Kann ein Mensch allein glücklich sein?
(Lukas 12, 13-21)
Es sprach aber einer aus der Volksmenge zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er das Erbe mit mir teilen soll! Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbteiler über euch gesetzt? Er sagte aber zu ihnen: Habt acht und hütet euch vor der Habsucht! Denn niemandes Leben hängt von dem Überfluss ab, den er an Gütern hat.
Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Das Feld eines reichen Mannes hatte viel Frucht getragen. Und er überlegte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun, da ich keinen Platz habe, wo ich meine Früchte aufspeichern kann? Und er sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin alles, was mir gewachsen ist, und meine Güter aufspeichern und will zu meiner Seele sagen: Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und sei guten Mutes! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! In dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird gehören, was du bereitet hast? So geht es dem, der für sich selbst Schätze sammelt und nicht reich ist für Gott!
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Ungeachtet aller Unterschiede, die dieser Text im Vergleich zu unserer heutigen Realität hier in Süddeutschland mit sich bringt, scheint der Text, der doch vor etwa 2000 Jahren in
einem ganz anderen Kontext (vielleicht in Antiochia—südlich der heutigen Türkei—oder in Ephesus, in Kleinasien) geschrieben wurde, dennoch aktuell zu sein und vielleicht zu jedem von uns heute zu
sprechen.
„Das Feld eines reichen Mannes hatte viel Frucht getragen. Und er überlegte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun …? Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen … und will zu meiner Seele sagen: Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und sei guten Mutes!“
Und so erfahren wir, dass der reiche Kornbauer an niemanden denken kann, mit dem er sein Hab und Gut teilen möchte. Und die Frage, die wir heute stellen wollen, ist: kann ein Mensch
allein glücklich sein, wenn er viele irdische Güter besitzt?
Und natürlich kann man sagen: Was ist falsch daran, wenn ich mir Gedanken über die Verbesserung meiner finanziellen Situation mache? Und ich würde sagen: Daran ist nichts falsch. Auch im 1.Buch Mose steht geschrieben, dass der Mensch von seiner eigenen Arbeit leben soll. Und das ist gut so. Das Problem aber entsteht, wenn wir andere Menschen nicht einmal in Betracht nehmen. Wir merken nicht, dass sie existieren, genauso wie der reiche Kornbauer. Weil es uns gut geht, merken wir nicht, dass andere Menschen vielleicht Hilfe brauchen. Also denken wir, dass wir sie nicht brauchen und sie uns nicht brauchen sollten. Die Frage ist dann nicht, wie viel Geld oder Besitztümer ich habe. Sondern es ist der Egoismus, der im heutigen Predigttext angesprochen wird, so dass ich gar nicht an andere denken will. Das führt dazu, dass wir meinen, wir könnten alles alleine schaffen. Und das ist gefährlich, nicht nur für die anderen, weil sie dann missachtet werden, sondern vor allem für uns selbst. Was für ein Mensch bin ich denn, und was machen meine Besitztümer mit mir? Der Mensch, liebe Gemeinde, braucht andere Menschen und gleichzeitig sind andere auf unsere Hilfe angewiesen. Das ist auch die Bedeutung der Kirche, die in ihrem Wesen eine Gemeinschaft ist, und ohne solche Rücksichtnahme und Fürsorge unter den Menschen kann die Kirche nicht bestehen.
Die Habgier, liebe Gemeinde, zerstört aber nicht nur die Beziehungen zu den anderen, sondern auch die familiären Beziehungen. Wie oft kommt es vor, dass Geschwister untereinander wegen Geld oder wegen des Erbes Konflikte haben? Und dann reden sie jahrelang nicht mehr miteinander. Von einer ähnlichen Situation lesen wir gleich zu Beginn des heutigen Predigttextes. Ein Mensch aus der Volksmenge kommt zu Jesus und bittet ihn, seinen Bruder zu verpflichten, das Erbe mit ihm zu teilen. Doch Jesus möchte diesen Erbstreit nicht schlichten, sondern er spricht das Problem selbst an, die Habgier, die das Ergebnis eines selbstbezogenen Lebens ist.
Manchmal sind es Dinge, von denen wir gar nicht ahnen, dass sie uns daran hindern, uns um andere Menschen zu kümmern. Manchmal ist es unser Beruf, aber auch die Ehrenämter und Hobbys, die wir ausüben, die keine zwischenmenschlichen Beziehungen zulassen, weil sie uns irgendwie in Beschlag nehmen, und wir übersehen andere Dinge, die vielleicht wesentlich sind. Entsprechend gemeinschaftszerstörend wirken sie sich dann aus.
Und manchmal ist es einfach die Tatsache, dass alles gut läuft, die uns die Bedürfnisse der anderen übersehen lässt. Wir beschäftigen uns so sehr mit dem, was wir tun, dass wir Gott und die anderen vergessen; Gott, der alles Gute gibt, und die anderen Menschen, die in Not sind. Ähnlich wie der reiche Kornbauer könnte man denken, dass man alles selbst gemacht hat, und sich dann den Erfolg sich selbst zuschreibt. Im Ergebnis wird man auf andere herabschauen, denen es anscheinend weniger gut geht, wobei meint man, dass der eigene, scheinbar selbst geschaffene Reichtum einem ein gutes Leben und Wohlstand sichern kann. Und dann, in einer solchen Situation kann plötzlich der Tod hereinbrechen. Und wir werden mit der Realität konfrontiert, dass die Hoffnungen auf irdische Güter und die Sicherheitsmaßnahmen, die wir getroffen haben, nicht mehr helfen. Diese können uns keine letzte Sicherheit bieten. Die Frage nach der Sicherheit im Leben, nach der Absicherung des Lebens selbst ist die Kernfrage im Predigttext. Denn der reiche Korbbauer möchte nicht nur mehr Ernte haben, sondern vor allem möchte er sich seine eigene Zukunft sichern. Es geht also um die Sicherung dessen, was man hat.
Darüber hinaus ist die Habgier nicht nur auf der persönlichen Ebene ein Problem, sondern auch auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene. Man möchte immer mehr und mehr haben, auch auf Kosten der anderen. Soziale Gerechtigkeit findet in diesem Fall also keine Beachtung, denn das „Wir“ hat für uns einen größeren Wert als das „sie“ und so werden wir alles tun, um unsere eigenen Vorteile zu sichern. Und so sind wir in eine Zeit eingetreten, in der die Politik im weitesten Sinne gewinnorientiert ist und im Wesentlichen darin besteht, Wege zu finden, um von den Konflikten und dem Niedergang anderer Gesellschaften zu profitieren. Ein aktuelles Beispiel für politische Ungerechtigkeit ist Aserbaidschans Militäroffensive in Berg-Karabach. Mit dem Ziel einer ethnischen Säuberung griff Aserbaidschan am 19. September, also vor einigen Tagen, Berg-Karabach an, eine Region, die mehrheitlich von Armeniern (etwa 120 000 Menschen) bewohnt wird. Mehr als 90 000 Armenier mussten Berg-Karabach seither verlassen. Was ist das, wenn nicht ein Ausdruck des Verlangens, mehr und mehr zu besitzen?
Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit wird in der Schriftlesung, die wir gehört haben, angesprochen. Der Prophet Jesaja beschreibt die Gerechtigkeit Gottes (Jesaja 58,7-12). Damit ist gemeint: niemanden unterjochen und über niemanden übel reden, sondern den Hungrigen dein Herz finden lassen und den Elenden sättigen. Es geht also nicht um äußere Gerechtigkeitsansprüche, sondern darum, das eigene Brot mit den Armen und Ausgestoßenen zu teilen.
Um die Frage zu beantworten, die ich am Anfang dieser Predigt gestellt habe: Kann ein Mensch allein glücklich sein? würde ich für Sie ein Dreieck auf ein Stück Papier zeichnen (wenn ich eines hätte). Auf die eine Ecke würde ich „Ich“ schreiben. Auf den zweiten Eckpunkt würde ich „Gott“ schreiben. Und Gott steht hier nicht nur für ein Bild, das sich aus einer bestimmten religiösen Orientierung ergibt, sondern Gott steht für alles Spirituelle in uns und um uns herum, auch für Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Aber wissen Sie, das Dreieck ist noch nicht vollständig. Auf den dritten Winkel stehen „die anderen“, alle anderen Menschen. Und hier sollte es keinen Unterschied zwischen den Reichen und den Armen geben, zwischen denen, die ich kenne und denen, die ich nicht kenne. Hier sind alle anderen Menschen wichtig. Aber warum eigentlich? Reicht es nicht aus, wenn ich hier „Familie“ oder „Großfamilie“ schreibe? Nein, das reicht nicht.
Denn die Großfamilie ist gewissermaßen im „Ich“ enthalten, besonders wenn ich meine Großfamilie als wesentlich für meine eigene Existenz ansehe. Irgendwann in unserem Leben, liebe Gemeinde, müssen wir erkennen, dass das „Ich“ oder die „Familie“ immer noch die „Anderen“ braucht. Vielleicht sind die Anderen die Nachbarn, mit denen wir seit Jahren schon nicht mehr reden. Hierin liegt die einzige Möglichkeit für uns, nicht das Opfer von Selbstbezogenheit zu werden. Ohne die Anderen bleiben wir im geschlossenen Kreis des Selbst und der Familie, und unser Leben kann nicht an Tiefe und Reife gewinnen. Und wir werden unser Vertrauen in die Güter setzen, die wir haben. Aber nur dadurch, dass wir Platz für Gott und für andere machen, können wir aus dem geschlossenen Kreis herauskommen und uns aus den Abhängigkeiten von irdischen Gütern befreien.
Liebe Gemeinde, die Botschaft des heutigen Predigttextes ist mit diesem Satz zusammengefasst: „Denn niemandes Leben hängt von dem Überfluss ab, den er an Gütern hat.“ Demnach, liebe Gemeinde, „habt acht und hütet euch vor der Habsucht!“ Und ihr, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, baut euer Leben weder auf Gold noch auf Stein, sondern auf das Wort Gottes, das Geist und Leben ist. Amen.