Die Herrlichkeit Gottes und die Herrlichkeit des Menschen

 

Die Herrlichkeit Gottes und die Herrlichkeit des Menschen

 

(2.Mose 33,18-23)

 

Er aber antwortete: So lass mich doch deine Herrlichkeit sehen! Und [der HERR] sprach: Ich will alle meine Güte vor deinem Angesicht vorüberziehen lassen und will den Namen des HERRN vor dir ausrufen. Und wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und über wen ich mich erbarme, über den erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht! Doch sprach der HERR: Siehe, es ist ein Ort bei mir, da sollst du auf dem Felsen stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, so stelle ich dich in die Felsenkluft und will dich mit meiner Hand so lange bedecken, bis ich vorübergegangen bin. Wenn ich dann meine Hand zurückziehe, so darfst du hinter mir hersehen; aber mein Angesicht soll nicht gesehen werden!

 

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„So lass mich doch deine Herrlichkeit sehen“, sagt Mose zu Gott. Aber können wir die Herrlichkeit Gottes sehen, oder sie irgendwie fühlen? Ist die Herrlichkeit Gottes reines Licht, reiner Frieden, oder reine Liebe? Wie kommt die Herrlichkeit Gottes zu uns oder wie wird sie in unserem Leben erkennbar, erfahrbar?

Mose möchte Gottes Herrlichkeit sehen. Das Sehen und die Sichtbarkeit gehören, liebe Gemeinde, zu den Charakteristika dieser Welt. Sichtbarkeit hilft den Menschen zu verstehen und sich sicherer zu fühlen. Dinge, die wir nicht sehen können, bleiben für uns zum großen Teil unverständlich. Vielleicht schmücken wir deshalb zu Weihnachten. Der Weihnachtsschmuck, der Tannenbaum und der Lichterglanz machen für uns eine sichtbare Präsenz von Weihnachten möglich.

Die Herrlichkeit Gottes ist aber anders als die Herrlichkeit dieser Welt. Die Herrlichkeit der Welt offenbart sich meist durch Macht und Reichtum, durch Technik und Naturbeherrschung. Im Gegensatz dazu offenbart sich die Herrlichkeit Gottes nicht in etwas, das stillsteht oder statisch ist, in nichts, worauf wir unsere Augen richten, das wir beobachten können, sondern in der Bewegung. Gott ist frei und lässt sich nicht festsetzen. Das ist auch, was der Text uns sagt. So lesen wir die Antwort Gottes zu Mose: „Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht … darfst du hinter mir hersehen“.

 

In der Geschichte der Theologie wollten die Theologen die Idee von Gott absichern und Gott vor jeder Schwäche ausschließen und so behaupteten sie, Gott sei der unbewegte Beweger. Ist Gott ein unbewegter Beweger? Vielleicht haben sie diesen Text aus dem 2. Buch Mose nicht gelesen :-), um es zu ahnen, dass Gott in Bewegung ist und durch Bewegung zu uns kommt. Demnach lässt sich die Herrlichkeit Gottes am besten als ein Ereignis, als ein Geschehen beschreiben. Die Herrlichkeit Gottes kommt zu uns durch eine Bewegung und vor allem durch eine Bewegung des Herzens. Und so lesen wir, dass Mose in einem früheren Kapitel auch eine andere Bitte an Gott hatte. Dort bittet er Gott, den Israeliten ihre Ungeduld und ihren mangelnden Glauben zu verzeihen und ihnen barmherzig zu sein.

Vergebung und Barmherzigkeit sind solche Ereignisse, liebe Gemeinde. Gottes Barmherzigkeit und Vergebung sagen uns etwas über Gottes Bewegung, sie sagen uns aber auch etwas über uns selbst. Denn wir wissen: Wer nicht bereit ist, sich zu bewegen, kann anderen nicht vergeben und kann niemals barmherzig sein. Die Herrlichkeit Gottes ist also zutiefst mit der Herrlichkeit der Menschen verbunden (Ps. 8,5). Sie zeigt sich in einem ausgestreckten Arm, der einem anderen helfen will, in einem Lächeln und einem Gruß am Wegesrand, in einem Wort des Trostes, das in einem Moment der Traurigkeit gesprochen werden kann.

Unsere ganze Glaubensgeschichte ist, liebe Gemeinde, eine Geschichte der Bewegung, in der wir uns Tag für Tag Gott nähern und Gott sich uns nähert. Nur wer Mut hat, kann glauben und vertrauen, auch inmitten von Veränderungen und wenn es keinen anderen Boden gibt, auf den man treten kann als das Vertrauen auf Gott. Die Liebe erfordert auch Bewegung. Wir bewegen uns auf den geliebten Menschen zu und der geliebte Mensch kommt zu uns. Ohne die Bewegung im Herzen wäre vielleicht alles sicherer, alles wäre an seinem Platz, die Gesetze und Vorschriften wären fest verankert, aber oft wären sie sinnentleert, und es gäbe keine Möglichkeit für inneren Fortschritt. Oft haben wir Menschen es gern, wenn alles feststeht. Wir fühlen uns stark in der Festigkeit, gut geschützt durch einige Mauern gegen alle möglichen Angriffe von außen. Auch Regierungen mögen diese Festigkeit. Sie glauben, sie hätten die Kontrolle über alles und jedes Wesen in ihrem Land. Aber der Gläubige ist ein freier Mensch. Er kann nicht innerhalb von Mauern bleiben, sondern will auf die anderen zugehen. Und somit sagen wir, dass Gott die Quelle unserer Herrlichkeit ist und Gottes Freiheit die Quelle unserer Freiheit. Wir Menschen versuchen aber oft, unsere eigene Herrlichkeit selbst zu erlangen. Wir möchten gerne in Ansehen und Ehre betrachtet werden und wir übersehen meistens, dass unsere wahre Herrlichkeit von Gott kommt und uns von Gott bereits im Herzen gewehrt ist. Gott ist, liebe Gemeinde, die Quelle unserer Herrlichkeit und nicht irgendetwas anderes in dieser Welt, egal wie attraktiv es zu sein scheint.

 

Bevor ich eine Geschichte erzähle bzw. vorlese, möchte ich einige letzte Gedanken mit Ihnen teilen, insbesondere im Zusammenhang mit der heutigen Taufe. Aus der Antwort Gottes im Text lernen wir weiter, dass die Herrlichkeit Gottes nicht nur in Bewegung, auf dynamische Weise, sondern auch im Rückblick gesehen werden kann. „Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht … darfst du hinter mir hersehen“. So ist es auch bei uns. Oft können wir erst im Nachhinein die Spuren der Liebe und Barmherzigkeit Gottes in unserem Leben erkennen. Wo sich Dinge in unserem Leben verändert haben und etwas Neues begonnen hat, das vorher nicht da war.

 

Die Herrlichkeit Gottes, liebe Gemeinde, nimmt in der Person von Jesus Christus Gestalt an und kommt zu uns. Aber mit Christus war es nicht anders. Auch die Herrlichkeit Christi wurde erst nach seinem Tod erkennbar, und das auch nur direkt am Kreuz (Matthäus 27,54). Zu diesem Zeitpunkt war er bereits gestorben. Warum das so ist, weiß ich nicht. Manchmal lernen wir andere erst dann zu schätzen, wenn sie bereits von uns gegangen sind. Und doch, liebe Gemeinde, sind wir durch die Taufe aufgerufen, Christus auf uns zu ziehen, damit er zu uns gehört und wir zu ihm. Wir sind berufen, sein Licht, seine Wahrheit, seine Liebe und seine Barmherzigkeit auf uns zu nehmen, damit jede Härte und Selbstgefälligkeit in uns dahinschmelzen und wir in das gleiche Ebenbild Christi verwandelt werden können.

 

„Der Traum eines lächerlichen Menschen“ ist eine kurze Geschichte von Fjodor Dostojewski. Die Geschichte beginnt damit, dass der Erzähler durch die Straßen von St. Petersburg streift. Er denkt über die Lächerlichkeit seines eigenen Lebens nach und stellt fest, dass ihm nichts mehr etwas bedeutet. Diese Erkenntnis bringt ihn auf die Idee, sich das Leben zu nehmen.

Trotz der trostlosen Nacht blickt der Erzähler in den Himmel und sieht einen einsamen Stern. Während er den Stern betrachtet, wird er von einem kleinen Mädchen am Ellbogen festgehalten, das ihn verzweifelt um Hilfe bittet. Er bemerkt, dass das Mädchen trotz der Kälte nur spärlich bekleidet und völlig durchnässt ist. Obwohl er die zitternde Stimme des Mädchen nicht verstehen kann, ahnt er, dass der Mutter des kleinen Mädchens etwas Schreckliches zugestoßen ist. Das Mädchen versucht, ihn zu überreden, dass er ihm folgen möge, aber er weist das Mädchen ab, und als das Mädchen verzweifelt darauf besteht, stampft er mit dem Fuß auf und schreit das Mädchen an.

Zurück in seiner Wohnung lässt er sich in einen Stuhl sinken und legt den Revolver, den er vor einiger Zeit gekauft hat, auf einen Tisch neben sich. Er zögert, sich zu erschießen, denn seit er dem kleinen Mädchen aus dem Weg gegangen ist, plagt ihn ein quälendes Gefühl von Mitleid und innerem Schmerz. Er kann nicht verstehen, wie es ihn so tief treffen kann, wo er doch schon längst beschlossen hat, dass nichts mehr zählt und er sich bald erschießen wird. Er denkt angestrengt darüber nach und schläft unerwartet ein.

Er verfällt in einen langen, lebhaften Traum, der ihm die Möglichkeit der Liebe offenbart. Als er erwacht, springt er erstaunt auf. Er erblickt seinen Revolver, schiebt ihn aber weg. Er ist ein anderer Mensch, durch und durch dankbar für das Leben und überzeugt von der grundsätzlichen Güte der Menschen und ihrem Potenzial für grenzenlose Liebe. Am Ende der Geschichte erklärt der Erzähler, dass er das kleine Mädchen fand und sich entschied, dass er niemals aufhören wird, die Möglichkeit der Liebe auf der Erde zu verkünden. Und dann war alles anderes als vorher.

 

Sind wir auch bereit, uns zu bewegen, anderen Menschen zu vergeben und ihnen gegenüber barmherzig zu sein?

 

Amen.