An Gott ausgeliefert

 An Gott ausgeliefert

 (Kolosser 1,13-15. 19-20)

 (Zum Karfreitag)

 

 

Er [Gott] hat uns errettet aus der Herrschaft der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe, in dem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Sünden. Die Herrlichkeit und das Erlösungswerk des Sohnes Gottes. Dieser ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene, der über aller Schöpfung ist.

… Denn es gefiel [Gott], in ihm alle Fülle wohnen zu lassen und durch ihn alles mit sich selbst zu versöhnen, indem er Frieden machte durch das Blut seines Kreuzes — durch ihn, sowohl was auf Erden als auch was im Himmel ist.

 

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„Da übergab er ihnen [Jesus], damit er gekreuzigt werde.“ In der Schriftlesung (Johannes 19,16-30) haben wir, liebe Gemeinde, gehört, was Jesus angetan wird. Der römische Statthalter Pilatus übergibt Jesus den Priestern und Schriftgelehrten, damit sie ihn kreuzigen. Jesus wird auf Golgatha gekreuzigt. Trotz dieser harten Beschreibung des Evangeliums wollen wir die Aussage heute so verstehen, dass Jesus durch das Kreuz ganz und in einer vollkommenen Weise an Gott ausgeliefert wurde. Aber was meinen wir damit? Wie kommen wir dazu, zu sagen, dass Jesus durch den Tod ganz und gar an Gott ausgeliefert wurde?

 

Wir glauben, liebe Gemeinde, dass Gott nicht fern von uns ist, auch in unserem Leben und nicht erst wenn wir sterben. Gott ist kein Gott, der weit weg von uns ist. Gott nimmt die menschliche Natur an und wird Mensch. Gott kommt zu uns in Jesus Christus, aber auch in und durch jeden Menschen. Wir wiederum sind hilflose Menschen. Das merken wir an vielen Stellen und bei vielen Gelegenheiten in unserem Leben. Egal wie stark wir sind, egal wie viel wir im Leben erreicht haben, egal wie sehr wir denken, dass wir alles haben, was wir zu Leben brauchen, und dass uns nichts mehr fehlt, dass wir niemanden brauchen, nicht einmal Gott. Trotz all dem gibt es Gelegenheiten, an denen wir erkennen, dass wir schlichtweg hilflos sind. Und dass wir Gott brauchen, um zu existieren, zu sein wer wir sind. Und wenn wir uns entscheiden, zu Gott zu kommen, erfahren wir, dass Gott uns so nahe ist, dass wir uns Gott nur öffnen müssen.

 

Aber was macht das mit uns? Wie hilft uns das heute, nämlich wenn wir erkennen, dass wir und Gott miteinander verbunden sind, dass wir zusammengehören?

 

Diese Verbundenheit mit Gott, liebe Gemeinde, schafft in uns eine besondere Offenheit, eine Zone der Freiheit und des Friedens, die unabhängig ist von allem, was in der Welt geschieht. In der Welt streben wir immer danach, unser Bestes zu geben. Wir wollen einen Beitrag zur Gesellschaft, zur Familie leisten, anderen helfen und sie unterstützen. Und all das sollten wir auch tun. All das ist schön und gut. Es ist aber wichtig an dieser Stelle zu verstehen, dass die Zone der Freiheit, die in uns, im Herzen, durch unsere Verbundenheit mit Gott entsteht, nicht davon abhängig ist, was wir tun und wie wir es tun. Sie ist auch nicht davon abhängig, was uns in dieser Welt angetan wird und was uns widerfährt. Diese Zone der Freiheit und des Friedens in uns ist eine Zone, die nur an Gott gebunden ist, und entsprechend dieser Zone können wir uns von jeglicher Unterwerfung und jeder Fesselung in der Welt befreien.

 

Und doch kann der Mensch immer wieder seine Gottverbundenheit ablehnen und jede Zone der Offenheit verleugnen, sodass er sich mit seinem Engagement in der Welt zufriedengibt und versucht, in der Welt alles zu erreichen, was er begehrt.

 

Wenn wir uns jedoch entscheiden, uns Gott zu nähern und Gott zu erlauben, uns zu befreien, diese freie Zone in uns zu schaffen, kann dies am besten als Loslassen des Selbst beschrieben werden. Dies ist dann nämlich das Loslassen des Selbst und die Befreiung des Selbst von allen weltlichen Maßstäben und Bewertungen. In dieser Zone der Freiheit und des Friedens sind wir also nicht mehr Opfer unserer Sorgen, nicht einmal unseres eigenen Willens und unserer Ansprüche. Wir sind nicht mehr an bestimmte Vorstellungen und Bedingungen gebunden, sondern wir wohnen in dieser Zone frei und friedlich, das heißt, wir wohnen in Gott.

 

Im Gegensatz zum Wollen ist das Loslassen ein „Zulassen“ oder „Seinlassen“. Dies bedeutet nicht, dass man passiv oder schwach ist, wenn man sich von den Umständen tragen lässt. Hier in der Welt sind wir manchmal aktiv und manchmal passiv. Das Loslassen, als etwas jenseits des Wollens, ist ebenso jenseits der Begriffe Aktivität und Passivität. Anders ausgedrückt: Das Loslassen ist nichts anderes, als entschlossen in Verbundenheit mit Gott zu bleiben und Gott zu erlauben zu uns zu kommen und sich zu enthüllen. Dies setzt voraus, dass man im Loslassen standhaft, beharrlich und unerschütterlich ist.

 

Wie aber können wir diese Zone der Freiheit in uns erlangen? Wie können wir die Sorgen der Welt loslassen, während wir sie fast ständig mit uns herumtragen? Wie können wir die Gefühle der Einsamkeit, des Alleingelassenseins, manchmal sogar von Gott, loslassen? Wie können wir die Konflikte, die wir im Leben haben, loslassen und nicht unter ihrem Druck leiden? Wie können wir unsere Versäumnisse und Fehler loslassen? Wie können wir alle Anforderungen und Erwartungen unserer Gesellschaft loslassen? Das Einzige, liebe Gemeinde, was wir tun können, ist, Gott zuzulassen, dass er zu uns kommt, das heißt, unser Herz für Gott zu öffnen, und diese Zone der Freiheit wird da sein. Wir brauchen dann nichts zu tun, sondern nur darauf zu vertrauen, dass Gott uns von allem befreien kann. Das ist ähnlich wie beim Gebet. Wir kommen zu Gott und lassen Gott zu uns kommen. Und glauben Sie mir, liebe Gemeinde, es ist dieses Vertrauen auf Gott und das Loslassen, das uns Kraft für das Leben in der Welt gibt, damit wir zu gegebener Zeit die richtigen Entscheidungen im Leben treffen können.

 

Indem wir loslassen, liebe Gemeinde, gelangen wir zu unserem Ursprung: Der freie Mensch, das Ebenbild Gottes, das auch Jesus Christus ist, damit wir dort und bei ihm verweilen können, und dies nur in Dankbarkeit. Bei Dankbarkeit geht es dann nicht um den Dank für etwas Erreichtes oder Erworbenes, sondern um den Dank für das Sein selbst, für den Atem, der uns gewehrt ist, und auch für die Möglichkeit, dankbar zu sein.

 

Und indem Jesus den Tod annimmt, lässt er alles los, sogar sein Leben, um sich ganz Gott ausgeliefert zu haben. Und somit wird am Kreuz und am Karfreitag Frieden gemacht; ein Frieden, der auch uns heute gilt. Habt also keine Angst! Er, der versprochen hat, mit uns alle Tage bis zum Ende der Welt zu gehen, ist mit uns. Geht hin in Frieden! Amen.