Der Weg ins Nichts

Der Weg ins Nichts

(1.Korinther 1,26-31)

 

 

Seht doch eure Berufung an, ihr Brüder! Da sind nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme; sondern das Törichte der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen; und das Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, und das, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, damit sich vor ihm kein Fleisch rühme.

 

Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht worden ist zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung, damit [es geschehe], wie geschrieben steht: »Wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn!«

 

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Eine interessante Frage könnte lauten: Wie werden Personen für bestimmte Aufgaben in Unternehmen oder Gesellschaften ausgewählt? In der Regel basiert der Auswahlprozess bestimmter Qualifikationen, die erreicht werden müssen. So kann zum Beispiel eine bestimmte Ausbildung oder ein bestimmtes Studium Menschen darauf vorbereiten, in den Bereichen, in denen sie ausgebildet wurden, Verantwortung zu übernehmen. Bei anderen Gelegenheiten kann man feststellen, dass Institutionen Menschen einstellen oder engagieren wollen, von denen sie erwarten, dass diese den Bedingungen oder Vorstellungen der Institutionen und ihren Ansprüchen entsprechen. Bei wieder anderen Gelegenheiten wollen Institutionen oder Unternehmen Menschen unter dem Vorwand anwerben, ihnen Gutes zu tun oder einen Akt der Wohltätigkeit zu vollbringen. Aber in Wirklichkeit benutzen sie diese Auserwählten als Menschen zweiter Klasse, als Menschen, die eine Arbeit verrichten, die sie selbst nicht tun wollen. Sie brauchen diese Menschen also wirklich, aber sie erfüllen ihre Bedürfnisse unter einem Deckmantel. In wieder anderen Fällen stellen wir fest, dass manche Gruppen oder Gesellschaften bereit sind, nur die Menschen aufzunehmen, die ursprünglich schon zu ihnen gehörten, vielleicht zu ihren sozialen, religiösen oder politischen Kreisen.

 

Nur Gott, liebe Gemeinde, wählt alle Menschen aus. Und das ist die gute Botschaft. Um von Gott erwählt zu werden, müssen wir nicht in einen bestimmten Rahmen passen. Gott nimmt uns alle von Anfang an an, indem er uns erschafft, uns Leben schenkt und uns auch Gottes Atem gewärt, das heißt Gottes Gegenwart in uns und mit uns. Für Gott gibt es keine Voraussetzungen, um uns anzunehmen, und der Nachweis bestimmter Qualifikationen ist nicht notwendig. Für und vor Gott ist jeder Mensch wichtig und würdig, und jeder Mensch ist auserwählt.

 

Was bedeutet diese Aussage? Wir sagen immer, dass Gott alle Menschen liebt. Aber was ist damit wirklich gemeint? Wie kann uns diese Aussage helfen, wenn wir von der Gesellschaft allein gelassen werden? Wie kann diese Aussage helfen, wenn junge Menschen keine Freunde haben? Wie kann diese Aussage helfen, wenn manche Menschen keine Chance auf Arbeit haben? Heute möchte ich zwei Antworten auf diese Fragen geben.

 

Erstens: Wenn wir, liebe Gemeinde, die Aussage, dass wir als Menschen wertvoll und würdevoll sind, zu allen Zeiten und unter allen Umständen, wirklich ernstnehmen, dann hilft sie uns dabei im Leben nicht aufzugeben. In unserem täglichen Leben könnte das vielleicht bedeuten, dass wir uns als Schüler oder Jugendliche, die von Mitschülern belästigt werden, nicht kleinkriegen lassen, oder vielleicht als Erwachsene, die wir immer wieder an einen Punkt kommen, an dem wir an unserer eigenen Kraft und Fähigkeit zum Durchhalten zu zweifeln beginnen. Diese Aussage, dass Gott uns durch Jesus Christus jeden Tag zu einem neuen, würdigen Menschen macht, hilft uns, mit Vertrauen, auch mit Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein in die Welt zu gehen, ohne Angst zu haben oder vor bestimmten Zuständen weglaufen zu müssen. Wenn wir dieser Aussage vertrauen können, dann können wir hier in der Welt auch etwas bewirken. Diese Zuversicht, dieses Vertrauen, ist nicht dasselbe wie der Hochmut, den der Apostel Paulus in seinem Brief an die Korinther kritisiert. Die Gemeinde in Korinth, die der Apostel Paulus vor einigen Jahren gegründet hatte, fühlte sich bereits als Teil der himmlischen Welt und verhielt sich arrogant und verachtete sogar Paulus und seine Mitarbeiter. Selbstvertrauen hingegen ist nicht Arroganz, sondern Selbstvertrauen ist dasselbe wie Gottvertrauen. Das ist so, weil Gott derjenige ist, der das Licht Gottes, das Licht Christi, in unsere Herzen gibt, dem wir immer vertrauen und mit dem wir selbstbewusst leben können. Und dann soll jeder seinen eigenen Weg finden, dieses Vertrauen und diese Zuversicht zu seinem eigenen Wohl, aber auch zum Wohl der Gesellschaft und der anderen in seinem Leben einzusetzen.

 

Zweitens lässt uns diese Aussage, dass jeder Mensch in sich selbst wertvoll ist, erkennen, dass wir auch in unserem Innersten akzeptieren sollten, dass wir nichts brauchen, um zu sein, wer wir sind. Es reicht also nicht aus, zu denken, dass Gott nichts braucht, um uns anzunehmen oder zu lieben, sondern wir selbst sollten erkennen, dass wir nichts brauchen, um unseren Wert zu beweisen. Und mir scheint, dass dieser zweite Teil der Umsetzung dieser Aussage noch schwieriger ist als der erste. Denn die meiste Zeit in unserem Leben geraten wir in Versuchung, anderen, aber auch uns selbst, beweisen zu wollen, dass wir wichtig sind. Und das ist etwas, was wir jeden Tag lernen müssen, nämlich: Wir müssen lernen, uns von all den äußeren Abhängigkeiten zu befreien, die wir im Leben haben, von denen wir denken, dass sie aus uns das machen, was wir sind, die Dinge, die wir nur sehr schwer loslassen können. Und damit meine ich, dass wir uns in unserem Herzen befreien müssen. Und das bedeutet, dass wir lernen müssen, jeden Tag den Weg ins „Nichts“ zu gehen, und somit zu verstehen, was dieser biblische Vers bedeuten könnte, nämlich, dass Gott das, was nichts ist, erwählt hat, damit er zunichtemache, was etwas ist.

 

Wenn wir den Weg ins Nichts gehen, lernen wir, dass wir selbst wertvoll sind, nicht das, was wir haben oder tun können, nicht das, wie wir in der Gesellschaft aussehen, sondern das, was wir im Inneren sind. Und es scheint mir auch, dass genau hier der Unterschied zwischen Hochmut und Vertrauen liegt. Hochmut ist Hochmut über äußere Dinge. Vertrauen, auch Selbstvertrauen, gründet in dem Licht, das jedem von uns von Gott gegeben ist.

 

Und somit denken wir an diesem ersten Sonntag nach Epiphanias an das Licht, das uns durch Jesus Christus geschenkt wird, der als schwaches und armes Kind in diese Welt kam, als Sohn Gottes getauft wurde und uns den Auftrag gegeben hat, sein Licht und seine Liebe durch die Taufe und das Abendmahl zu verkünden. An unseren Altarfenstern sind diese beiden Sakramente der Kirche (von Paul Kälberer, 1956) gemalt. Auf der linken Seite wird Jesus getauft, und auf der rechten Seite teilt Jesus Brot und Wein mit den Jüngern und fordert sie auf, dies zu seinem Gedenken zu tun. Und über beiden Bildern erscheint der Heilige Geist in Form einer Taube, die das Symbol für die Gegenwart des Geistes bei der Taufe und beim Abendmahl ist.

 

Diese Botschaft, liebe Gemeinde, dass Gott das Niedrige in der Welt und das Verachtete erwählt, ist auch heute noch aktuell, denn die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Verlierern und Gewinnern, zwischen den Guten und den Bösen, zwischen uns und den Anderen, wird hierzulande immer größer. Gott ist mit den Schwachen in der Welt. Und wissen Sie warum? Weil das Licht durch unsere Schwachheit in unser Leben kommt. Stark zu sein im Sinne dieser Welt ist wie ein Haus zu bauen ohne Fenster, mit starken Mauern, die nicht durchlässig sind. Aber Zerbrechlichkeit lässt das Licht durchscheinen. Sie lässt Gott in unser Leben kommen und sie lässt andere zu uns kommen.

 

Dies ist vergleichbar mit zwischenmenschlichen Beziehungen, die immer dann möglich sind, wenn wir Zerbrechlichkeit in uns zeigen. Erst dann werden wir für andere ansprechbar sein. Menschen gehen meistens nicht auf diejenigen zu, die sich fest und unerschütterlich zeigen, da sie dadurch unnahbar und distanziert wirken. Und leider versuchen die meisten Menschen, sich als sehr stark und unerschütterlich zu präsentieren. Obwohl alle Menschen in Wirklichkeit zerbrechlich und verletzlich sind, denn alle Menschen werden irgendwann traurig sein, alle werden irgendwann krank sein oder allein gelassen, und alle werden am Ende auch sterben.

 

Wissen Sie, liebe Gemeinde, wann hat sich Jesus als zerbrechlich und anfällig für Verletzungen gezeigt? Er tat dies, wenn er in Liebe und Fürsorge auf die Bedürfnisse der Menschen einging, und zwar in einem Maße, dass er sich der Verurteilung durch das Gesetz aussetzte, z.B. wenn er an einem Sabbat heilte und mit Sündern aß. Hätte Jesus nicht gegen das Gesetz verstoßen und sich damit angreifbar gemacht, wäre er vielleicht ein sehr fester und starker Führer gewesen. Und er wäre vielleicht auch nicht gekreuzigt worden, aber er würde von uns heute, nach 2000 Jahren, nicht als Retter und Erlöser wahrgenommen werden.

 

Gott hat von Anfang an alle Menschen erwählt, aber nur die Schwachen und Verachteten in dieser Welt hören den Ruf und nehmen ihn an. Heute wollen auch wir das Licht Christi in die Welt tragen. Deshalb, liebe Gemeinde, lasst uns unsere Ängste und Sorgen hinter uns lassen, denn sein Licht wird durch unsere Wunden leuchten. „Durch ihn … seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht worden ist zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung, damit [es geschehe], wie geschrieben steht: »Wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn!« Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

07.01.2024