Das Gebet

 

Das Gebet

(1. Timotheus 2,1, 3-6a)

 

So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen darbringe für alle Menschen … denn dies ist gut und angenehm vor Gott, unserem Retter, welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst als Lösegeld für alle gegeben hat.

 

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Liebe Gemeinde, liebe Jule, lieber Jan, lieber Luis und liebe Emma, ich habe die Predigt zu eurer Konfirmation am vergangenen Sonntag mit einem Satz beendet, mit dem ich die heutige Predigt anfangen möchte: ‚Vergesst nicht, dass es ohne Gott und ohne Gottes Geist nicht geht, denn „Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit.“ (Kierkegaard)‘. Was aber bedeutet dieser Satz? Wir wollen uns den heutigen Predigttext ansehen, vielleicht kann er uns helfen, eine Antwort auf diese Frage zu geben.

 

Unser Predigttext heute stammt aus dem ersten Brief an Timotheus, der als „Pastoralbrief“ bezeichnet wird. Im Predigttext wird dazu aufgerufen, für alle Menschen zu beten. Das heißt zuerst einmal, dass wir als Christen zum Gebet aufgerufen sind. Und heute möchte ich behaupten, dass ein Leben ohne Gebet ein Leben ohne Gott ist. Kann es ein Leben ohne Gott geben? Wenn Gott für uns, liebe Gemeinde, für die Wahrheit steht, wenn Gott für die Liebe, für die Hoffnung und die Barmherzigkeit steht, dann kann man fragen, was das für ein Leben wäre ohne die Wahrheit, ohne die Liebe, ohne die Hoffnung und ohne die Barmherzigkeit. Aber warum sagen wir, dass Gott für die Wahrheit steht, oder für die Liebe? Gibt es keine Wahrheit ohne Gott? Wäre die Liebe ohne Gott nicht möglich?

 

Was diese Eigenschaften (Wahrheit, Liebe, Hoffnung und Barmherzigkeit) vereint, liebe Gemeinde, und uns dazu bringt, sie als Eigenschaften Gottes zu betrachten, ist ihre geistliche, spirituelle Natur. Natürlich gibt es viele Wahrheiten in der Welt. Zum Beispiel sind der Klimawandel und die globale Erwärmung auch Wahrheiten. Jeder von uns hat auch seine eigenen Behauptungen und Wahrnehmungen, für die er fast täglich im Leben argumentiert, um zu beweisen, dass seine eigene Ansicht die eigentliche Wahrheit ist. Auch in den Nachrichten und durch die Medien werden uns täglich viele und verschiedene „Wahrheiten“ erzählt, oft in einer Art und Weise, die andere „Wahrheiten“ ausschließt. Und der größte Teil der Bevölkerung übernimmt diese Behauptungen als „Wahrheit“, ohne sie zu hinterfragen.

 

Anders als all diese „Wahrheiten“, die wir täglich in unserem Leben erfahren, wollen wir heute fragen: Was ist denn die Wahrheit Gottes und wie können wir uns der Wahrheit Gottes nähern? Die christliche Kirche hat durch die Jahrhunderte hindurch die Wahrheit Gottes als Trinität beschrieben; Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist vorgestellt.

 

Auch wenn dies ein Geheimnis bleibt, liebe Gemeinde, möchte ich heute eines über die Wahrheit Gottes sagen: Die Wahrheit Gottes ist eine spirituelle Wahrheit und durch das Gebet haben wir Zugang zu dieser Wahrheit. Also, wir nähern uns der Wahrheit Gottes dann, wenn wir das sehen können und wollen, was jenseits der bloßen Fakten und Zahlen liegt, die diese Welt behauptet. Deshalb haben sich auch im Laufe der Geschichte Mönche und Nonnen von der materialistischen Welt abgesondert, um ihre spirituellen Sinne zu entwickeln und sich Gott nähern zu können. Aber wir wollen ja nicht in Klöstern leben, sondern hier in der Welt.

 

Und wir wissen, dass Gott nicht weit von uns entfernt ist.

 

Durch das Gebet wollen wir die Stimme Gottes hören. Wir wollen Gott bitten, uns zu helfen, uns für die Wahrheit, die Liebe und die Barmherzigkeit zu entscheiden und diese in unserem Leben umzusetzen. Die Stimme Gottes kommt zu uns in unserem täglichen Leben. Daher ist jeder Versuch, die Stimme Gottes zu hören, wo auch immer wir sind und in jeder möglichen Lebenssituation in unserem Alltag, jeder Versuch das Gute zu tun ist ein Gebet.

 

Der Autor des heutigen Predigttextes schreibt: „So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen darbringe für alle Menschen“. Kann das Gebet, liebe Gemeinde, uns dabei helfen, Spiritualität zu erlangen und uns Gott zu nähern? Ich meine, ja. Das Gebet ist die Möglichkeit, sich auch nur für einen Moment von der materialistischen Welt zu befreien. Deshalb lautet auch die reformatorische Definition des Gebets nach Luther und Brenz: „Das Gebet ist ein Reden des Herzens mit Gott, in Bitte und Fürbitte, Dank und Anbetung.“ Das Gebet ist die Sprache der Spiritualität, ist die Sprache des Herzens. Wir leben hier in der Welt, wir haben unsere Familien, unsere Arbeit, unsere Schule, unsere Verpflichtungen, und doch, wollen wir Gott erlauben, dass er uns in unserem Leben begleitet. Und wenn wir uns zum Beten hinsetzen, beten wir im Grunde nur ein einziges Gebet, nämlich dass Gott, der Heilige Geist, in unser Leben kommt, es durchdringt und verwandelt.

 

Es ist dieser Moment des Gebetes, der in uns das Bewusstsein dafür schafft, wie oft wir egozentrisch denken und handeln. Durch das Gebet lernen wir zu verstehen, dass sich nicht alles so entwickeln muss, wie wir es wünschen und planen. Durch das Gebet und vor allem durch die Fürbitten wird uns bewusst, dass auch andere da sind. Andere, die in unserem täglichen Leben meistens abwesend sind; andere, über die üblicherweise negativ in den Nachrichten berichtet wird. Andere, die in der Regel von vornherein verurteilt werden, ohne dass man ihnen überhaupt die Chance gibt, sich zu erkennen zu geben.

 

Das bedeutet, dass wir durch das Gebet dazu kommen, die Wahrheiten, die in dieser Welt behauptet werden, zu hinterfragen, zu prüfen, anstatt einfach das anzunehmen, was uns eingeredet wird. Die Wahrheit Gottes ist dann immer eine störende Wahrheit, eine fragende Wahrheit, eine aufdeckende Wahrheit. Und ein Ergebnis des Gebets ist die Enthüllung der Wahrheit, auch wenn dies immer nur bruchstückhaft geschehen kann.

 

Und wenn wir um unsere Bedürfnisse bitten wollen, stellen wir fest, dass das, was wir grundsätzlich brauchen, uns bereits gewährt ist. Wir erkennen, dass Gott nicht wie der Coca-Cola-Automat ist, in den wir ein paar Münzen werfen, sodass eine Flasche Cola für uns herausfällt. Und dann lernen wir, dass zum Gebet auch die Dankbarkeit gehört; Dankbarkeit für alles und für jeden Menschen. Dazu ruft uns der Predigttext auf: Danksagung für alle Menschen.

 

Das Gebet ist in diesem Sinne für uns der Zugang zu Gott. Es ist der Zugang zur Liebe, zur Hoffnung und zur Barmherzigkeit. Wissen Sie, was diese Eigenschaften der Liebe, der Hoffnung und der Barmherzigkeit mit der Wahrheit Gottes zusammenbringt? Was sie zusammenbringt, ist ihre selbstgebende Natur, und das ist dasselbe, wie zu sagen, ihre spirituelle Natur. Daher kann die Wahrheit Gottes heute als die Wahrheit der sich selbst verschenkenden Liebe verstanden werden. Ohne diese sich selbst verschenkende Liebe bleiben wir, liebe Gemeinde, bei unserem begrenzten Verständnis von Liebe, das der Tendenz zur Selbstliebe ausgesetzt ist. Wenn es uns aber gelingt, andere wahrhaftig zu lieben, dann ist diese Liebe nichts anderes als die sich selbst schenkende Liebe Gottes.

 

Darüber hinaus ist es unsere Hoffnung auf Gott, die uns glauben lässt, dass die Liebe zu ihrer Zeit Früchte tragen wird, dass nach dem Tod die Auferstehung erfolgt, und in diesem Sinne sagen wir, dass Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, der Vermittler zwischen Gott und den Menschen ist, „der sich selbst als Lösegeld für alle gegeben hat“.

Das Gebet ist in diesem Sinne, liebe Gemeinde, die Öffnung, die vor uns liegt. Es ist die Tür zur Wahrheit, es ist die Tür zu selbstloser Liebe und Barmherzigkeit, es ist die Tür zu Gott. Und wir brauchen Gott, denn ohne Gott bleiben wir durch die engen Behauptungen dieser Welt eingesperrt, die wie Mauern in unserem Leben wirken. Umgekehrt können wir auch sagen: Jeder Versuch, sich der Wahrheit, der Liebe, der Hoffnung und der Barmherzigkeit zu nähern ist ein Versuch sich Gott zu nähern, ist ein Gebet.

 

Im Geist des Gebets wollen wir heute darauf vertrauen, dass Sie und ihr, liebe Jugendliche, euren Weg mit Gott gehen werdet. Und er, der alles für uns gegeben hat, möge euch leiten und euch in seiner Liebe und Barmherzigkeit bewahren. Amen.