Zum Volkstrauertag

Zum Volkstrauertag

(Lukas 21,5-9; 12-19)

 

„Und als einige von dem Tempel sagten, dass er mit schönen Steinen und Weihegaben geschmückt sei, sprach er: Es wird die Zeit kommen, in der von dem allen, was ihr seht, nicht ein Stein auf dem andern gelassen wird, der nicht zerbrochen werde.

Sie fragten ihn aber: Meister, wann wird das geschehen? Und was wird das Zeichen sein, wenn das geschehen wird? Er aber sprach: Seht zu, lasst euch nicht verführen. Denn viele werden kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin's, und: Die Zeit ist herbeigekommen. – Lauft ihnen nicht nach! Wenn ihr aber hören werdet von Kriegen und Unruhen, so entsetzt euch nicht. Denn das muss zuvor geschehen; aber das Ende ist noch nicht so bald da.

 Aber vor diesem allen werden sie Hand an euch legen und euch verfolgen und werden euch überantworten den Synagogen und Gefängnissen und euch vor Könige und Statthalter führen um meines Namens willen. Das wird euch widerfahren zu einem Zeugnis. So nehmt nun zu Herzen, dass ihr euch nicht sorgt, wie ihr euch verteidigen sollt. Denn ich will euch Mund und Weisheit geben, der alle eure Widersacher nicht widerstehen noch widersprechen können. Ihr werdet aber verraten werden von Eltern und Geschwistern, Verwandten und Freunden; und sie werden einige von euch zu Tode bringen. Und ihr werdet gehasst sein von jedermann um meines Namens willen. Und kein Haar von eurem Haupt soll verloren gehen. Seid standhaft, und ihr werdet euer Leben gewinnen.“

 

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Als Jesus einmal im Tempel war und dort die Händler und die Wechsler fand, trieb er alle zum Tempel hinaus und schüttete den Wechslern das Geld aus und stieß die Tische um. „Da antworteten nun die Juden und sprachen zu ihm: Was zeigst du uns für ein Zeichen, dass du dies tun darfst? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ (Johannes 2, 18-19) Ich möchte heute, liebe Gemeinde, mit Ihnen über die zwei Tempel nachdenken, die in den Worten Jesu impliziert sind: „Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Welchen Tempel meinte Jesus, der niedergerissen und der in drei Tagen wieder aufgerichtet werden könnte?

 

Der Tempel in der Zeit Jesu war der zweite Jerusalemer Tempel. Dieser wurde von den aus dem Exil zurückgekehrten Juden im 6.Jahrhundert v. Christus errichtet. Ca. 20 v. Christus begann Herodes, König von Roms Gnaden, eine grundlegende Umgestaltung des Tempels und machte daraus einen prächtigen Tempel, geschmückt mit schönen Steinen und Weihegaben. Wir haben im heutigen Predigttext aus Lukas Evangelium gelesen: Als Jesus den Tempel sah sprach er: „Es wird die Zeit kommen, in der von dem allen, was ihr seht, nicht ein Stein auf dem andern gelassen wird.“ Wahrscheinlich hat Lukas diese Worte nach der Eroberung Jerusalems im Jahr 70 und der Zerstörung des Tempels geschrieben. Und natürlich können wir heute fragen: Warum hatte Jesus diese Vorstellung, dass kein Stein auf dem andern gelassen werden wird. Wahrscheinlich hat Jesus sehen können, dass etwas Wichtiges im Tempel fehlt. Aber was ist es das fehlt? Ich möchte den Tempel heute als den Tempel unseres Lebens verstehen. Jeder von uns hat seinen eigenen Tempel im Leben. Dazu gehört das eigene Zuhause, das eigene Hab und Gut und die engen Familienglieder oder Freunde, mit denen man sich sicher und glücklich fühlt. Jeder von uns opfert Zeit und Mühe, lernt und arbeitet, um seinen eigenen Tempel im Leben zu bauen, in dem er sich sicher fühlen kann. Und die Frage, die ich heute stellen möchte: Reicht es uns, wenn wir unseren eignen Tempeln bauen? Reicht es, wenn ich einen prächtigen Tempel habe mit schönen Steinen geschmückt, nämlich, wenn ich alles habe, was ich brauche, sodass ich nie Not und nie die Mühsale des Lebens erfahre?

 

Den eigenen Tempel zu bauen ist, liebe Gemeinde, ein menschlicher Instinkt. Dieser Instinkt kann uns aber in die Irre führen, wenn wir denken, dass wir im Leben nur unseren Tempel errichten sollen ungeachtet der Bedürfnisse und des Wohlergehens anderer Menschen. Viele, die die Länder regieren, waren und sind bis heute nur mit dem eigenen Tempel und eigenem Reichtum beschäftigt. Sie wollten und wollen ihren Tempel und ihr Reich vergrößern und dadurch ihre Macht und Dominanz beweisen. Viele Menschen in der Vergangenheit haben Kriege geführt, Völker vernichtet, andere Menschen ihrer Häuser beraubt und ihnen ihre Heimat aberkannt nur für ein Ziel, nämlich einen größeren Tempel und Reichtum für sich zu bauen. Gewalt, Zwang, Abschiebung und Vernichtung haben im Laufe der Geschichte und bis zum heutigen Tag viele Gesichter gehabt. Viele Machthaber wollten, dass sie allein in der Welt herrschen. Die Machthaber und Gewaltherrscher der Welt wollten, dass sie allein Entscheidungen auch für viele andere Menschen und Völker treffen. Mehr Kraft, mehr Macht und größere Kontrolle über die Erde und ihre Bewohner war und ist das einzige Ziel. Und Jesus sprach: Es wird die Zeit kommen, in der von dem allen, was ihr seht, nicht ein Stein auf dem andern gelassen wird.“ Aus den Worten Jesu wissen wir heute, liebe Gemeinde, dass den eigenen Tempel zu bauen und damit die eigene Komfortzone zu sichern, uns nicht reicht und dass uns etwas wesentliches fehlen wird. Der zweite Tempel, der in den Worten Jesu impliziert ist, ist sein Leib. „Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ So redet Jesus im Johannesevangelium über den Tempel seines Leibes, der am Kreuz gebrochen wird; er redet von dem Leib, den er hier in der Welt hatte, und aber auch von seinem geistlichen Leib, der immer noch lebt. Leib und Geist sind immer verbunden und gehören zusammen. Heute möchte ich mir, liebe Gemeinde, den Leib Christi als die ganze Menschheit vorstellen. So lesen wir auch im ersten Brief des Paulus an die Korinther: „Denn wie der Leib einer ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus.“ (1.Kor.12, 12)

 

Heute geht es mir nicht um Nationalitäten und nicht um Religionen. Es geht mir heute um Menschen und das Menschenrecht, ein freies und würdiges Leben zu führen. Rund 17 Millionen Menschen wurden Opfer des ersten Weltkriegs und 60 Millionen des Zweiten, davon ca. sechs Millionen Juden. Ich bin selbst die Enkelin eines armenischen Paares, das ihr Heimatland in der Türkei 1915 verlassen und für sich eine neue Heimat finden musste. Und ich frage mich: warum? Warum sollte man sein eigenes Land verlassen müssen? Warum leben Menschen auf Kosten der Anderen, Menschen, die nur durch ihre Begehrlichkeit und Habgier, ihre Macht und Dominanz geführt werden? Die rücksichtslose und aggressive Politik des osmanischen Reiches während des Ersten Weltkriegs und des Nationalsozialismus in dem Zweiten, aber auch die der vielen brutalen Regimes in der Welt, haben heute immer noch ihre Spuren in der Weltpolitik hinterlassen. Auch heutzutage müssen viele Menschen aus ihren Heimatländern flüchten und für sich eine neue Heimat suchen. Wenn wir uns die Geschichte verschiedener Kriege anschauen, werden wir feststellen, dass es vor diesen Kriegen immer gute Nachbarschaft gab, und oft konnten mehrsprachige Familien und Völker miteinander gut leben. Als ich Kind war, habe ich immer wieder meine Großmutter gehört, wie sie neben Armenisch auch oft auf Türkisch redete. Vor den Kriegen haben die Menschen es geschafft, miteinander zu leben. Die Ideologie der Vernichtung des Anderen war ihnen fremd. Die Kirche, liebe Gemeinde, als den Leib Christi zu sehen, bedeutet, dass kein Mensch ohne den Anderen vorzustellen ist. In dem weiteren Sinn des Wortes bedeutet dies, dass derjenige, der einen Anderen verletzt, letztlich die ganze Menschheit mitverletzt und den ganzen Leib; und der, der einen anderen wahrhaftig liebt, der kann auch alle Menschen der Welt lieben. Der Unterschied zwischen den beiden Tempeln, liebe Gemeinde, ist groß. Wenn wir unseren eigenen Tempel aufbauen wollen, vermuten wir, dass wir das Zentrum und die Meister der Welt sind. Wir wollen glauben, dass alles, was wir haben und sind unsere eigenen Leistungen sind und, dass wir, und nur wir, oder ich und nur ich, die Kontrolle und die Herrschaft über alles haben kann. Daher soll alles Andere, auch andere Menschen und Völker sollen meine Pläne befolgen und sich denen fügen.

 

So wie es viele Jahre in Anspruch genommen hat, den Herodianischen Tempel in Jerusalem zu bauen und kostbar auszuschmücken, so ist es auch mit unseren eigenen Tempeln, für welche wir für viele Jahre arbeiten und einiges an Zeit und Mühe hineingeben. Im Gegensatz dazu müssen wir, um am Leib Christi teilzunehmen, nichts tun. Wir müssen dies sein, nämlich Teil des Leibes sein. Dieses Sein, liebe Gemeinde, ist eine innerliche Entscheidung. Wir tun nichts, sondern öffnen unser Herzen für andere Menschen und für Gott. In einem Wort heißt dies, dass ich andere Menschen liebe und sie als Mitmenschen, als Teile desselben Leibes annehme. Daher verstehen wir die Worte Jesu, die wir im heutigen Predigttext gelesen haben: „So nehmt nun zu Herzen, dass ihr euch nicht sorgt, wie ihr euch verteidigen sollt. Denn ich will euch Mund und Weisheit geben, der alle eure Widersacher nicht widerstehen noch widersprechen können.“

 

Der Leib Christi erfordert, dass wir ein Teil von einer größeren Gemeinschaft sind und, dass jeder Mensch das Recht und den Anspruch darauf hat, ein würdiges und freies Leben zu führen.

 

Ich hoffe und bete heute, dass unsere Häuser und unsere Kirchen aber auch unser ganzes Leben dem größeren Ziel dienen können, nämlich dem Aufbau des geistlichen Leibes Christi, sodass wir nicht nur allein, sondern mit anderen Menschen der Welt zusammenkommen und uns vereinen können. Nur dann werden wir mit den Worten aus dem Buch Hiobs beten können:

 

„Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände. Dann würdest du meine Schritte zählen und nicht achtgeben auf meine Sünde. Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen.“. Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

Ökumenischer Gottesdienst- Rexingen, 17.11.2019 und 13.11.2022