebe kommen wir bei uns selbst an. Die Liebe befreit uns von den Fesseln der Welt. Sie erhebt uns und stellt uns in unser wahres Selbst zurück, so dass wir, wenn wir in der Liebe verweilen, in unserem Herzen zu einem liebenden Menschen heranwachsen. Die Liebe erhebt und befreit jeden einzelnen von uns und macht uns zu liebenswerten Menschen. Die Liebe wirkt also in zwei Richtungen. Erstens gibt die Liebe uns selbst Wert und Sinn, Licht und Glanz im Leben, so dass wir unsererseits andere lieben und ihnen helfen können, das glimmende Licht, das ihnen im Herzen geschenkt wurde, bewusst zu leben.

 

Die Liebe ist wie das Hören einer Musik, die uns durch ihre Höhen und Tiefen, wie die Wellen eines Flusses, zu den schönen Erinnerungen und auch zu den Versäumnissen der vergangenen Jahre bringt. Sie nimmt dich mit in die Zukunft und in die Träume deines Herzens. Aber wie kann die Liebe das alles überhaupt tun?

 

Die Liebe ist, liebe Gemeinde, ganz und gar die Liebe zum anderen, und zugleich eine uneingeschränkte Liebe zu sich selbst. Man will alles für den Geliebten geben, und indem man alles gibt, wird man zu dem, was man ist. Und erst dann erkennt man, dass die Liebe der einzige Weg ist, man selbst zu sein.

 

„Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz“, damit ich nicht vergessen werde; „wie ein Siegel an deinen Arm“, damit ich leben und sein kann. Du willst dann immer mehr lieben und in der Liebe versinken, denn in ihr findest du dein verlorenes Selbst; das Selbst, das oft in der Menschenmenge und dem Lärm dieser Welt und des täglichen Lebens verloren geht. Denn in dem Anderen siehst du deine unerfüllten Träume, als ob ein Teil von dir erfüllt wird, ein Teil, den zu verwirklichen, du sonst nie die Chance hattest. Aber jetzt siehst du ihn, er wird Realität, er lebt und wächst durch deinen Geliebten, wie ein neugeborenes Kind, oder ein Bäumchen, das wächst und seine Zweige ausbreitet. Und doch willst du das Heranwachsen seiner Äste und Zweige nicht stören, auch wenn sie sich nicht mit deinen decken.

 

Die vielleicht beste Liebesgeschichte in der Bibel ist die Geschichte vom verlorenen Sohn. Der Sohn will seinen Vater verlassen und in ein fernes Land ziehen, wo er das Leben allein, vielleicht mit Freunden, genießen will. Nachdem er seinen Anteil am Erbe seines Vaters erhält, verlässt er sein Zuhause. Doch schon bald gibt er sein ganzes Geld aus, um sich mit „Freunden“ zu vergnügen. Irgendwann entscheidet er sich, nach Hause zurückzukehren, wahrscheinlich, weil er keine andere Wahl hatte. Er will seinen Vater um Vergebung bitten. Doch als er noch weit weg war, sah ihn sein Vater, lief herbei, umarmte seinen Sohn und feierte seine Rückkehr.

 

Die Geschichte vom verlorenen Sohn wird immer erzählt, um die Liebe und Vergebung des Vaters zu betonen. Aber heute wollen wir uns die leidenschaftliche Seite dieser Liebe anschauen. Aber warum Leidenschaft, kann denn Liebe ohne Leidenschaft nicht Liebe sein? Wahrscheinlich nicht. Wissen Sie, warum Leidenschaft wichtig ist? Weil man irgendwann feststellt, dass man den anderen braucht, um zu existieren, um der zu sein, der man ist. Und hier können wir versuchen, über das Wort „Leidenschaft“ nachzudenken. Sie ist das wahre Glück, für das man sogar bereit wäre zu leiden. Das französische Wort „passion“ kann sowohl „Leiden“ als auch „Leidenschaft“ bedeuten. Liebe hat etwas mit Leid zu tun. Man liebt und leidet und doch dieses Leid hat eine heilende Wirkung. Es ist wie das Leiden Jesu am Kreuz, und deshalb nennen wir es die „Passion Christi“. Der Vater wusste, dass er ohne den Sohn kein Vater sein kann. Erst wenn der Sohn zurückkehrt, wird er wieder Vater sein können. Und so setzt sich der Vater über alle Berechnungen der Gesellschaft hinweg, über alle wirtschaftlichen Kalküle, über alle Erbschaftsregelungen dieser Zeit. Er wusste, dass die Liebe nicht käuflich ist, wie der Predigttext heute uns sagt: „Wenn einer allen Reichtum seines Hauses um die Liebe gäbe, so würde man ihn nur verachten!“

 

Der Vater missachtet auch sein Stolz, den ein Vater damals wahrscheinlich als angesehene Person in einer traditionellen Gesellschaft des Ostens hatte. Er rennt zum Sohn. „Was für eine Schande!“, würden andere sagen? Ja, es ist eine Schande für die Augen, die von außen zuschauen, aber es ist Liebe für ein Herz, das für den anderen brennt. Und so ähnlich wie in den Gedichten des alttestamentlichen Buches sehnt sich der Vater in dieser Geschichte nach dem Sohn. Er sucht ihn und findet ihn und nimmt ihn in die Arme, wohl wissend, dass man in jeder Liebe sich selbst sucht und dies im anderen findet.

 

Was ist also Liebe? Die Liebe ist das Feuer, das Brennen im Herzen. Es ist die Leidenschaft, dem geliebten Menschen zu begegnen und ihn mit der mächtigen Flamme des Herzens zu empfangen, wie es der Vater in der Geschichte tut. Nicht einmal der Tod oder die chaotischen Mächte der reißenden Wasser und Ströme können das Feuer der Liebe auslöschen.

 

Die Liebe ist wie ein Stern am Himmel. Immer, wenn uns die Dunkelheit im Leben umgibt und wir keinen Ausweg mehr finden, erhellt sie unseren Weg und führt uns nach Hause, wo wir hingehören.

 

Die Liebe ist wie ein Walzertanz. Der Mensch bewegt sich in Liebe einen Schritt vorwärts, auf den anderen zu, und dann wieder zurück, damit der andere zu ihm kommt, und mit einigen Schritten kommt man wieder an demselben Punkt an, und man beginnt die Runde wieder und wieder, jedes Mal mit neuer Hoffnung; einer Hoffnung, die nur möglich ist, weil man lieben kann.

 

Es wäre, liebe Gemeinde, nicht richtig zu sagen, dass die Liebe vor allen Gefahren dieser Welt geschützt ist. Die Aussage, dass, da Gott die Liebe ist, alle, die lieben, in einer gewissen Sicherheit sind, ist nicht wörtlich zu nehmen. Die Geborgenheit der Liebe ist eine Geborgenheit im Herzen. Es ist eine andere Art von Sicherheit als die, die diese Welt bietet. Die Geborgenheit der Liebe ist allen Risiken und Gefahren dieser Welt ausgesetzt. Denn die Liebe wird nicht immer gewürdigt und verstanden. Sie wird oft durch die Berechnungen und Pläne dieser Welt ersetzt; Strategien und Überlegungen, die im Namen der „Liebe“ die Risiken und Gefahren im Leben vermeiden wollen. Und es ist in diesem Sinne, dass wir, liebe Gemeinde, sagen: Jesus ist für uns das Siegel der Liebe, das wir im Herzen tragen.

 

„Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm! Denn die Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer unbezwinglich wie das Totenreich; ihre Glut ist Feuerglut, eine Flamme des HERRN.“ Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

30.10.2022