Das Wesentliche im Leben

Das Wesentliche im Leben

(Hebräer 12, 12-18, 22-25)

 

 

Darum »richtet wieder auf die schlaff gewordenen Hände und die erlahmten Knie«, und »macht gerade Bahnen für eure Füße«, damit das Lahme nicht vom Weg abkommt, sondern vielmehr geheilt wird! Jagt nach dem Frieden mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird! Und achtet darauf, dass nicht jemand die Gnade Gottes versäumt, dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwächst und Unheil anrichtet und viele durch diese befleckt werden, dass nicht jemand ein Unzüchtiger oder ein gottloser Mensch sei wie Esau, der um einer Speise willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte. … Denn ihr seid nicht zu dem Berg gekommen, den man anrühren konnte, … sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu Zehntausenden von Engeln, zu der Festversammlung und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott … und zu Jesus, dem Mittler des neuen Bundes, und zu dem Blut der Besprengung, das Besseres redet als [das Blut] Abels. Habt acht, dass ihr den nicht abweist, der redet!

 

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Der Hebräerbrief, liebe Gemeinde, ist eine anonyme Schrift an die hebräischen Gemeinden, die zum Christentum konvertiert waren, die aber durch das Ausbleiben der erneuten Erscheinung Jesu Christi Ermüdungserscheinungen zeigten und wieder zu ihrer jüdischen Religion zurückkehrten. In diesem Sinne wirft der Text die Frage auf: Was ist das Wesentliche im Leben, damit man jeden Tag in seinem Sinne wandeln kann?

Die Frage nach dem Wesentlichen im Leben ist eine wichtige, aber auch schwierige Frage, denn wenn wir sie stellen, setzt sie unsere Bereitschaft voraus, nach der Antwort zu leben. Und viele Menschen vermeiden es, diese Frage zu stellen, weil sie denken, dass sie nicht in der Lage sind, ihr Leben nach der Antwort auszurichten. Und viele andere Menschen kommen wahrscheinlich gar nicht dazu, sich die Frage nach dem Wesentlichen im Leben zu stellen, aus vielen verschiedenen Gründen. Und so leben sie, als ob die Ereignisse ihres Alltags eine Art Plan für ihr Leben darstellen. So verharrt die überwiegende Mehrheit der Menschen ihr ganzes Leben lang auf der funktionalen Ebene, und nur wenige sind in der Lage, in die Ebene der göttlichen Liebe und Gnade einzudringen, zu der uns der heutige Predigttext einlädt.

 

Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen beidem, nämlich zwischen dem, was ich heute Leben auf der funktionalen Ebene nennen möchte, und dem Leben, das die Gnade und der Friede Gottes durchdringt? Und hier, liebe Gemeinde, ist ein Hinweis wichtig. Wenn ich heute vom Leben auf einer funktionalen Ebene spreche, dann meine ich vor allem diejenigen, die sich dafür entscheiden, auf dieser Ebene zu bleiben, weil sie so ihr Lebensziel mit dem geringsten Aufwand erreichen können.

Ein Pfarrer hat das, was wir heute Leben auf der funktionalen Ebene nennen, einmal mit einem Wort, nämlich mit „Erbarmungslosigkeit“ beschrieben. Er meinte damit, dass „Erbarmungslosigkeit … für viele Menschen zur geheimen Richtschnur ihres Denkens und Handelns geworden [ist]. [Diese sagen sich also:] Lass dich ja nicht drausbringen durch das Unrecht und das Elend um dich herum. Mach dein Ding, kümmere dich um dein Vorwärtskommen. Die Menschen, die unter die Räder kommen, sind selber schuld an ihrem Schicksal. Gnade braucht es doch nicht.“ (Günter Knoll, A und B, 24, 15.Dez. 2023)

 

Und so können wir auch die Ursachen für die Kriege in der Welt verstehen. Die Kriege werden von denen geführt, die bereit sind, ihre Ziele um jeden Preis zu erreichen. Und das Traurige an dieser Stelle ist, dass sie dies im Namen des Friedens tun.

Der heutige Predigttext enthält ein Beispiel für ein Leben, in dem die Frage nach dem Wesentlichen ignoriert wird; ein alttestamentliches Beispiel für ein Leben auf der Funktionsebene. Esau, der der Erstgeborene von Zwillingen war, geboren Minuten, wenn nicht Sekunden, vor seinem jüngeren Bruder Jakob. Daher hatte Esau nach der damaligen Tradition das Erstgeburtsrecht. Esau aber verkauft dieses Recht für ein Linsengericht. Also hat der Mangel an Orientierung im Esaus Leben dazu geführt, dass Esau sein Recht verloren hat und damit auch den Segen seines Vaters.

 

Ein Leben auf der funktionalen Ebene unterscheidet also nicht zwischen dem, was sinnvoll und dem, was zweitrangig ist, was gut und gerecht und was schädlich und ungerecht ist. Auf der funktionalen Ebene kann ein Mensch den Schmerz der anderen nicht wahrnehmen, weil er alle anderen einfach mit einem Wort kategorisiert: die „anderen“. Und offensichtlich kann ein Leben auf einer funktionalen Ebene nicht zwischen einem Linsengericht und dem Segen des Vaters und der damit verbundenen Verantwortung unterscheiden. Man kann natürlich fragen, warum? Und die Antwort ist, dass ein Leben auf der funktionalen Ebene einfach nicht nach Sinn, nach Liebe oder nach Gerechtigkeit sucht, nicht die Frage nach dem Wesentlichen im Leben stellt. Und selbst wenn jemand auf dieser Ebene sagt, dass ihm die Familie wichtig ist, wird er es nicht schaffen, auch die Familienmitglieder zu lieben, weil sein Denken auf sein eigenes Ego ausgerichtet ist. Wir sehen das am Beispiel von Esau.

Was können wir aber über das Leben sagen, das von der göttlichen Liebe und Gnade durchdrungen ist? Der Predigttext gibt uns eine Antwort darauf, wie der Mensch das Wesentliche von anderen Dingen unterscheiden kann, und schließlich ermahnt er die Leser, oder die Hörer, den, der da spricht, nicht abzulehnen. Was ist also die Antwort dieses Textes und wer ist derjenige, der spricht und den man nicht zurückweisen soll?

 

Der heutige Predigttext aus dem Hebräerbrief ist eine Aufforderung, sich nicht mit Selbstgefälligkeit zufrieden zu geben, sondern den Sinn des Lebens in der Gnade Gottes und im Frieden mit allen anderen zu suchen. Vielleicht der wichtigste Satz, liebe Gemeinde, im Text lautet: „Achtet darauf, dass niemand hinter Gottes Gnade zurückfällt“ (Knoll). In der Einheitsübersetzung heißt es: „Seht zu, dass niemand von der Gnade Gottes abkomme“. Heißt das, dass wir uns darum bemühen sollen, dass auch andere Menschen die Gnade Gottes empfangen? Das ist zum Beispiel das, was wir als Eltern tun, wenn wir unseren Kindern von Gott erzählen oder mit ihnen beten, damit sie Gott und seine Gnade in ihrem Leben suchen und empfangen können. Manchmal denken wir aber, dass die Gnade Gottes vor allem denen gilt, die Gott treu sind, und damit meinen wir eine Gruppe von Menschen zu der wir selbst gehören. Aber das ist, liebe Gemeinde, ein Missverständnis der Gnade. Gottes Gnade gilt allen, und besonders denen, die sie nicht verdient haben, aber sie dennoch empfangen wollen. Die Gnade Gottes ist bedingungslos und deshalb ermöglicht sie uns ein Leben in Freiheit. Aber wie können wir zu diesem Leben in Freiheit kommen, wie können wir die Gnade annehmen, die für alle gilt, während wir doch unsere eigenen Ziele haben, die meistens selbstbezogen sind?

 

Die Gnade Gottes, liebe Gemeinde, sagt nicht, dass einige es verdienen, hier auf der Welt wie im Paradies zu leben, während andere unter Kriegen und Ungerechtigkeit leiden. Jeder Mensch hat seinen Anteil daran, und wir sind herausgefordert, nicht leichtsinnig zu sein wie Esau. Der Text fordert uns auf, gerade Wege zu gehen, und dafür sollten wir wachsam und bereit sein, nicht nur im Herzen, sondern auch in unserem Alltag, wenn wir unsere Hände und Füße in Gebrauch nehmen: „richtet wieder auf die schlaff gewordenen Hände und die erlahmten Knie und macht gerade Bahnen für eure Füße, damit das Lahme nicht vom Weg abkommt, sondern vielmehr geheilt wird!“

Und dann gibt es noch den Aufruf: „Jagt nach dem Frieden mit jedermann und der Heiligung“. Den Frieden mit jedem Menschen zu suchen, unabhängig davon, wer er/sie ist. Feindliche Gruppen, gespaltene Gesellschaften, Rassenhass, Angriffskriege - das sind die aktuellen Nachrichten, die wir jeden Tag hören. Strebt nach Frieden mit allen, die guten Willens sind.

Schließlich beschreibt der Verfasser des Textes das Wesentliche im Leben nicht als etwas Konkretes in dieser Welt, das man mit Händen anfassen kann. Vielmehr beschreibt er das Wesentliche als die zukünftige Hoffnung, dass die gesamte Menschheit in einer heilsamen Versammlung, im himmlischen Jerusalem, zusammenkommen wird, wo wir alle vervollkommnet und von allen Unzulänglichkeiten unseres Lebens befreit sein werden.

 

Und derjenige, der spricht, den wir nicht abweisen sollen, ist Jesus. Durch ihn erfahren wir Gottes Gnade, Gottesnähe und Gottes Zuwendung zu allen Menschen, hier in der Welt. Er ist der Vermittler des neuen Bundes, dessen Blut zu uns spricht, und zwar in einer Weise, die unser Leben auch hier verändern kann. Das himmlische Gebilde lässt sich hier in der Welt verankern. Daher „Achtet darauf, dass niemand hinter Gottes Gnade zurückfällt“.

 

Nicht auf der funktionalen Ebene des Lebens zu verharren, sondern das Wesentliche im Leben zu suchen, bedeutet dann, Frieden und Gnade für alle Menschen anzustreben. Dies bedeutet auch, nicht alles im Leben für selbstverständlich zu halten, sich nicht mit der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse zu begnügen, sondern Ungerechtigkeit zu hinterfragen und die Schwachen zu schützen. Liebe Gemeinde, lasst keinen Raum für Zweifel daran, dass auch andere von Gott auserwählt sind, dass auch ihnen die Gnade Gottes zuteil wird. „Wer zu Jesus kommt, wer seiner Botschaft glaubt, wer ihm nachfolgt, der darf gewiss sein: Gott ist mir gnädig. Und er ist auch allen anderen gnädig“ (Knoll). Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

14.01.2024