Das Erbe Gottes

Das Erbe Gottes

(Galater 4,4-7)

 

Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, welche unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfingen. Weil ihr nun Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in eure Herzen gesandt, der ruft: Abba, Vater! So bist du also nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, dann auch Erbe Gottes durch Christus.

 

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Liebe Gemeinde, bis zum heutigen Tag gibt es in unseren christlichen Kreisen zwei Arten der Gotteswahrnehmung, die wir heute betrachten wollen. Bei der ersten Sichtweise handelt es sich um ein Gottesbild, demzufolge Gott weit von den Menschen entfernt ist. Gott wird von den Menschen verehrt und als Schöpfer, Herrscher, Befreier, barmherziger Gott, Gesetzgeber, aber auch manchmal als kämpferischer und strafender Gott wahrgenommen. Nach dem zweiten Gottesbild, das sich in Jesus Christus am deutlichsten offenbart hat, ist Gott ein Gott, der nicht fern von den Menschen bleibt, sondern Teil des menschlichen Lebens und Daseins ist.

Mit Jesus also änderte sich das Verständnis von Gott grundlegend. Denn in Jesus konnten die Menschen Gott sehen, der ganz nah und sogar Teil des menschlichen Lebens ist; ein Gott, der zu uns herabsteigt und Teil unserer Existenz wird.

Im ersten Gottesbild ist Gott ein großer und allmächtiger Gott, ein Gott, der über alles herrscht, zu dem die Menschen aber keinen direkten oder unmittelbaren Zugang haben. Die Menschen können keine innere Beziehung zu einem solchen Gott haben. Jesus hingegen nennt Gott einen Vater. Was hat es dann mit dem Wort „Vater“ auf sich?

 

Ein Vater ist jemand, der uns ähnlich ist. Wenn wir an unsere eigenen Väter denken, stellen wir fest, dass sie anders waren als wir, aber tief in unserem Herzen wissen wir, dass wir trotzdem zusammengehören. An dieser Stelle wird uns auch klar, dass Gott nicht im wörtlichen Sinne unser Vater ist, sondern eher symbolisch und wir meinen damit, dass Gott uns so nahe ist, wie ein Vater zu seinem Kind, und sogar noch näher als das. Dann kommen wir zu dem Schluss, dass das Wort „Vater“ etwas ausdrückt, was das frühere oder vorherrschende Gottesbild nicht vermittelte. Und genau das ist es, nämlich dass wir unsere Väter verstehen können, dass wir Zugang zu ihnen haben, oder hatten. Auch wenn wir nicht alles über unsere Väter verstehen, sind sie dennoch unsere Väter. Etwas von unseren Vätern ist in uns, sei es leiblich-biologisch oder in unserem Wesen oder Charakter. Trotz all unserer Unterschiede gehören wir zusammen oder gehörten zusammen. Und Jesus nennt Gott „Vater“ und lehrt seinen Jüngern und auch uns heute das Gleiche zu tun. Gott ist nicht mehr der unbekannte Gott, der irgendwo fern von den Menschen bleibt, der über alles herrscht und bereit ist auch zu strafen, wenn Menschen fallen. Gott als Vater hilft uns jedes Mal, wenn wir fallen, wieder aufzustehen. Gott nimmt unsere Schwäche an und trocknet unsere Tränen.

 

Dass wir Gott Vater nennen, bringt sehr viel mit sich. Es bedeutet, dass Mensch und Gott einander nicht fremd sind. Dass etwas von Gott in uns ist. Das ist es, was jedes Kind vom Vater erhält. Und für einen Vater ist der Sohn ein Teil von ihm. Diese Verbundenheit zwischen Vater und Kind wird noch deutlicher, wenn wir an die Verbundenheit und sogar Einssein zwischen Mutter und Kind denken. Ein Kind entsteht zuerst im Mutterleib. Die beiden Leben von Mutter und Kind sind in einem einzigen Leben miteinander verwoben. Die Existenz des einen macht die Existenz des anderen möglich, und die Beeinträchtigung des einen ist eine Beeinträchtigung für den anderen. Die Geburt Jesu aus Maria und unser Glaube, dass dieses hilflose Kind der Sohn Gottes ist, macht es möglich zu glauben, dass Mensch und Gott zusammengehören, dass sie einander nicht fremd sind. In diesem Sinne können wir also sagen, dass Gottes Kommen zu uns durch das geborene Kind es uns ermöglicht, uns Gott zu nähern, uns Gott ohne Angst zu nähern, uns Gott nicht wie ein Knecht seinem Herrn, sondern uns Gott wahrhaftig als Kinder eines Vaters zu nähern; ein Vater, oder eine Mutter, zu dem, oder zu der wir gehören und der immer für uns da ist, nicht gegen uns, sondern mit uns, als Unterstützung, als Beistand und Hilfe, als Quelle der Liebe und des Mutes.

 

Somit, liebe Gemeinde, beginnt mit Weihnachten der Zirkel des Glaubens. Der Glaubenskreis beginnt, wenn wir Gott in unserem Leben empfangen, indem wir das Jesuskind in unser Herz aufnehmen, so wie Maria es getan hat und Jesus in ihr Leben aufgenommen hat. Und um Jesus aufzunehmen, oder um Gott in unserem Leben zu empfangen, müssen wir zu Jesus kommen. In ähnlicher Weise haben wir in der Schriftlesung gehört, dass die Hirten zueinander sagten: „Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.“ Heute sind wir alle in die Kirche gekommen, weil auch wir das Kind sehen wollen. Wir wollen ihm begegnen und es in unser Leben aufnehmen. Aber wissen Sie? Das Kommen zu Jesus ist hauptsächlich eine Reise im Herzen. In unserem Herzen können wir beten und sagen: Lieber Jesus, du bist zu uns in diese Welt gekommen und du bist wie wir, als hilfloses Kind geboren. Heute wollen auch wir zu dir kommen. Wir sind bereit, unsere Bequemlichkeit zu verlassen, wie du es getan hast. Wir sind auch bereit zu leben und zu lieben, wie du es getan hast. Wir sind bereit zu verzeihen, wie du vielen Menschen verziehen hast.

 

Der Kreis des Glaubens, liebe Gemeinde, geht aber weiter. Er hört nicht mit Weihnachten auf. Wenn wir also Jesus empfangen, sollten wir uns auch um ihn kümmern, wie Maria es getan hat. Gott kommt zu uns in der Gestalt eines hilflosen Kindes, und wir sollten für das Kind und für Gott in unserem Leben sorgen. Und nun können Sie fragen: Wie sollen wir uns um Gott oder um Jesus kümmern? Wir kümmern uns jedes Mal um Gott und um Jesus, wenn wir uns um die Schwachen in dieser Welt kümmern, jedes Mal, wenn wir jemandem helfen, der in Not ist. Wir kümmern uns jedes Mal um Jesus, wenn wir einen Fremden aufnehmen, wenn wir unsere Hand ausstrecken und geben und das, was wir haben, mit anderen teilen, anstatt alles für uns selbst zu behalten.

 

Auf diese Weise setzt sich der Kreis des Glaubens weiter fort. Wir erheben uns zu Gott, wenn wir beten und Gott in uns empfangen, und dann kommen wir hinunter in die Welt und teilen die Liebe Gottes mit anderen. Die Bewegung ist dann manchmal aufwärts zu Gott und manchmal abwärts zu anderen Menschen. Und eins ist ganz wichtig. Um diesen Glaubenskreis in unserem Leben zu schaffen, haben wir eine große Hilfe. Uns ist der Geist des Sohnes gegeben. Es ist dieser Geist, der uns bewusst macht, dass wir in Gott frei sind. Gegen alle Einschränkungen, Grenzen und Mauern in dieser Welt erfahren wir Freiheit in Gott, in Gottes Geist.

 

Und so lesen wir im Predigttext, dass Gott uns den Geist des Sohnes in unsere Herzen gegeben hat, und durch diesen Geist dürfen wir rufen: „Abba, Vater“. Den Kreis des Glaubens, liebe Gemeinde, können wir dann nur mit und durch den Geist machen. Es ist der Geist in uns, der sich im Gebet zu Gott erhebt und Jesus in uns empfängt, und es ist auch durch den Geist, dass wir die anderen Menschen lieben, ihnen helfen und sie unterstützen.

 

Demnach können wir sagen, dass wir Gott in der Geburt Jesu als einen Gott erfahren, der tief mit uns verbunden ist. Gott bleibt also nicht oben und von uns entfernt, sondern kommt zu uns und wohnt unter uns und in uns. Durch das Kommen Gottes zu uns können wir auch zu Gott kommen. Wir können in unserem Herzen zu Gott hinübergehen und mit Gott uns vereinen durch eine innere Erhebung, durch ein Gebet des Herzens, nämlich durch das Band des Geistes. Dann sollen wir aber auch den Kreis schließen und uns der Welt, unseren Mitmenschen zuwenden und ihnen die Botschaft der Gottes Liebe und Barmherzigkeit überbringen.

 

Heute feiern wir Weihnachten, und das bedeutet, dass wir den Jesus feiern, der als Geist in uns wohnt, das heißt, als die Kraft, die uns von allen Fesseln befreit und uns von allen Mächten dieser Welt auslöst, die uns unmündig halten. Also, liebe Gemeinde, habt keine Angst, den Geist zu empfangen, er ist der Geist Christi, und durch ihn wird Jesus in uns geboren.

 

Und so schreibt Paulus: „So bist du also nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, dann auch Erbe Gottes durch Christus“ (Galater 4,6-7). Amen.

 

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Lieber Gott, unser Vater,

 

wir wollen heute zu dir kommen,

 

wir wollen dich in unser Leben aufnehmen,

 

dir einen Platz in unserem Herzen geben.

 

Wir wollen das Jesuskind empfangen,

 

wie Maria es tat, und auch für ihn sorgen.

 

Hilf uns, Gott, dass wir das tun können.

 

Wenn wir versagen, bitte vergib uns,

 

wenn unsere Kraft nicht ausreicht,

 

gib uns die Kraft deines Geistes.

 

Wenn wir Angst haben, gib uns den Mut,

 

wenn wir zögern, gib uns die Zuversicht, dir zu vertrauen.

 

Heute beten wir für die Welt,

 

für alle, die den Mächten dieser Welt verfallen sind,

 

für diejenigen, die immer mehr Macht haben wollen,

 

und für diejenigen, die Opfer der Mächtigen sind.

 

Gewähre Gott allen deinen Frieden, deine Wahrheit, dein Erbarmen, dein Licht.

 

Wir beten für unsere Familien, für unsere Lieben, für unsere Kirche,

 

für unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden,

 

bewahre Gott alle in deiner Gnade

 

und schenke uns dein Licht in dieser Weihnachtszeit,

 

damit wir es in der Welt erstrahlen lassen. Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian, 24.12.2023