Nicht ohne Zerbrechlichkeit

Nicht ohne Zerbrechlichkeit

 (1.Mose 1,26-28a)

 

Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen nach unserem Bild, uns ähnlich; die sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde, auch über alles Gewürm, das auf der Erde kriecht! Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie. Und Gott segnete sie.

 

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Ein Großteil der Konflikte und des Leids in der Welt wird dadurch verursacht, dass Menschen und Völker das Gute in anderen nicht sehen, oder nicht sehen wollen, weil sie oft so sehr mit dem eigenem Selbst und den eigenen Interessen beschäftigt sind. Im Gegenteil, Menschen teilen oft andere Menschen in zwei Gruppen ein: die Guten und die Bösen. Manchmal wird diese Einteilung sogar durch die Bibel begründet, nämlich dass Gott das Licht vom Dunkel getrennt hat, oder das Gute vom Bösen. Es wird dann behauptet, die Guten seien die Gerechten, die ein Leben in Würde verdienen, während die Bösen Rache und Vergeltung verdienen. Im religiösen Kontext wird sogar behauptet, dass die Guten nach dem Tod in den Himmel kommen, während die Bösen zu ewigem Verderben in der Hölle verdammt sind.

 

Es gibt mehrere Gründe, warum die meisten Menschen auf individueller Ebene sowie in einer Gesellschaft oder in einem Land diese Unterscheidung zwischen den Guten und den Bösen vornehmen: Unter anderem ist ein wichtiger Grund die Behauptung, dass eine solche Unterscheidung eine Art moralische Befriedigung verschafft. Die meisten Menschen, auch diejenigen, die sich nicht an eine Kirche gebunden fühlen, brauchen eine Art moralische Befriedigung, um es glauben zu können, dass sie das Gute tun und gute Entscheidungen treffen, nämlich dass sie selbst zu den „Guten“ gehören. Und demnach unterscheiden sie zwischen dem „Wir“ und dem „sie“. Wir können das auch auf der Ebene der verschiedenen Länder oder Völker sehen, so dass man sagen würde: Wir sind die Guten, wir wissen alles besser, wir sind gebildet, während die anderen ungebildet sind, und sogar eine Gefahr für uns. Vor diesem Hintergrund können wir auch die meisten ethnischen Säuberungen verstehen, die heute noch stattfinden, auch wenn sie nicht unter diesem Namen durchgeführt werden, sondern zum Beispiel als Verteidigung der eigenen Existenz oder als Unterstützung für die Schwachen, die Hilfe brauchen, deklariert werden. Und somit wollen viele Länder ihre Macht in der Welt auf Kosten andere Völker sichern, unter dem Deckmantel, das Gute zu tun und Gerechtigkeit in der Welt zu verwirklichen.

 

Von dieser allgemeinen Beschreibung, der Verhältnissen zwischen Menschen und Völkern möchte ich, liebe Gemeinde, zu einer persönlicheren Ebene übergehen. Und die Frage, die ich heute stellen möchte: Wie kann ich das Gute in anderen sehen und warum sollte ich das überhaupt tun? Reicht es nicht aus, wenn es mir und meiner Familie und vielleicht auch denen, die mir nahestehen, dass es uns gut geht, dass unsere Rechte und unsere Sicherheit gewahrt sind?

 

Um eine Antwort geben zu können, möchte ich die Geschichte von Zachäus heranziehen. So erzählt uns das Lukasevangelium, dass Zachäus ein reicher Oberzöllner in Jericho war, der gerne Jesus sehen wollte. Er konnte es aber nicht wegen der Volksmenge; denn er war von kleiner Gestalt. Und so lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte Jesus vorbeikommen (Lukas 19,2-4). Als Hintergrund wissen wir, dass Zachäus, als Oberzöllner, nicht nur das Recht hatte, im Rahmen seines Berufes Steuern in seinem Gebiet einzutreiben, sondern auch einen Gewinn zu erzielen. So wurde Zachäus nicht nur wegen seiner angeblichen Kollaboration mit den Römern, die damals die fremde Besatzungsmacht in der Region waren, von der Gesellschaft abgelehnt und gehasst, sondern auch wegen der hohen Gebühren, die er stets kassierte, um für sich selbst einen Gewinn zu sichern. In diesem Sinne hatte er alle möglichen schlechten Eigenschaften, um von den Menschen, wenn nicht sogar von der ganzen Gesellschaft abgelehnt zu werden. Er galt als Verräter und als gieriger Mann, der anderen ungerechterweise mehr als die erlaubten Steuern abnahm.

 

Und wir lesen, dass Jesus sich ihm nähert. Wird er ihn sehen können? Doch Jesus hebt seinen Blick und sieht ihn an. Und hier werden wir mit der Jahreslosung erinnert: „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Jesus sprach Zachäus mit seinem Namen an und sagte ihm, dass er sein Haus besuchen wolle.

 

Die Menschenmenge, die dort anwesend war, war schockiert, dass Jesus, ein religiöser Meister, sich durch den Besuch bei einem Sünder blamieren würde. Sie können, liebe Gemeinde, sich vorstellen, was dann geschah. Die Leute, die wahrscheinlich damit beschäftigt waren, Zachäus zu beschimpfen, verlagerten nun ihr Interesse auf Jesus, der es nun verdient hatte, überfallen und beleidigt zu werden.

 

In diesem Sinne sagen wir, liebe Gemeinde, dass Jesus unsere Sünden auf sich genommen und für unser Versagen sogar mit seinem Leben bezahlt hat. Und so können wir die Worte der Bibel verstehen: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verlorengehen; uns aber, … ist es eine Gotteskraft“ (1.Kor.1,18).

Niemand sonst würde es wagen, das zu tun, was Jesus getan hat, deshalb scheint das Wort des Kreuzes immer eine Torheit zu sein, nicht akzeptabel für die große Mehrheit der Menschen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass das Heil und der Friede in der Welt ohne die Zerbrechlichkeit, ohne das Kreuz, nicht verwirklicht werden können.

Wir dürfen heute Jesu Blick auf Zachäus und seine Aufforderung an ihn, vom Baum herabzusteigen, als Aufforderung an uns verstehen, von unserem Stolz herunterzusteigen, unsere eigenen Sorgen und Ängste, aber auch unsere Berechnungen und Kalküle loszulassen.

 

Auf diese Weise konnte Jesus den Menschen Zachäus sehen, den gerechten Zachäus, wie sein Name auf Hebräisch bedeutet (Zachäus: unschuldig, rein). Jeder Mensch ist sowohl gerecht als auch irrend, denn jeder Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen und trägt dieses Bild in sich, so haben wir im Predigttext gehört: „Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild“ und doch lebt der Mensch in einer Welt, die Irrtum zulässt.

„Zachäus aber trat hin und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich jemand betrogen habe, so gebe ich es vierfältig [vierfach] zurück! Und Jesus sprach zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“ (Lukas 19,8-9)

 

Zachäus symbolisiert für uns heute die Kirche. Die Kirche ist nicht perfekt, wie jeder von uns. Wir sind keine perfekten Menschen, und schon gar nicht die Guten, die den Bösen gegenüberstehen. Jesus hat in seinem Leben keinen Unterschied zwischen Menschen und Gruppen gemacht. Er vergab denen, die ihn gekreuzigt hatten, und betete für den Räuber, der neben ihn ans Kreuz genagelt war. Dennoch bleibt die Kirche unsere einzige Hoffnung, die durch nichts anderes ersetzt werden kann, auch nicht durch das, was die Moderne uns bringt (Digitalisierung, künstliche Intelligenz...). Die Kirche ist die einzige Hoffnung, dass unser wahres Wesen gesehen und gewürdigt werden kann und dass wir uns erheben können, um das Ebenbild Gottes in uns zu erreichen.

 

Liebe Gemeinde, es ist uns allen nicht unbekannt, welch schwierige Zeiten die verschiedenen Länder der Welt, und damit auch wir, durchmachen. Und was ich heute sagen möchte, ist, dass der Friede in dieser Welt nur dann Wirklichkeit werden kann, wenn wir Raum für andere schaffen, was meistens nicht so einfach ist und vielleicht sogar Zerbrechlichkeit und Gebrochenheit erfordert und als Torheit angesehen wird. Und es steckt viel Wahrheit in dem Spruch, dass man selbst leiden muss, um das Leiden der anderen zu verstehen.

 

Ich möchte die Predigt mit einem Zitat vom russischen Schriftstellers Leo Tolstoi beenden: „Wenn du Schmerz fühlst, bist du am Leben, wenn du den Schmerz anderer Menschen fühlst, bist du ein Mensch.“ Amen.

 

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Gott, unser Vater und Vater aller Menschen,

 

wir danken dir heute, weil wir zu dir kommen können und du uns sehen wirst,

 

wir können beten und du wirst uns erhören.

 

Gib uns Augen, um das Leid der anderen zu sehen,

 

Ohren, um ihren Schrei zu hören,

 

und Herzen, um ihren Schmerz zu fühlen.

 

Du bist ein Gott, der sieht, hört und fühlt,

 

und du hast uns nach deinem Bild geschaffen,

 

Menschen, die für andere da sein können.

 

Jesus, du warst für die Menschen da,

 

Du konntest Zachäus sehen, hilf uns, andere zu sehen und ihnen die Hand zu reichen.

 

Nicht zu urteilen, sondern zu lieben,

 

nicht Rachewünsche in uns zu tragen, sondern zu verzeihen.

 

Gib uns deinen Frieden, Gott, Heiliger Geist,

 

und schenke deinen Frieden der ganzen Welt.

 

Gib Trost allen leidenden Menschen in dieser Welt

 

und Stärke allen, die trauern.

 

Gewähre deine Lenkung, Heiliger Geist, allen,

 

die Entscheidungen zu treffen haben,

 

auf dass sie deine Gerechtigkeit nicht übersehen.

 

Möge deine Gerechtigkeit walten, Gott, und nicht unsere,

 

dein Wille geschehe und dein Reich komme. Amen.

 

Sylvie Avakian

 

21.10.2023