Das Leid ins Licht

Das Leid ins Licht

(Römer 8,18-25)

 

 

Denn ich bin überzeugt, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll. Denn die gespannte Erwartung der Schöpfung sehnt die Offenbarung der Söhne Gottes herbei. Die Schöpfung ist nämlich der Vergänglichkeit unterworfen … auf Hoffnung hin, dass auch die Schöpfung selbst befreit werden soll von der Knechtschaft der Sterblichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung mitseufzt und mit in Wehen liegt bis jetzt; ... Denn auf Hoffnung hin sind wir errettet worden. Eine Hoffnung aber, die man sieht, ist keine Hoffnung; denn warum hofft auch jemand auf das, was er sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so erwarten wir es mit standhaftem Ausharren.

 

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Liebe Gemeinde, der Apostel Paulus beschreibt in diesem Text zwei verschiedene Realitäten, die wir als Menschen mit der ganzen Schöpfung erleben. Die beiden Realitäten oder Erfahrungen sind die Leiden in unserem Leben. Paulus sagt: „die Leiden der jetzigen Zeit,“ und die zweite Erfahrung ist die versprochene Herrlichkeit und Erlösung, die folgen werden. Über die zweite Erfahrung schreibt er, dass „die Schöpfung selbst befreit werden soll von der Knechtschaft der Sterblichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit“. Dennoch möchte ich heute behaupten, dass wir Menschen uns dafür entscheiden können, ob wir in unserem Leben, diese beiden Erfahrungen durchmachen möchten und können, oder eher versuchen wollen, sie zu vermeiden, sie zu umgehen. Es wäre jedoch wichtig zu erkennen, dass, wenn wir uns für die Erfahrung des Leidens entscheiden, die Hoffnung auf Erlösung und Herrlichkeit folgen wird. Um Heil und Erlösung zu erreichen, müssen wir also durch die Erfahrung des Leidens gehen. Die Erfahrung des Leidens ist, sozusagen, eine Voraussetzung für die Hoffnung auf Erlösung und Befreiung.

 

Aber wie sollen wir entscheiden? Wenn wir jetzt von Schmerz und Leid und dann von Hoffnung auf Herrlichkeit hören, könnten wir sofort sagen: Aber warum sollte ich leiden? Ich würde lieber Schmerzen und Leiden in meinem Leben aus dem Weg gehen. Denn „Wo wir mit Leid konfrontiert sind, suchen wir, es meist so schnell wie möglich auszumerzen.“ (M. Gese, A & B, 19, 2.Oktober 2023, 5)

 

Und so ist es in unserer Zeit ein weitverbreitetes Phänomen, dass Menschen ihren Schmerz verdrängen, ihn verstecken, ausblenden, zudecken und ihn sogar übersehen und nicht zugeben. Aber warum tun wir das? Vielleicht weil wir denken, dass es eine Schwäche ist, Schmerzen zu haben, oder leiden zu müssen. Oft wollen wir den Anschein erwecken, dass es uns gut geht. Wir wollen sogar als glücklich angesehen werden, das Leben genießen, in den Urlaub fahren. Kurz gesagt, wir wollen den Menschen sagen, dass wir glücklich sind und dass wir alles haben, was wir brauchen. So leben wir tage-, monate- und jahrelang mit unserem verdeckten Schmerz, mit unserem uneingestandenen Versagen, und so finden wir uns mit der Intensität des Leidens ab, ohne uns jedoch einzugestehen, dass nicht alles in Ordnung ist.

 

Und selbst wenn wir unser eigenes Elend erkennen, versuchen wir oft um jeden Preis, es vor anderen zu verbergen. Und somit machen wir es unmöglich, dass die Wunden heilen, und wir akzeptieren, mit ihnen zu leben, mit all den damit verbundenen Folgen für unser Leben.

 

Und nun, wenn wir darüber nachdenken, warum wir unsere Wunden, unseren Schmerz verstecken, kommen wir vielleicht zu dem Ergebnis, dass wir eine Veränderung fürchten. Denn eine nicht zufriedenstellende Situation würde eine Veränderung erfordern, und meistens fehlt uns der Mut zur Veränderung. Oder wir denken, dass Veränderung nicht gut ist, weil sie anderen unsere Wunden offenlegt oder zumindest zeigt, dass wir nicht glücklich sind. Und so ziehen wir es vor, alles so weiterlaufen zu lassen, wie es seit Jahren läuft.

 

Darüber hinaus können wir den Schmerz anderer Menschen nicht verstehen, wenn wir unseren eigenen Schmerz verbergen. Wenn wir von dem Schmerz anderer hören, denken wir stattdessen, dass dieser Schmerz auf einer Schwäche dieser Menschen beruht. Anstatt sie zu verstehen, urteilen wir schnell über sie und wollen sie sogar als schwach, vielleicht nicht gebildet genug, nicht stark, usw. einstufen.

 

Liebe Gemeinde, der heutige Predigttext besagt, dass ähnlich wie die Wehen einer Mutter bei der Geburt eines Kindes, in Schmerz und Gebrochenheit, in Schwäche und Vergänglichkeit zugleich der Keim der Hoffnung, der Freude und der Kraft liegt. In dem Moment, in dem wir Schmerz empfinden, können wir die tröstende Kraft des Geistes Gottes in uns spüren.

 

Und eins ist wichtig: unseren Schmerz nicht zu verstecken, bedeutet nicht, unser Leid als tragisches Ereignis zu betrachten und darüber zu jammern und lamentieren, sondern darauf zu vertrauen, dass Gott in unserer Seele Frieden stiftet und uns von der Last des Leids und seiner Schwere befreit. Wenn wir uns also bewusst sind, dass nicht alles gut läuft, bedeutet das, dass wir es besser haben möchten. Dann können wir den Augenblick des Leidens ergreifen und ihn als Chance für einen neuen Lebensweg sehen. Und erst dann werden wir eine innere Verbundenheit mit allem Leben und mit allem Leiden erfahren. So liegt, liebe Gemeinde, im Schmerz das Heil und in der Enttäuschung eine neue Hoffnung, und die Einsamkeit macht den Menschen stark und fähig, alles durchzuhalten.

 

Heute möchte ich, liebe Gemeinde, einen Grund für das menschliche Leid darin sehen, nicht nur in den verschiedenen Lebenssituationen, die uns auferlegt werden können, sondern in der schlichten Erkenntnis, dass immer dann, wenn wir Gott vertrauen, der Geist Gottes uns den Grund gibt, auf mehr zu hoffen, als wir mit unseren Augen sehen können. Diese Hoffnung auf mehr eröffnet uns dann neue Wege, macht neue Träume möglich, lässt uns die Stimme der Leidenden in der Welt hören, und wir entscheiden uns zu helfen. Wir werden dann ungewohnte Wege gehen und bereit sein, den Preis dafür zu zahlen. In diesem Sinne macht diese „Hoffnung auf mehr“ das Leiden möglich und bringt zugleich das Heil, und ohne diese „Hoffnung auf mehr“ bleiben wir uns weder des Leidens noch der Hoffnung und des Heils bewusst.

 

Die Jünger Jesu sahen in Jesus dieses „Mehr“ für ihr Leben. Ihnen war klar: Jesus ist derjenige, der ihnen alles geben kann und für den sie alles zurücklassen können. Und deshalb folgten sie ihm. Heute ist Jesus nicht bei uns. Wie können wir dieses „Mehr“ erkennen und es von anderen Stimmen oder anderen Gelegenheiten im Leben unterscheiden, so dass wir ihm folgen? Nicht einfach mehr im Sinne von „mehr haben“, sondern im Sinne von „mehr Leben“, „mehr Freude“, „mehr Gerechtigkeit in der Welt“, „mehr Wahrheit“, „mehr Liebe“.

 

Liebe Gemeinde, dieses „Mehr“ begegnet uns mit jeder Einladung zu etwas Neuem im Leben, d.h. mit jedem Neuanfang. Es könnte ein neuer Anfang sein, um zu studieren, es könnte ein neuer Anfang sein, um zu arbeiten oder um mehr Verantwortung in der Arbeit zu übernehmen, es könnte auch ein neuer Anfang sein, wenn wir in den Ruhestand gehen, so dass wir wirklich etwas Neues beginnen können. Und die Frage, die bleibt: Wie kann ich diese Chancen nutzen, um das Mehr möglich zu machen: Mehr Gerechtigkeit, mehr Wahrheit, mehr Schlichtheit, und ein besseres Leben für alle, für die ganze Kreatur?

 

Dieses „Mehr“ kommt aber zu uns nicht nur an den wichtigsten Wendepunkten in unserem Leben. Und wir hören die Stimme Christi nicht nur ein- oder zweimal im Leben. Die Stimme Christi kommt zu uns mit jedem Schrei der Leidenden nach Gerechtigkeit, und wir dürfen sie nicht ignorieren und denken, sie sei nicht wichtig. Die Stimme Christi kommt jeden Tag zu uns und lehrt uns, barmherzig, verzeihend und mitfühlend zu sein. Die Stimme Christi überzeugt uns, nicht die einfachsten Wege zu gehen, sondern seinen Wegen zu folgen und sogar Risiken in Kauf zu nehmen und bereit zu sein für Herausforderungen, Mühen und Anstrengungen.

 

So sagt es auch der Prophet Micha: „damit er uns über seine Wege belehre und wir auf seinen Pfaden wandeln!“ (Micha 4,2). Lasst uns also darauf warten, die Stimme Christi zu hören. Lasst uns offen sein für ihn und alle Angst und alles Zögern von uns ablegen.

 

Der Predigttext lädt uns ein, uns des Leidens der ganzen Schöpfung bewusst zu sein und mit der ganzen Schöpfung in standhafter Beharrlichkeit auf Erlösung zu harren. Heute sind, liebe Gemeinde, die Stimmen der leidenden Menschen in der Welt laut. Möge Gott uns Herzen schenken, die sie erhören. Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

12.11.2023