Gerechtigkeit braucht Gnade

Gerechtigkeit braucht Gnade

(Amos 5,21-24)

 

 

Ich hasse, ich verachte eure Feste und mag eure Festversammlungen nicht riechen! Wenn ihr mir auch euer Brandopfer und Speisopfer darbringt, so habe ich doch kein Wohlgefallen daran, und das Dankopfer von euren Mastkälbern schaue ich gar nicht an. Tue nur hinweg von mir den Lärm deiner Lieder, und dein Harfenspiel mag ich nicht hören!

Es soll aber das Recht einherfluten wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein unversiegbarer Strom!

 

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Amos ist von Beruf her ein Hirte und Maulbeerfeigenzüchter, ein einfacher Mann in seiner Heimatstadt Tekoa, nahe Bethlehem (im Südreich Juda, auch südlich von Jerusalem), der um das Jahr 760 v. Chr. berufen wird. Er wandert nach Norden, gegen seinen Willen, und richtet seine prophetische Botschaft, insbesondere an die Stadt Bethel[1] (im Nordreich Israel, zu Deutsch Gottes Haus). Dort hat er im Namen Gottes zu sprechen, was hart und unbequem ist. In Bethel befindet sich ein wichtiges Heiligtum, ein Zentrum des altisraelitischen Kultes. Zu dieser Zeit ignorierten viele der Mächtigen Israels den sozialen und menschlichen Aspekt ihrer Religion. Sie unterdrückten die weniger Begünstigten, indem sie sich deren Land aneigneten, während sie gleichzeitig weiterhin so taten, als würden sie Gott verehren. Amos‘ Kritik richtet sich also gegen den Opferkult seiner Zeit, der den herrschaftlichen Wohlstand auf Kosten der Ausbeutung der anderen Kleinbauern betreibt. Und so spricht Amos im Namen Gottes: „Ich hasse, ich verachte eure Feste und mag eure Festversammlungen nicht riechen!“

 

Amos war so laut und entschieden, dass man ihn auffordert, unverzüglich wieder zu verschwinden. So lese ich aus dem Buch Amos, Kapitel 7 (12-13): „Du Seher, geh, fliehe in das Land Juda und iss dort dein Brot und weissage dort! In Bethel aber sollst du nicht mehr weissagen; denn es ist ein königliches Heiligtum und eine königliche Residenz!“

 

Amos setzt seine Prophezeiungen fort, die zur Ankündigung seiner Deportation aus Nordisrael führen werden. Und so stehen im heutigen Predigttext seine Worte:

 

„Es soll aber das Recht einherfluten wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein unversiegbarer Strom!“

 

Wie sollen wir diesen Text heute verstehen? Wie kann Gerechtigkeit wie ein unversiegbarer Strom fließen? Kann Gerechtigkeit dann durch Gesetze und Vorschriften oder vielleicht innerhalb der Grenzen des eigenen Hauses, Dorfes oder Landes gewährleistet werden?

 

Ich möchte zwei Beispiele für zwei verschiedene Auffassungen von Gerechtigkeit anführen, die uns helfen können, über die Bedeutung von Gerechtigkeit nachzudenken.

 

Der einstige babylonische König Hammurabi, der im 18. Jahrhundert v. Chr. herrschte, konnte ein standardisiertes Rechtsystem entwerfen und ließ einen Gesetzestext niederschreiben, der für sein gesamtes Reich, das zu einem großen Teil aus dem heutigen Irak bestand, gelten sollte - den Codex Hammurabi. Sein Rechtssystem zielte auf den Ausgleich und die Förderung der Benachteiligten ab. Die Stele des babylonischen Königs, die sich heute im Louvre-Museum in Paris befindet, wurde in der letzten Phase seiner Herrschaft hergestellt. Die Basaltstele (über zwei Meter hoch) enthält 282 Gesetze, die wichtige Aspekte des Königtums beleuchten, insbesondere die Verpflichtung des Königs zur Gerechtigkeit; eine Gerechtigkeit, die in der Beseitigung von Unterdrückung und Ausbeutung besteht. Der obere Teil der Stele zeigt, wie König Hammurabi die Gesetze von Šamaš (Sonnengott, Gott der Gerechtigkeit und des Wahrsagens), erhält und mit den Gesetzen auch einen Ring und einen Stab, die Symbole für Recht und Gerechtigkeit.

 

Und doch bleibt die Frage, ob diese Gesetze wirklich Gerechtigkeit für alle garantieren konnten.

 

Ein weiteres Beispiel ist der deutsch-rumänische Spielfilm "Wir könnten genauso gut tot sein" (von Natalia Sinelnikova) aus dem Jahr 2022. Der Film erzählt die Geschichte der Sicherheitsbeamtin Anna, die mit ihrer 16-jährigen Tochter in einem Hochhaus am Waldrand lebt. Das Haus ist als soziale Utopie konzipiert und bietet einen letzten zivilisierten Zufluchtsort in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Das Gebäude bietet seinen sorgfältig ausgewählten Bewohnern ein sicheres Zuhause, das mit jeder Art von Komfort ausgestattet ist. Dies ist jedoch nur durch eine strenge Hausordnung möglich. In diesem Haus zu leben, abgeschirmt von einer gefährlichen Umgebung, ist für viele das Ziel, doch schließlich geraten die Bewohner in Angst, und das sich selbst reproduzierende System und der Zusammenhalt der Gesellschaft werden erschüttert. Am Ende des Films wird Anna, die sechs Jahre lang als Sicherheitspersonal für dieses Haus gearbeitet hat, mit ihrer Tochter aus dem Haus geworfen. Und ihr Hinauswurf wird so dargestellt, als könnten sie erst dann in die freie Welt treten.

 

Heute möchte ich das Beispiel des Codex-Hamurabi als positiv ansehen. Vor so vielen Jahrhunderten und in einem Gebiet, von dem wir heute nur noch Nachrichten über Kriege hören, wurden Gesetze für die Gerechtigkeit unter den Menschen verfasst; Gesetze, die wahrscheinlich nicht vermieden werden können, wenn Menschen ein Mindestmaß an Gerechtigkeit in einem Land haben wollen.

 

Während der Film über Anna zeigt, dass Gerechtigkeit in einem Haus oder an einem bestimmten Ort nicht nur durch Gesetze garantiert werden kann. Selbst wenn die Gesetze an sich gerecht und gut sind, gibt es Situationen, in denen Gesetze keine Gerechtigkeit schaffen können. Wissen Sie, warum? Weil Gesetze starr sind, feststehen, und wir, die Menschen, sind bewegliche Wesen. Wir sind nicht unbeweglich und keine Lebenssituation ist wie eine andere Lebenssituation. Gott ist auch kein starrer Gott. Vielmehr ist Gott immer in Bewegung, mit uns. Gott geht mit uns bei all unseren Schritten, wohin wir auch gehen. Das bedeutet, dass wir Gott nicht festhalten können, auch nicht durch das Einhalten der Gesetze.

 

Und nun wollen wir auf den Predigttext zurückkommen. „Es soll aber das Recht einherfluten wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein unversiegbarer Strom!“

 

Der Text sagt uns, liebe Gemeinde, dass auch Recht und Gerechtigkeit kein fester Zustand sind. Recht und Gerechtigkeit sind immer in Bewegung, wie fließendes Wasser. Und der Mensch kann sie nicht schaffen, d.h. der Mensch ist nicht der Erzeuger von Recht und Gerechtigkeit, sondern Recht und Gerechtigkeit sind dem Menschen bereits mit der Schöpfung gegeben. Wir können dies verstehen, wenn wir uns einfach daran erinnern, dass jeder Mensch von Geburt an das Recht hat, in Würde zu leben. Und da so viele Menschen in der Welt ihrer wesentlichen Rechte beraubt werden, erkennen wir, dass Gerechtigkeit nicht vollständig durch Gesetze erfasst und hergestellt werden kann. Natürlich können Gesetze dazu beitragen, Gerechtigkeit in einer Gesellschaft zu ermöglichen, aber oft bleiben Gesetze begrenzt, und die Verantwortung eines jeden Menschen ist und bleibt es, Gerechtigkeit zu fördern, sodass Recht und Gerechtigkeit zum Fließen kommen. Dies ist die Verantwortung eines jeden Menschen als Antwort auf das Geschenk des Lebens und der Gnade Gottes. Demnach können wir sagen, dass „Gottes Zuwendung und menschliche Verantwortung eng miteinander verwoben sind.“ [Estomihi, Reihe VI: Amos 5,21-24_PmWü_(Henrike Frey-Anthes)]

 

Darüber hinaus können wir sagen, dass das menschliche Leben wie ein strömender Fluss ist, der manchmal durch breite Öffnungen und manchmal durch enge Kanäle fließt. Aber wir sollten aufpassen, dass wir nicht zu Sümpfen und Mooren werden, zu einer Art stehendem Wasser in dieser Welt, das versucht, sich nicht zu bewegen, sondern wir fließen weiter. Und die gute Botschaft des Evangeliums, liebe Gemeinde, ist, dass wir alle am Ende in Gott fallen werden. Lasst uns also nicht fürchten uns zu bewegen, sondern vielmehr bereit und willig sein, eifrig durch die vielen Länder und durch die verschiedenen Lebensgeschichten anderer Menschen zu fließen, damit wir in unseren Herzen das Fallen in Gott vorwegnehmen können.

 

Nur durch die Liebe und die Gnade können wir das Fallen in Gott vorwegnehmen. Und was ich heute sagen möchte, liebe Gemeinde, ist, dass Gerechtigkeit Gnade braucht, Gerechtigkeit braucht Liebe, sie braucht die Bewegung des Herzens hin zu den anderen, damit allen Menschen Gerechtigkeit widerfährt.

 

Die Jahreslosung lautet: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“, denn die Liebe strebt immer nach Gerechtigkeit. Die Liebe ist langmütig, sie sucht nicht das Ihre, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit. In diesem Sinne verstehen wir auch das Leiden Jesu Christi, an das wir an diesem Sonntag denken, als Leiden aus Liebe.

 

Und die Frage, die uns dieser Predigttext mit auf den Weg gibt, lautet: Was tun wir, damit das Recht fließt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein unversiegbarer Strom? Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

11.02.2024

 

 

[1] Bethel war die Stadt, in der Jakob auf seiner Flucht übernachtete und in der er im Traum (mit einer Himmelsleiter) die Verheißung Gottes erhielt. (1.Mose 28,16-17)