Merkmale eines Lebensweges (Im Gegensatz zu den meisten Sozialtheorien)

Merkmale eines Lebensweges

(Im Gegensatz zu den meisten Sozialtheorien)

 

(Micha 6,6-8)

 

Womit soll ich vor den HERRN treten, mich beugen vor dem erhabenen Gott? Soll ich mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern vor ihn treten? Hat der HERR Wohlgefallen an Tausenden von Widdern oder an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen geben für meine Übertretung, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele?

 

Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: Was anders als Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott?

 

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Liebe Gemeinde, an diesem Sonntag, an dem wir das Erntedankfest feiern, wollen wir Gott für all das Gute danken, das wir in unserem Leben genießen. Und wir erkennen, dass die Dankbarkeit selbst das größte Geschenk ist. Dankbarkeit, im tiefsten Sinne, ist nicht abhängig von unserem Reichtum oder Beruf, und auch nicht von unserer Gesundheit, obwohl dies natürlich Dinge sind, für die wir dankbar sein können und sollen, aber Dankbarkeit ist mehr als das. Dankbarkeit ist die Dankbarkeit des Herzens für das Geschenk des Lebens und das Geschenk, der Mensch zu sein, der wir in dieser Welt sind. Und so bringen wir unsere Gaben hier in die Kirche ein und wollen damit unseren Dank zum Ausdruck bringen, indem wir das mit anderen teilen wollen, was uns bereits geschenkt wurde. In einem ähnlichen Sinne fragt der Prophet Micha im heutigen Predigttext: Womit soll ich vor den HERRN treten, mich beugen vor dem erhabenen Gott? Der Prophet fragt weiter: Soll ich Gott Brandopfern bringen, Kälber, Widdern, oder sogar meinen Erstgeborenen? Und wenn wir in unserem Herzen über die Frage des Propheten nachdenken, werden wir die Antwort erkennen. Gott braucht keine Opfer für sich. Die Antwort der Frage kommt doch etwas später im Predigttext: Der Mensch soll Recht tun, Liebe üben und demütig mit Gott wandeln.

 

Ich möchte heute, liebe Gemeinde, diese drei, Recht tun, Liebe üben und demütig mit Gott wandeln, als Merkmale eines Lebensweges bezeichnen. Diese drei sind keine Aufgaben, die man einmal tut und die dann abgeschlossen sind. Vielmehr kennzeichnen diese drei zusammen eine Lebensweise, und deshalb kommt im Text der Ausdruck „mit Gott wandeln“ vor, eine Lebensweise, nach der wir jeden Tag leben, jeden Tag wandeln sollen. Und es ist meine Überzeugung, dass unter diesen drei die Demut die Voraussetzung für die anderen beiden ist, d.h. ich brauche Demut, um anderen Recht zu tun, aber auch um Liebe üben zu können. Aber warum sollte Demut die Voraussetzung für Gerechtigkeit und Liebe sein?

 

Nur, liebe Gemeinde, wer demütig ist, kann anderen Gerechtigkeit widerfahren lassen, und ich würde sagen, umgekehrt ist es auch richtig, dass derjenige, der anderen Recht tut, ein demütiger Mensch ist. Und doch ist die Demut eine große Herausforderung für uns heute, da wir Teil einer Kultur sind, die in hohem Maße individualistisch geprägt ist, in der die Demut kein Thema zu sein scheint. In einer solchen individualistischen Kultur legen die Menschen oft großen Wert darauf, sich hervorzuheben und einzigartig zu sein. Daher wird die Unabhängigkeit von anderen in der Regel als erstrebenswert bewertet, während es oft als beschämend oder peinlich angesehen wird, andere um Hilfe zu bitten. Infolgedessen ist es nicht nur unwahrscheinlicher, dass Menschen anderen helfen, sondern vor allem, dass sie andere um Hilfe bitten, wenn sie sie brauchen. Stattdessen denken Menschen oft, dass sie ihre Rechte einfordern, indem sie es vermeiden, demütig zu sein. Demnach haben die Rechte des Einzelnen einen höheren Stellenwert, so dass die Rechte anderer fast völlig außer Acht gelassen werden. Und so können wir verstehen, wie schwierig ist „demütig mit Gott zu wandeln“. Ist die Demut denn etwas Gutes? Sollten wir uns bemühen, demütig zu sein, oder ist es besser, die Demut gar nicht erst zu thematisieren? Was sollen wir dann mit dem heutigen Predigttext tun?

 

Im Gegensatz zu den meisten Sozialtheorien, die die Gesellschaften der Welt in zwei große Kategorien einteilen, nämlich in die so genannten individualistischen Gesellschaften, in denen das Individuum im Mittelpunkt steht, und in die kollektiven Gesellschaften, in denen die Gesellschaft oder eine Gruppe von Menschen im Vordergrund steht, präsentiert uns die Bibel einen anderen Ansatz. Aus biblischer Sicht ist zwar das Individuum, d.h. jeder einzelne Mensch, wesentlich, doch wird der Mensch durch seine Beziehung zur Welt geschaffen. Nach Ansicht der Bibel ist der Mensch ohne die Gemeinschaft nicht denkbar, denn durch seine Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen, lernt der Mensch zu lieben und zu verzeihen, gerecht und demütig zu sein. Für die Bibel sind also beide Vorstellungen von Gesellschaftsformen unzureichend. Vielmehr ist es der Mensch in seiner Beziehung zur Welt und zur Gesellschaft, der zur Entfaltung seiner Identität gelangen kann und somit den Instinkt der Selbstliebe überwindet.

 

Nach dieser biblischen, oder christlichen, Perspektive liegt die Besonderheit des Menschen nicht in dem, was er tut oder leistet. Der Mensch muss nicht notwendigerweise etwas ganz Besonderes tun, um bemerkenswert zu sein. Die Besonderheit des Menschen liegt auch nicht in dem, was er besitzt oder was er weiß, sondern die Besonderheit eines jeden Menschen liegt in seinem Inneren, das ihm bereits als Gnade geschenkt ist und das er sich nicht verdienen muss, sondern in seinem Leben entdecken und entfalten kann und dies durch seine Beziehung zu den anderen Menschen.

 

In unserer Gesellschaft wird aber Demut in der Regel missverstanden, so dass sie meist als Schwäche angesehen wird. Wenn also jemand demütig spricht oder handelt, wird er in der Regel als jemand angesehen, der einen schwachen Charakter hat, der sich in der Gesellschaft nicht durchsetzen kann. Was sollen wir dann über Demut sagen? Ist sie also etwas, das gegen den Menschen wirkt, so dass der Mensch, wenn er sich demütig verhält, nicht mehr im Mittelpunkt steht?

 

Wenn ich in der Bibel nach einer Antwort suche, fällt mir als erstes Josef ein, der von seinen eigenen Brüdern an Fremde verkauft wurde. Seine Brüder wollten ihn nicht haben, sie waren neidisch und sie hassten ihn. Aber Josef hat seine Demut nicht verloren. Dass er weiterhin demütig mit Gott wandelte, wie auch immer die je aktuelle Lebenssituation war, öffnete ihm viele Türen. Durch seine Demut, die seine Person geprägt hat, konnte Josef sich trotz allem um andere kümmern, und so erzählt uns die Bibel, dass er sich um das Wohl der ganzen Gesellschaft bemühte und dass er seinen Brüdern verzeihen konnte, die viel Böses gegen ihn begangen hatten. Und seine Demut hat ihn nicht daran gehindert, seine Ambitionen in der Welt zu verwirklichen, Ambitionen, die aber auch dem Wohl aller anderen dienen und so Gerechtigkeit ermöglichen. Demut ist also keine Schwäche, die gegen uns oder unsere Ambitionen wirkt, sondern genau das Gegenteil. Es ist der Stolz, der unsere Entwicklung hemmt. Demut lässt uns erkennen, dass wir andere einfach brauchen, um zu existieren und der zu sein, der wir sind, und dass andere auch uns brauchen. In der Demut selbst liegt also eine Art geheime Kraft. Und noch deutlicher: Die Kraft liegt darin, demütig mit Gott zu wandeln. In diesem Sinne hat auch Jesus gesagt: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen!“ (Matthäus 11,29).

 

Demut ist in diesem Sinne selbst eine Größe, die nur wenige erzielen und sie erreichen, denn durch sie bewegt sich der Mensch vom eigenen Selbst zum Anderen und kehrt zum Selbst zurück, und durch diese Reise erkennt und erreicht er vieles, was er ohne Demut nicht erreichen kann. Demut bedeutet also Offenheit, aber auch die Bereitschaft, zu leiden und die Schwierigkeiten des Lebens durchzustehen, und dies ohne Arroganz oder Überlegenheit anderen gegenüber, sondern nur mit Gott, der die Quelle aller Kraft ist.

 

Die Demut ist das Ergebnis der Dankbarkeit, denn sie erkennt an, dass alles, was man hat, einem geschenkt ist, und sie ist daher auch bereit, es mit anderen zu teilen, und dadurch werden Gerechtigkeit und Liebe erreicht.

 

In diesem Sinne, liebe Gemeinde, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, fürchtet euch nicht davor, anders zu sein, im Sinne von demütig sein, in der Gesellschaft, und fürchtet euch nicht davor, Ambitionen und Hoffnungen für die Zukunft zu haben. „Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein? [schreibt Paulus] Er, der sogar seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht auch alles schenken? Amen.

 

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Lieber Gott, unser Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde.

 

Wir kommen heute zu dir in Dankbarkeit für all das Gute, das wir genießen,

 

und für all das Gute, das wir haben.

 

An diesem Sonntag denken wir an die, die weniger privilegiert sind.

 

Wir denken an die Kinder des Diaspora Hauses Bietenhausen,

 

die nicht in ihren Häusern leben können und weit weg von ihren Eltern sind.

 

Lasst sie Gott dennoch dankbar und fröhlich sein,

 

gewähre ihnen alles, was sie brauchen, und mache unsere Gaben zu einem Segen für sie.

 

Heute denken wir an all die leidenden Menschen in der Welt.

 

Gott, gib ihnen Kraft und Zuversicht

 

damit sie, auch wenn sie durch die Schwierigkeiten des Lebens gehen,

 

deine Gnade spüren und auf deine Barmherzigkeit vertrauen können.

 

Wir bitten dich, hilf uns, jeden Tag demütig mit dir zu wandeln,

 

hilf uns, andere Menschen und ihre Bedürfnisse nicht außer Acht zu lassen,

 

sondern mach uns bereit, auf jede Weise dazu beizutragen, dass Gerechtigkeit in der Welt entsteht.

 

Heute wollen wir dir für Christine Rösner und Eva Gerber danken,

 

für ihren Dienst und ihr Wirken in unserer Kirche.

 

Gib ihnen Gott die Kraft, ihren Dienst treu zu tun,

 

und segne ihr Leben, damit auch sie zum Segen für andere werden.

 

Sylvie Avakian / 08.10.2023