Von falscher Vorstellung zu echter Erkenntnis

Von falscher Vorstellung zu echter Erkenntnis

(2.Könige 5,1-16. 19a)

 

 

Naeman, der Heerführer des Königs von Aram, war ein hoch angesehener Mann vor seinem Herrn und geschätzt; denn durch ihn gab [Jahweh] der HERR den Aramäern Sieg. Aber dieser gewaltige, tapfere Mann war aussätzig. Und die Aramäer waren in Streifscharen ausgezogen und hatten ein kleines Mädchen aus dem Land Israel entführt, das nun im Dienst von Naemans Frau war. Und sie sprach zu ihrer Herrin: Ach, dass mein Herr bei dem Propheten wäre, der in Samaria wohnt; der würde ihn von seinem Aussatz befreien! Da ging Naeman hinein zu seinem Herrn und sagte es ihm und sprach: So und so hat das Mädchen aus dem Land Israel geredet!

Da sprach der König von Aram: Geh, ziehe hin, und ich will dem König von Israel einen Brief schicken! Da ging er hin und nahm zehn Talente Silber und 6 000 Goldstücke und zehn Festgewänder mit sich. Und er brachte dem König von Israel den Brief; … Und es geschah, als der König von Israel den Brief gelesen hatte, zerriss er seine Kleider und sprach: Bin ich denn Gott, sodass ich töten und lebendig machen könnte, …

Und es geschah, als Elisa, der Mann Gottes, hörte, dass der König von Israel seine Kleider zerrissen habe, da sandte er zum König und ließ ihm sagen: …Er soll zu mir kommen, dann wird er erkennen, dass es einen Propheten in Israel gibt! So kam Naeman mit seinen Pferden und mit seinen Wagen und hielt vor der Tür des Hauses Elisas. Da sandte Elisa einen Boten zu ihm und ließ ihm sagen: Geh hin und wasche dich sieben Mal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wiederhergestellt, und du wirst rein werden! Da wurde Naeman zornig, ging weg und sprach: Siehe, ich dachte, er wird sicher zu mir herauskommen und hinzutreten und den Namen [Jahweh] des HERRN, seines Gottes, anrufen, und mit seiner Hand über die Stelle fahren und so den Aussätzigen befreien! Sind nicht die Flüsse Abana und Parpar in Damaskus besser als alle Wasser in Israel? Kann ich mich nicht darin waschen und rein werden? Und er wandte sich ab und ging zornig davon. Da traten seine Knechte zu ihm, redeten mit ihm und sprachen: Mein Vater, wenn dir der Prophet etwas Großes befohlen hätte, würdest du es nicht tun? Wie viel mehr denn, da er zu dir gesagt hat: Wasche dich, so wirst du rein! Da stieg er hinab und tauchte sich sieben Mal im Jordan unter, nach dem Wort des Mannes Gottes; und sein Fleisch wurde wieder wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein. Und er kehrte wieder zu dem Mann Gottes zurück, er und sein ganzes Gefolge. Und er ging hinein, trat vor ihn und sprach: Siehe, nun weiß ich, dass es keinen Gott auf der ganzen Erde gibt, außer in Israel! Und nun nimm doch ein Geschenk an von deinem Knecht! Er aber sprach: So wahr [Jahweh] der HERR lebt, vor dessen Angesicht ich stehe, ich nehme nichts! Da nötigte er ihn, es zu nehmen, aber er weigerte sich.

Und [Elisa] antwortete ihm: Geh hin in Frieden!

 

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Der heutige Predigttext erzählt uns von Naaman, dem Oberbefehlshaber über das Heer des Königs der Aramäer, deren Hauptstadt Damaskus war. Die Aramäer waren Rivalen des Königreichs Israel. Die Geschichte erzählt, wie Naaman zum Propheten Elisa nach Samaria reist, um geheilt zu werden. Im heutigen Predigttext werden nur zwei der handelnden Personen mit Namen genannt, Naaman und Elisa, der Prophet, der in der 2.Hälfte des 9.Jahrhunderts vor Christus im Nordreich Israel wirkte. So lesen wir im Text zum Beispiel nicht den Namen des Königs von Israel und auch nicht den des Königs der Aramäer. Daran sehen wir: die Geschichte wurde nicht geschrieben, um historische Ereignisse zu erzählen, sondern sie hat eine andere Botschaft zu vermitteln. Auf diese Weise können wir verstehen, wie am Anfang des Predigttextes, Naamans Sieg über Israel auch Gott zugeschrieben wird. Wir lesen, dass es Jahwe war, der durch Naaman den Aramäern Sieg gab. So wird die allumfassende Souveränität Jahwes von Anfang an hervorgehoben.

 

Naaman wird im Predigttext als ein mächtiger, hoch angesehener Mann beschrieben, der vom aramäischen König hochgeachtet wurde. Aber Naaman war ein Aussätziger. Aussatz bezeichnet eine Art von Hautkrankheit. In der Bibel ist Aussatz jedoch meist ein Bild für Sünde, vor allem für ihre hässlichen und zerstörerischen Auswirkungen. Heute möchte ich jedoch ein anderes Wort für Sünde vorschlagen, das für Naamans Geschichte besonders passend ist. Ich möchte Sünde heute als Deformation oder Entstellung verstehen, d.h. als Verzerrung der Wahrheit. Eine solche Verzerrung kann im Leben der Menschen aus Unwissenheit oder falschen Wahrnehmungen oder Vorurteilen entstehen. Verzerrung oder Deformation kann auch auf die vielen Hüllen und Masken im menschlichen Leben zurückgeführt werden. Obwohl man meinen könnte, dass Masken und Hüllen in bestimmten Lebenssituationen hilfreich sein sollten, sind sie in Wirklichkeit Entstellungen der Wahrheit. Wenn zum Beispiel jemand viel Macht in dieser Welt hat, so setzt er/sie sich die Maske des Stolzes auf. So können wir den Aussatz in diesem Sinne verstehen, als eine Krankheit, die nicht nur den Körper der betroffenen Person, sondern die ganze Person entstellt.

 

Von dem Propheten in Samaria, der ihn heilen könne, erfährt Naaman von einem kleinen israelitischen Mädchen, das im Krieg entführt wurde und nun als Sklavin im Dienst seiner Frau stand. In der Geschichte wird jedoch der Kontrast zwischen dem mächtigen Naaman und dem kleinen Mädchen hervorgehoben.

 

Nachdem Naaman dies mit dem König besprochen hat, macht er sich auf den Weg nach Samaria, in der Hoffnung, dass er dort geheilt wird. Der Weg von Damaskus nach Samaria, der damaligen Hauptstadt des Nordreichs Israel, war lang. Heute würde man dafür mit dem Auto etwa 4 Stunden brauchen. Naaman brauchte damals wahrscheinlich mehrere Tage, um in Samaria anzukommen.

 

Zuerst geht er zum König von Israel und kommt dann zum Haus des Propheten. Der Mann, der an diesem Nachmittag vor Elisas Haus auftaucht, mit Pferden, mit glänzenden Wagen, mit Kisten voller Silber und Gold, bereit, eine Heilung zu kaufen, ist an Verbeugungen und bedingungslosen Gehorsam gewöhnt. Wenn es einen Propheten gibt, der mächtig genug ist, ihn zu heilen, dann hat Naaman sicherlich die Mittel, diesen Propheten zu überzeugen. Er geht davon aus, dass er das, was er braucht, auch bekommen wird.

 

Doch überraschenderweise kommt der Prophet nicht einmal aus seinem Haus heraus. Was tut er stattdessen? Er schickt einen Boten zu Naaman und sagt ihm, er solle hingehen und sich siebenmal im Jordan waschen.

 

Als Naaman die Antwort des Propheten hört, ist er plötzlich enttäuscht. Seine falschen Vorstellungen darüber, wie ein Prophet vorgehen sollte, führen fast zum Abbruch seiner Heilung. Dieses Mal kommen ihm seine Diener zur Hilfe. Wieder einmal ist es ein Ruf „von unten“, der Naaman zur Heilung bewegt. Vielleicht musste Naaman lernen, bescheidener zu gehen und seinen Stolz auf dem Weg dorthin abzulegen.

 

Und wir sehen ein zweites Mal, dass Naaman in der Lage ist, Ratschläge von außerhalb seines privilegierten Umfelds anzunehmen. Er überwindet seinen Stolz und wandert den langen, steilen Weg ins Jordantal hinunter. „Da stieg er hinab“. Das hebräische Verb stammt aus demselben Wortstamm wie der Name Jordan, der einfach „hinabsteigen“ bedeutet. Die Szene am niedrigen Jordan, eher ein Bach als ein Fluss, nach menschlichen Maßstäben weniger prächtig als die Flüsse von Damaskus, ist der Tiefpunkt von Naamans Erniedrigung.

 

„Und tauchte sich sieben Mal im Jordan unter … und sein Fleisch wurde wieder wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein.“ Nicht nur Naamans Haut, sondern sein ganzes Wesen wird erneuert. Der mächtige Naaman wird der kleinen Magd gleichgestellt. Naaman kehrt zum Propheten zurück, was auch bedeuten kann, dass er umkehrt und sich für das Geschenk des neuen Lebens bedanken will. Im Heilungsprozess wird Naaman bereit, sein Leben völlig zu verändern. Er wird verwandelt und wie neu geboren.

 

Warum wurde dieser Text aus dem Alten Testament als Predigttext für den heutigen dritten Sonntag nach Epiphanias gewählt? Darauf haben wir zwei Antworten. Die erste Antwort hat eher eine symbolische Bedeutung, nämlich dass es derselbe „Jordan“ ist, in dem Jesus getauft wurde, nach dem wir Epiphanias feiern, nämlich die Erscheinung des Herrn bei der Taufe. Zweitens ist es dieses Licht Gottes, das sich bei der Taufe offenbart, das den Menschen hilft, von der Unwissenheit und den falschen Vorstellungen und Vorurteilen zur wahren Erkenntnis Gottes zu gelangen und es ist in diesem Licht, dass alle Stereotypen gründlich erschüttert werden. Durch das von Gott geschenkte Licht können wir erkennen, dass die andere Person vielleicht etwas hat, was wir selbst nicht haben. In diesem göttlichen Licht fallen alle Hüllen, aller Stolz, alle unnötigen Erwartungen, alle Mächte und Besitztümer, die Sicherheit zu geben scheinen.

 

Naaman konnte seinen großen Besitz nicht mit ins Wasser nehmen, er musste allein gehen und alles, was er mitgebracht hatte, zurücklassen, und das siebenmal, nämlich ganz und vollkommen. Er hat den ganzen Weg von seinem Land zu den Feinden geschafft, und dabei hat er die äußeren Grenzen und die falschen Ansprüche der Welt überwunden. Nun sollte er seine eigenen Behauptungen und Wahrnehmungen überschreiten. Er sollte seine Ansprüche auf Macht und Status und seine eigenen Privilegien loslassen.

 

Im Neuen Testament lesen wir, dass Jesus das Beispiel des Aramäers, Naaman erzählt: „[Er sprach: … In Wahrheit … sage ich euch:] viele Aussätzige waren in Israel zur Zeit des Propheten Elisa; aber keiner von ihnen wurde gereinigt, sondern nur Naeman, der Syrer.“ (Lukas 4,27)

 

Liebe Gemeinde, lasst uns nicht zulassen, dass die Grenzen, die uns von außen gesetzt werden, uns festhalten. Durch die Heilung von Naamans Haut, d.h. der äußeren Grenzen der menschlichen Existenz in der Welt, lernen wir, dass Grenzen überwunden und überschritten werden können. In diesem Sinne schließe ich die heutige Predigt mit den Worten Jesu aus Lukasevangelium (13,29): „Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.“ Amen.

 

Sylvie Avakian

 

21.01.2024