Wie soll ich die Bibel lesen?
(Matthäus 5,13-16)
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz fade wird, womit soll es wieder salzig gemacht werden? Es taugt zu nichts mehr, als dass es hinausgeworfen und von den Leuten zertreten wird. Ihr seid das Licht der Welt. Es kann eine Stadt, die auf einem Berg liegt, nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; so leuchtet es allen, die im Haus sind. So soll euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.
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Liebe Gemeinde, das Thema der Sommerpredigtreihe in unserem Nahbereich lautet „Mein Lieblingsbuch und das Buch der Bücher“. Im Rahmen dieser Predigtreihe habe ich mich entschieden, über die Bibel als mein Lieblingsbuch zu sprechen. Nun werden Sie vielleicht denken „schon wieder die Bibel?“, wir hören doch jeden Sonntag von der Bibel. In meinem Fall wäre es aber unfair über ein anderes Buch als Lieblingsbuch zu sprechen in der Anwesenheit meiner Bibel, die mich mehr als 40 Jahre begleitet hat und das auf vielerlei Arten und Weisen. Als ich 14 Jahre alt war habe ich von einer Freundin eine armenische Bibel geschenkt bekommen und diese steht bis zum heutigen Tag auf meinem Schreibtisch.
In diesem Sinne möchte ich Sie, liebe Gemeinde, ermutigen: Wenn Sie eine Bibel zu Hause haben, nehmen Sie sie in die Hand, schlagen sie auf und lassen ihre Worte zu sich sprechen. Und wenn Sie keine eigene Bibel haben, können Sie vielleicht darüber nachdenken, sich eine anzuschaffen. Aber warum sollten wir die Bibel lesen? Was ist so besonders an der Bibel? Das Besondere an der Bibel ist, dass sie viele verschiedene Leserinnen und Leser in vielen verschiedenen Zeiten und in ihren sehr unterschiedlichen Lebens- und Lesesituationen ansprechen kann. Heute aber möchte ich mit Ihnen über die Frage nachdenken: Wie soll ich denn die Bibel lesen, damit sie mich heute noch anspricht, auch wenn sie vor so vielen Jahren geschrieben wurde? Man könnte die Bibel auf einer sachlichen Ebene lesen und durch diese Art des Lesens etwas über die Geschichten und Ereignisse in der Bibel erfahren, die in der Antike geschehen sind. Auf dieser Ebene bliebe die Bibel jedoch ein Buch, das wir mit einer gewissen Distanz lesen, denn diese Ereignisse liegen in der Vergangenheit und sind oft weit von unserer Realität in der Welt entfernt. Man könnte sogar auf dieser Ebene die Bibel als ein heiliges, von Gott gegebenes Buch betrachten, und dennoch würde die Kluft zwischen Gott und Mensch bestehen bleiben und damit auch die Kluft zwischen dem Leser und der Bibel. Man könnte jedoch die Rolle der Bibel auf dieser Ebene in Frage stellen: „Warum sollte ich Geschichten aus der Vergangenheit lesen? Wie können mir Worte helfen, die vor so vielen Jahren gesprochen und geschrieben wurden?“
Man könnte aber einen Schritt weiter gehen und die Worte der Bibel als moralischen Leitfaden nehmen, also die Bibel als ein Buch lesen, das uns sagt, was wir als Christinnen und Christen tun und wie wir es tun sollen. Ich glaube, dass viele Menschen in der Vergangenheit aber auch heute noch die Bibel als eine Quelle für moralische Orientierung betrachten. Auch auf dieser Ebene kann man die Rolle der Bibel in Frage stellen und sagen: „Wozu brauchen wir überhaupt die moralische Anleitung der Bibel? Unsere gesellschaftlichen Werte sind recht hoch, sie stellen für uns einen guten moralischen Ersatz für die Bibel dar. Auf jeden Fall sind die Welt und die Gesellschaften nicht mehr dieselben wie vor Hunderten und vielleicht Tausenden von Jahren. Wir brauchen also definitiv neue moralische Werte.“
Und doch können wir noch einen Schritt weiter gehen und die Bibel als ein spirituelles Buch lesen, in dem wir der Worte der Bibel erlauben, unsere bewusste Individualität zu berühren und zu verändern - was wir üblicherweise Spiritualität nennen. In diesem Sinne möchte ich heute Spiritualität als das Bewusstsein der eigenen Individualität und die Bereitschaft, sie zu entwickeln, bezeichnen. Auf dieser Ebene zeigt die Bibel ihre verborgenen Schätze, die weder auf der sachlichen noch auf der moralischen Ebene zu entdecken sind. Auf dieser spirituellen Ebene kann die Bibel uns im Herzen berühren.
Aber wie kann ich dafür offen sein, wie kann ich zulassen, dass die Bibel meine eigene innere Individualität, meine Gefühle berührt? Das ist gar nicht so einfach. In unserem täglichen Leben bleiben wir meist auf der ersten Ebene, der Ebene der faktischen Welt. Und wir versuchen, unsere moralischen Grundsätze mit unserem faktischen Verständnis der Dinge in Einklang zu bringen. Allerdings haben wir Zugang zur Spiritualität durch den Geist, der jedem von uns gegeben ist. So lesen wir im ersten Buch Mose, dass Gott den Atem des Lebens in die Nase des Menschen hauchte und damit auch seinen Geist dem Menschen gegeben hat. Es ist dieses spirituelle, geistliche Element in uns, das uns über die übrige Schöpfung erhebt. Und obwohl der Geist uns gegeben ist, bleibt dieses spirituelle Element in uns die meiste Zeit verborgen. Denn es ist üblicherweise einfacher, auf der Ebene der Fakten zu bleiben, als dieses spirituelle Element in uns zu suchen und zu entwickeln, das, was wir heute „bewusste Individualität“ nennen.
Aber was bedeutet es zu sagen, dass wir die Bibel als ein spirituelles Buch lesen, als ein Buch, das den Geist in uns, unser Inneres, anspricht? Um zu veranschaulichen, was ich heute sagen möchte, werde ich einige Bibelverse anführen, die mich viele Jahre lang begleitet haben:
„Der HERR ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten? Der HERR ist meines Lebens Kraft, vor wem sollte mir grauen?“ (Psalm 27,1)
Es wäre ein mangelhaftes Verständnis und sogar ein Missverständnis, wenn wir versuchen würden, diesen Vers als ein faktisches Versprechen oder eine moralische Wahrheit zu interpretieren. Dass Gott unser Licht und unser Heil ist, unsere Kraft im Leben, ist eine rein spirituelle Aussage. Wir können dieser Aussage im Herzen vertrauen und glauben, dass Gott uns Kraft schenken wird, in jeder Situation, in jeder Schwierigkeit; eine Kraft, die uns auch in der faktischen Welt begleitet und unterstützt. Jede Erwartung aber einer faktischen Macht in der Welt wird uns in die Irre führen. Und so sind wir, liebe Gemeinde, aufgerufen, uns nicht mit dem Faktischen, mit dem Sachlichen zu begnügen, sondern das Spirituelle zu suchen.
Als zweite Stelle zitiere ich die Worte des Apostel Paulus aus seinem Brief an die Philipper: „Brüder, ich halte mich selbst nicht dafür, dass ich es ergriffen habe; eines aber [tue ich]: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt“ (Philipper 3,13).
Es gibt, liebe Gemeinde, eine Voraussetzung, um die Bibel auf der spirituellen Ebene lesen zu können, nämlich die Bereitschaft zur Veränderung und Selbstentwicklung. Die Bibel bringt uns zum Erkennen unserer eigenen Individualität und damit sind wir auf Veränderung angewiesen; nicht auf Veränderung des äußeren, faktischen Lebens oder der äußeren Umstände, sondern auf Veränderung des Herzens und des inneren Selbst. Das ist es, was das Wort Gottes mit uns macht: In jeder Situation bringt das Wort Gottes uns einen Schritt vorwärts. Das ist es auch, wie Christus auf uns wirkt. Christus, der das lebende Wort Gottes ist, bringt uns jeden Tag einen Schritt weiter, damit wir uns ihm immer mehr nähern können. Und so vergessen wir, was hinter uns liegt, und streben nach vorne, zu dem, was vor uns liegt. Demnach können wir den Glauben als ständigen Fortschritt auf Gott beschreiben.
Die letzte Stelle für heute, und damit möchte ich die Predigt schließen, ist aus dem Matthäusevangelium, Kapitel 5 (13-14):
„Ihr seid das Salz der Erde. … Ihr seid das Licht der Welt.“
Wir sind als Christinen und Christen aufgerufen, Salz und Licht in der Welt zu sein. Das bedeutet, dass wir nicht nur dazu berufen sind, dies zu wissen, sondern es zu sein. Daher
können wir den Unterschied zwischen der moralischen und der spirituellen Lesart der Bibel verstehen. Bei einer moralischen Lektüre der Bibel bleiben wir auf der Ebene des Tuns, während es bei
einer spirituellen Lektüre um unser Sein geht, also darum, wer wir sind. Schließlich wissen wir, dass das Salz dadurch wirkt, dass es sich selbst auflöst. Und wir können Salz und Licht sein, wenn
wir uns entscheiden, das Beste für die Welt zu tun und zu sein. Und somit ist der Kirche gewährt, der Welt Geschmack, Würde und Ehre zu verleihen. Denn die Kirche ist nicht gegen die Welt,
sondern sie ist ihr Sinn und Ziel. In diesem Sinne, liebe Gemeinde, „soll euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Matthäus 5,16)
Amen.
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Fürbitten:
Gott, unser Vater,
wir danken dir, dass wir dein Wort haben
und dass wir dich dadurch erkennen und uns dir nähern können.
Dein Wort ist ein spirituelles Wort,
und durchdringt alle Einzelheiten unseres Lebens,
ähnlich wie dein Licht, das jeden Winkel erreicht
und es überall hell macht.
Es gibt nichts in uns, in unserem Leben,
das dein Wort nicht ansprechen kann,
das dein Wort nicht verändern und verwandeln kann,
es gibt nichts, was dein Wort nicht erneuern
und wiederbeleben kann.
Danke, Gott, dass wir Jesus haben;
das lebende Wort. Wenn wir auf ihn schauen,
werden wir von allen Schmerzen des Lebens befreit.
Wenn wir ihn ansehen, werden wir an den Wert in uns erinnert, dass auch wir deine Söhne und Töchter sind,
und durch sein Fleisch und Blut sind wir eins in dir,
angenommen, geliebt, vergeben und erneuert.
Du bist Gott, die Kraft, die wir im Leben haben,
du bist unsere Hoffnung und unser Heil,
und wir werden uns nicht fürchten müssen.
Heute beten wir auch für unsere Familien und Kinder,
für unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden,
für unsere Gemeinde, für unsere Liebsten.
Wir bitten dich, dass dein Wort und dein Licht
in ihrem Leben leuchten,
bewahre sie vor jeder Dunkelheit und vor jeder Angst.
Wir beten für alle Menschen,
die in benachteiligenden Situationen leben,
denen es an den Grundbedürfnissen des Lebens fehlt,
die unter Angst und Sorge leiden.
Hilf uns, Gott, uns möglichst nicht damit zufrieden zu geben, Fakten und Zahlen über sie zu kennen,
hilf uns, dass wir uns nicht damit begnügen,
die Nachrichten in den Medien zu hören,
sondern das Beste für die Welt zu tun
und das Beste zu sein.
Denn es ist der Kirche gegeben, der Welt ihren Sinn,
ihren Geschmack zu geben,
ihr Ehre und Würde zu verleihen;
die Würde, die wir von dir haben
und die wir mit allen anderen teilen
bis der Tag kommt, an dem wir in dir und durch dein Wort
mit allen anderen vereint sind. Amen.