Gott, der mitten aus dem Feuer redet (Zum Israelsonntag)

Gott, der mitten aus dem Feuer redet

(Zum Israelsonntag - Deuteronomium 4,5-20)

 

 

Siehe, ich habe euch Satzungen und Rechtsbestimmungen gelehrt, so wie es mir der HERR, mein Gott, geboten hat, damit ihr nach ihnen handelt in dem Land, in das ihr kommen werdet, um es in Besitz zu nehmen. … Denn wo ist ein so großes Volk, zu dem sich die Götter so nahen, wie der HERR, unser Gott, es tut, so oft wir ihn anrufen?

… Nur hüte dich und bewahre deine Seele wohl, dass du die Geschehnisse nicht vergisst, die deine Augen gesehen haben, und dass sie nicht aus deinem Herzen weichen alle Tage deines Lebens … An dem Tag, als du vor dem HERRN, deinem Gott, standest am [Berg] Horeb, … da tratet ihr herzu und standet unten am Berg. Aber der Berg brannte im Feuer bis ins Innerste des Himmels hinein, [der voller] Finsternis, Wolken und Dunkel [war]. Und der HERR redete mit euch mitten aus dem Feuer. Die Stimme seiner Worte hörtet ihr, aber ihr saht keine Gestalt, sondern [vernahmt] nur die Stimme. Und er verkündigte euch seinen Bund, den er euch zu halten gebot, nämlich die zehn Worte; und er schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln.

… So bewahrt nun eure Seelen wohl, weil ihr keinerlei Gestalt gesehen habt an dem Tag, als der HERR aus dem Feuer heraus mit euch redete auf dem Berg Horeb, damit ihr nicht verderblich handelt und euch ein Bildnis macht in der Gestalt irgendeines Götzenbildes …

Euch aber hat der HERR genommen und herausgeführt aus dem Eisenschmelzofen, aus Ägypten, damit ihr sein Eigentumsvolk sein solltet, wie es heute der Fall ist.

 

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In diesen Zeilen des Predigttextes ruft Mose die Juden auf, nicht zu vergessen, wie Gott sie in ihrer Not gerettet hat. Ähnliche Worte kommen auch in den nächsten Kapiteln dieses Buches vor: „Hüte dich, dass du Gott nicht vergisst, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, aus dem Haus der Knechtschaft, … der dich durch die schreckliche Wüste geleitet hat“ (5.Mose 8:11, 15). Vergesst den Bund nicht, den Gott mit euch geschlossen hat. Durch diesen Bund seid ihr nicht mehr Sklaven, sondern freie Bundesgenossen von Gott.

 

Aber was bedeutet es, mit Gott im Bund zu stehen?

 

Die Antwort auf diese Frage wird im heutigen Predigttext aus dem 5.Buch Mose in zwei Teilen gegeben. Erstens bedeutet ein Partner im Bund mit Gott zu sein, dass wir erkennen: Gott ist für uns da. Darüber hinaus kann man sagen, dass Menschen gerade in Zeiten der Gefahr und der Krise mehr nach Gott rufen und Gottes Heil erfahren. Heute denken wir an die Zerstörung Jerusalems und an die vielen Verluste, die die Juden im Laufe der Geschichte erlitten haben. Zweimal wurde der Tempel zerstört und mehrmals wurden Menschen vertrieben und damit zu Opfern des Handelns der Mächtigen dieser Welt. An einem solchen Tag des Gedenkens haben die Worte des Moses noch immer eine tröstende und leitende Kraft für uns.

 

Und Moses' Worte sind im Text präzise: Gott ist nahe, wann immer wir ihn anrufen. „Denn wo ist ein so großes Volk, zu dem sich die Götter so nahen, wie der HERR, unser Gott, es tut, so oft wir ihn anrufen?“ (4,7). Ich denke, liebe Gemeinde, dass dies eine klare Aussage auch für uns heute ist. Nur wenn wir Gott anrufen, spüren wir seine Nähe. Und in der Tat ist Gott uns näher als jedes andere Wesen und jedes andere Ding im Leben. Wenn Gott der Gott ist, der uns erschaffen hat und in uns den Lebensatem blies, bedeutet das, dass Gott uns so nahe ist, wie unser eigener Atem. Aber die Nähe Gottes und Gottes Selbsthingabe an uns bleibt meist von Menschen unbeachtet. Vielleicht, weil wir selbst im Mittelpunkt unseres Lebens stehen wollen und behaupten, unser Leben allein zu führen, und so versäumen wir die Quelle des Lebens, die zugleich auch die Quelle unserer Kraft ist. Und wir übersehen, dass Gott da ist, um uns zu stärken, nicht um uns zu schwächen. Nur selten denken wir darüber nach und erkennen, dass wir alles, was wir brauchen, durch den Atem Gottes, der uns gegeben ist, haben. In diesem Sinne können wir den Vers vor dem heutigen Predigttext (4,4) verstehen: „Aber ihr, die ihr dem HERRN, eurem Gott, anhingt, lebt alle heute noch.“ Eine alternative Übersetzung wäre: „Ihr, die ihr an dem Ewigen, eurem Gotte, haftet, seid heute alle am Leben“. An Gott kann man sich hängen, festhalten, haften. Wenn ihr also heute lebt, dann deshalb, weil ihr an Gott haftet, weil ihr mit Gott verbunden seid.

 

Das ist der erste Teil der Antwort auf die Frage „Was bedeutet es, dass wir mit Gott in einem Bund stehen?“ Der zweite Teil der Antwort soll heißen, dass auch wir für Gott da sind, dass auch wir seine Stimme hören wollen. Aber wie? Wie kommen wir dazu, die Stimme Gottes zu hören? Der Predigttext kann uns dabei helfen.

 

Wir können die Stimme Gottes auf zwei Weisen hören. Erstens, weil wir wissen, dass Gott nahe ist, dass Gott als Geist bei uns und in uns ist, können wir die Stimme Gottes in uns hören. Das ist nicht immer einfach, weil viele Stimmen von außen, aus der Welt zu uns kommen, so dass wir nicht immer die Stimme Gottes hören. Zweitens sollten wir versuchen, uns Gott jeden Tag zu nähern, denn wir können nie sagen, dass wir Gott vollständig kennen. Dieser Aspekt Gottes wird im Predigttext hervorgehoben: Gott bleibt ein unbekannter Gott, den man nicht vollständig kennen und verstehen kann, und deshalb sollten wir jeden Tag versuchen, einen Schritt auf Gott zuzugehen, der nahe, aber auch fern ist und dem man sich ständig nähern soll.

 

Dieses Element der Unbeschreiblichkeit Gottes zieht sich durch unseren heutigen Predigttext, der ursprünglich eine Predigt von Mose ist. In seiner Predigt hat Mose vor allem die ersten beiden der zehn Gebote zum Thema: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben! Du sollst dir kein Bildnis … machen.“ (2.Mose 20,3-4)

 

Mose sagt seinen Zuhörern, dass Gott, der den Menschen am nächsten ist, dennoch nicht beschrieben werden kann, denn Gott hat keine besondere Gestalt. Mose warnt also das Volk davor, sich eigene Götter zu machen und zu behaupten, dies sei der Gott Israels. Er erinnert das Volk an die Zeit, als sie am Berg Horeb die Zehn Gebote empfingen. Damals standen sie unter dem Berg und hörten die Worte Gottes, aber sie konnten Gott nicht sehen:

 

„Aber der Berg brannte im Feuer bis ins Innerste des Himmels hinein, [der voller] Finsternis, Wolken und Dunkel [war].“ These Worte weisen auf das göttliche Geheimnis hin: Dunkelheit, Wolken und Finsternis. Gott sprach zu den Menschen mitten im Feuer; die Menschen hörten den Klang der Worte, sahen aber keine Gestalt (4,11-12).

 

Aber wie kann das uns, liebe Gemeinde, heute helfen, uns Gott zu nähern; einem Gott, der mitten aus dem Feuer zu den Menschen spricht?

 

Ich würde sagen, Gott ist wie das Feuer, das in unseren Herzen brennt, wenn Ungerechtigkeit über Menschen hereinbricht. Gott ist wie das Feuer, das in uns brennt, wenn wir etwas Gutes für uns und für andere tun wollen. Gott ist wie das Feuer, das das Volk Israel in der Nacht geleitet hat, damit es sich nicht fürchten muss. Gott spricht durch das Feuer, so wie Gott zu Mose sprach und ihm einen Auftrag gab; einen Auftrag der Befreiung und der Rettung. Solches Feuer und solche Worte hören wir alle in unseren Herzen, und oft wollen wir sie ignorieren, weil sie nicht in unseren Alltag zu passen scheinen. Aber lasst uns, liebe Gemeinde, die Stimme aus dem Feuer nicht ignorieren. Lasst uns den Auftrag, zu dem wir gerufen werden, nicht übergehen. Lasst uns nicht zögern, einzugestehen, dass dieser Gott, der zu uns kommt wie ein Feuer, uns am nächsten ist, auch wenn wir ihn nicht sehen, berühren und begreifen können.

 

Und im Predigttext ist die Tora das Zeichen für diesen Bund, ein konkretes Zeichen zwischen dem Menschen und dem unbekannten Gott. Tora wird in Bibelübersetzungen oft mit Gesetz übersetzt. Im jüdischen Sinn des Wortes wird Tora jedoch als Lehre verstanden. Die Lehre ist hier das, was gelernt und gelehrt werden soll und bezieht sich auf den Bund, der am Berg Horeb geschlossen wurde und durch den diese Hinwendung und Annäherung an Gott möglich wird.

 

Ähnlich wie die Israeliten, die unter ganz anderen Bedingungen ihren Weg gegangen sind als die damaligen Völker, weil sie den Bund mit Gott hatten und ihn halten wollten, lasst uns, liebe Gemeinde, weiter mit Gott gehen, seinem Licht folgen, lasst uns jeden Tag aufs Neue die Nähe Gottes suchen, des Gottes, der uns schon nahe ist, und lasst uns die Worte aus dem Feuer hören und ihrer Sendung folgen.

 

Heute sind wir aufgerufen, uns nicht auf die Seite der Mächtigen der Welt zu stellen, die das Leben vernichten, und wir wissen, dass das sechste Gebot, das Moses gegeben wurde, besagt: „Du sollst nicht töten!“ (2.Mose 20,13). Und so stehen wir auf der Seite der verfolgten und geopferten Juden. Heute sind wir berufen, nicht zu verfolgen und zu richten, sondern Freiheit und Frieden zu suchen. Heute sind wir aufgerufen, dem Weg Abrahams, Moses und aller Propheten zu folgen, die die Worte aus dem Feuer hörten und dem Bund mit Gott treu blieben.

 

Ich möchte Jesus heute als den jüdischen Rabbi sehen, der die Gesetze und die Propheten lehrte und auslegte, wie er auch das Schma Jisrael (was zu den wichtigsten Gebeten des Judentums gehört, aus Deuteronomium 6,4-9)[1] in seinen eigenen Worten sprach (Markus 12,28-34). Und er tat dies nicht aus einer Distanz heraus, sondern in vollkommener Anhaftung an und Verbundenheit mit Gott.

 

Und in diesem Sinne wollen auch wir, liebe Gemeinde, Gott suchen. Denn „Wenn du … deinen Gott, suchen wirst, so wirst du ihn finden, ja, wenn du ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen wirst.“ (5.Mose 4,29) Amen.

 

 

Sylvie Avakian

 

13.08.2023

 

 

[1] „Höre Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein! Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du auf dem Herzen tragen, und du sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt oder auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst; und du sollst sie zum Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen dir zum Erinnerungszeichen über den Augen sein; und du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben.“