Der Palmsonntag als Eintritt in die Gesinnung Christi

Der Palmsonntag als Eintritt in die Gesinnung Christi

 (Jesaja 50,4-9)

 

 

GOTT, der Herr, hat mir die Zunge eines Jüngers gegeben, damit ich den Müden mit einem Wort zu erquicken wisse. Er weckt Morgen für Morgen, ja, er weckt mir das Ohr, damit ich höre, wie Jünger [hören].

GOTT, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet; und ich habe mich nicht widersetzt und bin nicht zurückgewichen.

Meinen Rücken bot ich denen dar, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften; mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.

Aber GOTT, der Herr, wird mir helfen, darum muss ich mich nicht schämen; darum machte ich mein Angesicht wie einen Kieselstein, denn ich wusste, dass ich nicht zuschanden würde.

Der mich rechtfertigt, ist nahe; wer will mit mir rechten? Lasst uns miteinander hintreten! Wer will gegen mich Anklage erheben? Er trete her zu mir!

Siehe, GOTT, der Herr, steht mir bei — wer will mich für schuldig erklären? Siehe, sie werden alle zerfallen wie ein Kleid; die Motte wird sie fressen.

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Liebe Gemeinde, wir wollen heute den Palmsonntag als einen Eintritt in die Gesinnung Jesu Christi betrachten. Und mit der Gesinnung Jesu ist seine innere Haltung in verschiedenen Lebenssituationen gemeint, und seine Einstellung zu Menschen in besonderen Angelegenheiten, die seinem Verhalten zugrunde liegt. Aber warum? Was ist so besonders am Palmsonntag, dass wir ihn heute als Zugang zur Gesinnung Jesu Christi und seinem Geheimnis betrachten wollen? In der Schriftlesung (Philipper 2,5-11) haben wir die Worte des Apostels Paulus gehört: „Denn ihr sollt so gesinnt sein, wie es Christus Jesus auch war“. Was war die Gesinnung Jesu Christi, in die wir heute eintreten wollen?

 

Ich meine, dass die Gesinnung Christi, von der der Apostel Paulus spricht, bereits durch die Worte des Propheten im heutigen Predigttext aus dem Buch Jesaja zum Vorschein gekommen ist und dass diese Gesinnung durch zwei menschliche Grundhaltungen verstanden werden kann. Was sind denn diese zwei Grundhaltungen eines Menschen?

 

Wenn wir den heutigen Predigttext aufmerksam lesen, der eher ein Gedicht ist und in den letzten Jahren des babylonischen Exils geschrieben wurde, erkennen wir, dass der vom Propheten beschriebene Diener Gottes großen Schmerz und Kummer erleidet und dennoch auf Gott hoffen kann. Er wird geschlagen und gedemütigt, und doch kann er Gott vertrauen, der ihm hilft. Und so schreibt der Prophet: „Meinen Rücken bot ich denen dar, die mich schlugen“ und später: „GOTT, der Herr, steht mir bei“.

 

Durch diese Worte bietet der Prophet dem Volk das Modell eines Dieners oder eines Knechtes Gottes an und ruft das Volk dazu auf, wie dieser Knecht zu sein. Und vielleicht können wir schon den Zusammenhang zwischen dem Predigttext aus Jesaja und der Ermahnung des Paulus erkennen. Wir können sehen, dass Jesus Christus dem Bild des Knechtes Gottes entspricht; ein Bild, das sowohl Leid als auch Ehre und Herrlichkeit in sich trägt. Sind also Leid und Ehre selbst die beiden wichtigsten Grundhaltungen oder Einstellungen des Dieners Gottes, zu denen wir alle eingeladen sind, uns zu bewegen? Ich glaube nicht. Leid und Ehre sind keine Haltungen im Leben. Ich kann mich nicht entscheiden, zu leiden oder geehrt zu werden. Wo sollen wir dann nach Hilfe suchen? Wir kehren zum Predigttext zurück, zu den ersten beiden Versen (4-5):

 

V 4: „GOTT, der Herr, hat mir die Zunge eines Jüngers gegeben, damit ich den Müden mit einem Wort zu erquicken wisse.“

 

Die Zunge eines Jüngers

 

Gott gibt seinem Diener die Worte, die er weitergeben kann. Und der Diener Gottes entscheidet selbst, wie er auf das Wort reagieren will. Er nimmt die Weisung Gottes an und läuft vor dem Wort nicht davon. Wieso hält es der Prophet für möglich, dass man vor dem Wort davonlaufen könnte? Schon daran können wir erkennen, dass das Wort und die Weisung Gottes herausfordernd und sogar bedrohlich sein kann. Derjenige, der das Wort annimmt, sollte auch bereit sein, Ablehnung zu erfahren und Verfolgung zu ertragen. Er sollte bereit sein, Bedrängnis zu ertragen und mit Demut zu gehen, ohne sich zu unterwerfen. Er nimmt bereitwillig den Widerstand gegen seine Weitergabe des Wortes des Herrn in Kauf.

 

Die Unterweisung, die der Diener erhält, soll ihn dann befähigen, anderen durch seine Worte zu helfen, genauer: den Müden zu erquicken. Das verkündete Wort gibt denjenigen, die es hören, Hoffnung und Kraft; es hilft ihnen, durchzuhalten. Der Diener Gottes empfängt das Wort, um es an andere weiterzugeben. Vielleicht können wir davon ausgehen, dass die Menschen, die es hören, es erst dann wirklich empfangen haben, wenn auch sie es weitergeben. Wenn wir also das Wort hören, ist das schon der halbe Weg, aber erst, wenn wir es weitergeben können, haben wir das Wort empfangen können.

 

Es ist eine Art Paradox, liebe Gemeinde, dass das Wort, das andere ermutigen soll, wenn es weitergegeben wird, für den Boten schmerzhaft und gefährlich sein kann. Das Wort, das tröstet ist zu gleich ein Wort, das Leid über den Boten bringt. Wahrscheinlich, weil der Mensch, der das Wort spricht, selbst zum Wort wird. Und das Wort zu werden oder zu sein, ist keine einfache Aufgabe.

 

Vers 4b-5: „Er weckt Morgen für Morgen, ja, er weckt mir das Ohr, damit ich höre, wie Jünger [hören]. GOTT, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet; und ich habe mich nicht widersetzt und bin nicht zurückgewichen.“

 

Ein offenes Ohr

 

Was bedeutet ein offenes Ohr? Ich meine, um ein offenes Ohr zu haben, muss man erst einmal in der Lage sein, alle Geräusche zu löschen; Geräusche, die im Ohr geblieben sind; Geräusche von Nachbarn, oder Bekannten, manchmal von den Eltern oder das Geräusch der eigenen Ängste und Befürchtungen, Geräusche aus den Medien, aus den sozialen Medien, oder auch aus Talkshows.

 

Gott öffnet das Ohr des Menschen, um ihn darauf vorzubereiten, zu lernen und zu sprechen. „Er weckt Morgen für Morgen“. Das bedeutet, dass ich jeden Morgen die Geräusche löschen muss, die noch in meinen Ohren klingeln, die nachhallen, vielleicht seit gestern oder vielleicht seit vielen Jahren in meinem Leben. Nicht nur einmal, oder zweimal in der Woche. Morgen für morgen heißt jeden Tag, jeden Tag alles löschen und bereit sein neu zu hören.

 

Es bleibt noch, liebe Gemeinde, zu erklären, warum Demut zu dem Knecht Gottes gehört, sodass er sogar als Diener oder Knecht Gottes beschrieben wird. Liebe Gemeinde, je mehr wir hören und lernen, desto mehr werden wir erkennen. Und je mehr wir erkennen, desto mehr werden wir in Demut wandeln und dienen wollen. Hochmut ist in diesem Sinne ein Zeichen für mangelndes Erkennen, Demut hingegen für die Bereitschaft, zu hören, zu lernen und zu lehren.

 

Und bevor wir in dieser Predigt zu Jesus zurückkommen, stellen wir fest, dass dieser Diener Gottes, im Buch des Propheten Jesaja, mit Entschlossenheit dient, und das ist die Bedeutung des Satzes: „darum machte ich mein Angesicht wie einen Kieselstein“. Mit dem Bild des ‚Kieselsteins‘ ist hier die Härte eines Steins gemeint. Das Gesicht des Dieners ist hart wie ein Stein, sodass er unermüdlich dient.

 

Liebe Gemeinde, am Palmsonntag erinnern wir uns an den Einzug Jesu in Jerusalem. Das ist so etwas wie durchs Feuer zu gehen. Und so können wir uns vorstellen, wie Jesus am Palmsonntag sich innerlich fühlt - wahrscheinlich ziemlich in Bedrängnis. Er weiß, dass er in Jerusalem auf die Pharisäer und Schriftgelehrten treffen wird, und er weiß, dass er ihnen nicht gefallen wird. Er weiß, dass er den Menschen zuhören und ihnen das Wort des Trostes zu geben hat. Er zieht mit Entschlossenheit in Jerusalem ein. Dafür braucht er nicht vieles. Er braucht nicht Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, damit nichts schief geht, er braucht nicht Waffen, um Kriege zu führen. Stattdessen zieht er mit großer Demut in Jerusalem ein. Er kommt auf einem Esel, ohne jegliche Vorbereitungen zur Selbstverteidigung; auf einem Esel, als Symbol des Friedens, den er mit sich bringt. Wahrscheinlich ist dies, liebe Gemeinde, das Wichtigste, was es an diesem Palmsonntag zu lernen gilt. Entschlossenheit und Kraft durch Demut und Frieden.

 

Liebe Gemeinde, die Ehre und das Leid Jesu beziehen sich weder auf den Jubel der Menschen am Palmsonntag noch auf ihre bösen Taten am Karfreitag. Die Ehre und Herrlichkeit Jesu Christi liegen in dem, dass er wahrhaftig der Sohn Gottes ist. Und er hätte dem Schmerz, den andere ihm zufügten, ausweichen können, aber er wollte nicht davor davonlaufen, denn er ist wahrhaftig der Knecht Gottes. Zum Schluss können wir fragen: Was bleibt von Jesus Christus heute? Was bleibt von seinem Einzug in Jerusalem? Im heutigen Predigttext haben wir gelesen, dass all die bösen Taten der Menschen wie ein Kleid zerfallen werden; die Motte wird sie fressen.

 

Von Jesu Einzug in Jerusalem bleibt uns heute seine Haltung, sein Mut, seine Entschlossenheit, seine Ehre und sein Schmerz. Und somit, liebe Gemeinde, ist der Palmsonntag für uns der Eintritt in die Gesinnung Jesu Christi. Mögen unsere Ohren immer offen sein für das Wort Gottes und unsere Münder immer bereit, ein Wort des Trostes zu sprechen. Mögen unsere Gesichter niemals aus Angst oder Scham verborgen sein, denn „der mich rechtfertigt, ist nahe; … Lasst uns miteinander hintreten!“. Amen.

 

 

 

Jesus Christus,

wir warten auf dich.

Wir sehnen uns danach,

dass dein Reich gilt

und deine Barmherzigkeit wirkt.

Komm in diese Welt,

 

komm in unser Leben,

komm und verwandle uns,

richte du unseren inneren Menschen auf

und setze unseren äußeren Menschen in Bewegung.

 

Hilf uns, Jesus, dass wir so gesinnt werden

wie du es warst,

dass wir ein offenes Ohr haben, um deine Stimme zu hören,

und die Zunge eines Jüngers,

damit wir dein Wort an andere weitergeben können.

 

Komm, Jesus, und mach uns neu,

komm und mach unser Leben hell,

und hilf uns, dir zu folgen und dein Licht

in unser Leben und in die Welt zu tragen. Amen.

 

 

Sylvie Avakian

 

23.03.2024