Die Ewigkeit ins Herz

Die Ewigkeit ins Herz

(Prediger 3, 1.10-11)

 

 

Alles hat seine bestimmte Stunde, und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit.

 

Ich habe das mühselige Geschäft gesehen, das Gott den Menschenkindern gegeben hat, damit sie sich damit abplagen. Er hat alles vortrefflich gemacht zu seiner Zeit, auch die Ewigkeit hat er ihnen ins Herz gelegt — nur dass der Mensch das Werk, das Gott getan hat, nicht von Anfang bis zu Ende ergründen kann.

 

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Liebe Gemeinde, der Predigttext für heute aus dem Buch des Predigers befasst sich mit dem Thema „Zeit“. Das Buch des Predigers, auch Buch Kohelet genannt, gehört zu den Weisheitsbüchern der Bibel und wurde wahrscheinlich zwischen dem 4. und dem 2. Jahrhundert vor Chr. geschrieben. Das Buch erzählt also, wie Menschen weise leben können, und ermutigt auch die jungen Menschen entsprechend ihr Leben sinnvoll zu gestallten.

 

Der Predigttext fängt mit einer Einführung in das Thema „Zeit“ an, die besagt, dass alles, was unter dem Himmel geschieht, seine Zeit hat. Das ist ein weiser Spruch; ein Spruch, an den wir in unserem täglichen Leben oft denken müssen, um zwischen den Dingen unterscheiden zu können und zu wissen, wann der richtige Zeitpunkt für was ist. In Vers 10 erzählt der Autor von den verschiedenen Beschäftigungen der Menschen in der Welt und kommt zu dem Schluss, dass Gott alles zu seiner Zeit schön gemacht hat. Und doch bleibt ein großer Teil von Gottes Werk den Menschen verborgen oder unbekannt. Heute möchte ich allerdings bei einem Satz in Vers 11 verweilen, in dem es heißt: Gott hat den Menschen die Ewigkeit ins Herz gelegt. Was ist damit gemeint? Bedeutet dies, dass sich die Menschen nach der Ewigkeit sehnen, auch wenn sie zu Lebzeiten keinen Zugang dazu haben? Oder haben Menschen vielleicht doch Zugang zur Ewigkeit, weil es heißt, dass Gott die Ewigkeit ins Herz der Menschen gelegt hat? Wie haben denn Menschen Zugang zur Ewigkeit?

 

Ich meine, die Ewigkeit hat etwas mit unserem Leben zu tun, aber wie? Unser Leben hier in der Welt hat das Merkmal der Zeitlichkeit oder Vergänglichkeit, was eigentlich das Gegenteil von Ewigkeit ist. Kann unsere zeitliche Existenz es uns ermöglichen, die Ewigkeit hier in der Welt zu schmecken? Unsere Erfahrung mit der Zeit sagt uns, dass die Zeit drei Dimensionen hat: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wie könnten wir dann einen Blick auf die Ewigkeit werfen, wenn uns nur diese drei Dimensionen der Zeit zur Verfügung stehen?

 

Es sind diese drei Dimensionen der Zeit zusammen, die uns zu den Menschen machen, die wir sind, auch wenn wir meist der Versuchung unterliegen, die Vergangenheit und die Zukunft außer Acht zu lassen, um uns auf die Gegenwart zu konzentrieren. Das ist so, weil wir vielleicht denken, dass die Vergangenheit nicht so wichtig ist, oder dass wir einige Elemente der Vergangenheit außer Acht lassen könnten oder vielleicht sogar sollten, damit sie vergessen werden und wir in der Gegenwart wirklich präsent sein können. Zum Beispiel halten wir es meist für nicht mehr möglich, den Menschen zu verzeihen, die uns in der Vergangenheit viel Schmerz zugefügt haben, vielleicht weil Jahre vergangen sind und wir denken, dass das, was zerbrochen wurde, nicht mehr repariert werden kann. Aber die Vergangenheit gehört zu uns, und sie ist Teil dessen, was wir sind.

 

Was ist denn mit der Zukunft?

 

Die einfache Möglichkeit, liebe Gemeinde, dass wir eine Zukunft haben, egal wie lange, vielleicht Jahre oder Monate oder Tage, einfach diese Möglichkeit der Zukunft bedeutet, dass wir immer noch die Chance haben, die Menschen zu sein, die wir sein wollten; die Menschen, die wir sein sollen und vielleicht die Menschen, die wir bis heute nicht sein konnten. Die Zukunft birgt immer die Möglichkeit der Vollendung, des Ganzseins und der Wiederherstellung all dessen, was in unserem bisherigen Leben versäumt oder unerfüllt geblieben ist, aber auch die Möglichkeit, etwas Neues zu beginnen; etwas, das wir in der Vergangenheit vielleicht nicht gewagt haben. Und wissen Sie? Solche Veränderungen im Leben brauchen meistens nicht die Zeit oder die Anstrengung, die wir uns vorstellen, sondern sie brauchen Entschlossenheit und Willen; der Wille, der uns fehlen mag, weil wir denken, dass die Dinge bereits auf eine bestimmte Art und Weise gemacht, oder in Gang gebracht worden sind, sodass eine Veränderung unmöglich oder sehr schwierig zu sein scheint.

 

In der Schriftlesung haben wir gehört, dass es Maria ist, die Jesus bei einer Hochzeit in Kana auffordert, auf seine Zukunft hin zu handeln. Jesus hingegen will das Handeln zunächst aufschieben. Aber Maria gibt nicht auf. Und in diesem Moment gibt Jesus den Dienern Anweisungen, damit Wasser in Wein verwandelt wird und ein Blick in die Ewigkeit möglich wird. Demnach ist es möglich, liebe Gemeinde, zu sagen, dass die Zukunft die ursprüngliche Glut der Zeitlichkeit ist. Die Zukunft ist das, worauf wir hinleben und woran wir wachsen und uns so unserem wahren Selbst nähern. Und in der Zukunft liegt auch unser Tod, was bedeutet, dass das Leben auf die Zukunft hin ein Leben auf sein eigenes Ende hin ist. In diesem Sinne ist das Element der Zukunft sehr wichtig, und wenn wir es übersehen, übersehen wir das Potenzial in uns, ganz zu werden. Das hilft uns zu verstehen, dass unsere erhoffte Vollkommenheit nicht in all den äußeren Dingen liegt, die wir in diesem Leben haben oder besitzen. Aber um auf Vollkommenheit hoffen zu können, müssen wir den Schritt von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft wagen. Und man kann sagen, dass manchmal die Zukunft vor der Gegenwart kommt, weil es die Zukunft ist, die die Gegenwart formt und prägt.

 

Wenn wir also das Element der Zukunft betrachten, nach dem sich unser Leben auf seine Vollendung zubewegt, erkennen wir, dass der Zyklus der Zeit (von der Vergangenheit zur Gegenwart und zur Zukunft) bedeutet, dass wir immer die Chance haben, unser Leben neu zu errichten, nicht indem wir die Vergangenheit vergessen, noch indem wir die gleichen Schmerzen der Vergangenheit erleiden, sondern indem wir die Vergangenheit und die Gegenwart auf die Zukunft ausrichten und der Liebe Gottes erlauben, uns so zu verändern, dass wir auch andere lieben und ihnen vergeben können. Das ist deshalb wichtig, liebe Gemeinde, denn durch Fürsorge kann der Mensch auf Ganzheit und Vollkommenheit hoffen, und die erhoffte Vollkommenheit hat dann Fürsorge als Merkmal. Das kommt in der Bibel durch das größte Gebot zum Ausdruck, nämlich Gott und den Nächsten zu lieben, und damit auch durch die Möglichkeit, für andere „da zu sein“, so dass wir auf das Ganzsein mit allen anderen ausgerichtet sind. Die Fürsorge beruht also auf der Entfaltung des Selbst.

 

Denn genau darum geht es bei der Zukunft. Bei der Zukunft geht es um Hoffnung, um Hoffnung auf neues Leben, Veränderung, Fortschritt und Vollendung. Demnach dürfen wir uns der Zukunft bewusst leben, das heißt, die Zukunft als Chance sehen. Denn es ist auch möglich, zwanzig, dreißig oder vielleicht fünfzig Jahre weiter zu leben, aber ohne dieses Bewusstsein für die Bedeutung der Zukunft wird sich in unserem Leben nicht viel ändern. Es ist in diesem Sinne, dass die Zukunft die ursprüngliche Glut der Zeitlichkeit ist.

 

Wie gelingt es uns also, unser Leben auf die Zukunft auszurichten? Und haben wir dadurch die Chance, die Ewigkeit zu schmecken, wenn auch nur für einen Augenblick? In der griechischen Tradition gibt es eine andere Wahrnehmung der Zeit als die herkömmliche Chronologische, die die Griechen Kairos nannten. Zeit als Kairos entsteht, wenn der Mensch aus dem Alltag heraustritt und sein eigenes Leben von diesem Punkt aus betrachtet. Dieser Moment des Heraustretens aus dem eigenen Leben ist dann ein Moment der Erkenntnis und des Hinschauens. In diesem Moment schweigt die Stimme in uns, die uns immer dazu bringt, uns der Gesellschaft und den anderen anzupassen, und verleiht uns die Möglichkeit, frei von den Belastungen des Alltags zu sein und zu handeln. Wir werden dann die Dinge so sehen, wie sie sind, in ihrer Tiefe, in ihrer Wahrheit, auch manchmal in ihrer Hässlichkeit, klar und deutlich, so als hätten wir plötzlich die Perspektive gewechselt, durch die wir alles sehen, und hätten nun einen besseren Blick auf das, was ist, anstatt Opfer der Banalität des Alltags zu werden.

 

Vielleicht kommt man dazu, diese Zeit als bereits in der Ewigkeit befindlich zu erleben; als eine verwandelnde Zeit; eine Zeit, die dann auch dem Alltag Sinn und Bedeutung verleiht. In diesem Sinne wollen wir heute das Abendmahl feiern. Und in diesem Sinne wollen wir, liebe Gemeinde, auf das Vergangene zurückblicken, aber auch mit Dankbarkeit in die Zukunft schauen. Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

31.12.2023