Der Tod der Unschuldigen

Der Tod der Unschuldigen

(Matthäus 27,33-54)

 

 

Als sie aber hinauszogen, fanden sie einen Mann von Kyrene namens Simon; den zwangen sie, ihm das Kreuz zu tragen. Und als sie an den Platz kamen, den man Golgatha nennt, das heißt »Schädelstätte«, gaben sie ihm Essig mit Galle vermischt zu trinken; und als er es gekostet hatte, wollte er nicht trinken. Nachdem sie ihn nun gekreuzigt hatten, teilten sie seine Kleider unter sich und warfen das Los, damit erfüllt würde, was durch den Propheten gesagt ist: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt, und das Los über mein Gewand geworfen«. Und sie saßen dort und bewachten ihn. Und sie befestigten über seinem Haupt die Inschrift seiner Schuld: »Dies ist Jesus, der König der Juden«. Dann wurden mit ihm zwei Räuber gekreuzigt, einer zur Rechten, der andere zur Linken. Aber die Vorübergehenden lästerten ihn, schüttelten den Kopf und sprachen: Der du den Tempel zerstörst und in drei Tagen aufbaust, rette dich selbst! Wenn du Gottes Sohn bist, so steige vom Kreuz herab! Gleicherweise spotteten aber auch die obersten Priester samt den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten! Ist er der König Israels, so steige er nun vom Kreuz herab, und wir wollen ihm glauben! Er hat auf Gott vertraut; der befreie ihn jetzt, wenn er Lust an ihm hat; denn er hat ja gesagt: Ich bin Gottes Sohn! Ebenso schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.

 

Aber von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eli, Eli, lama sabachthani, das heißt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Etliche der Anwesenden sprachen, als sie es hörten: Der ruft den Elia! Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. Die Übrigen aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia kommt, um ihn zu retten! Jesus aber schrie nochmals mit lauter Stimme und gab den Geist auf. Und siehe, der Vorhang im Tempel riss von oben bis unten entzwei, und die Erde erbebte, und die Felsen spalteten sich. Und die Gräber öffneten sich, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt und gingen aus den Gräbern hervor nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Als aber der Hauptmann und die, welche mit ihm Jesus bewachten, das Erdbeben sahen und was da geschah, fürchteten sie sich sehr und sprachen: Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn!

 

____________________________

 

Liebe Gemeinde, es ist gut einen Tag im Jahr zu haben, an dem wir über das menschliche Übel nachdenken und die ganze Brutalität, die das menschliche Übel mit sich bringen kann. Der Predigttext für heute ist der Text aus Matthäus-Evangelium, der gerade vorgetragen wurde und der die Kreuzigung und den Tod von Jesus beschreibt.

 

Als sie an einen Ort kamen, der Golgatha heißt, gaben sie Jesus Essig mit Galle vermischt zu trinken; und als er es gekostet hatte, wollte er nicht trinken. Dann haben sie ihn gekreuzigt und teilten seine Kleider durch das Los unter sich auf. Zwei Räuber wurden mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Und die, die vorübergingen, verspotteten ihn, schüttelten den Kopf und sagten: „rette dich selbst! Wenn du Gottes Sohn bist, so steige vom Kreuz herab!“ Auch die obersten Priester samt den Schriftgelehrten und Ältesten verspotteten ihn und sagten: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten! Ist er der König Israels, so steige er nun vom Kreuz herab“.

 

„Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.“

 

Für uns heute beginnt ein neuer Tag um Mitternacht. Zu der Zeit der Kreuzigung Jesu aber wurden die Stunden ab Sonnenaufgang gezählt, was ungefähr 6:00 Uhr morgens wäre. Die dritte Stunde, in der Jesus gekreuzigt wurde, wäre also drei Stunden nach Sonnenaufgang, also etwa um 9:00 Uhr morgens. Die sechste Stunde, in der die Dunkelheit hereinbrach, wäre ungefähr mittags, und die neunte Stunde, die Todesstunde Jesu, wäre ungefähr 15.00 Uhr. Jesus wurde um die dritte Stunde gekreuzigt. Und um die neunte Stunde starb er. Er hing also etwa sechs Stunden lang am Kreuz, drei davon in völliger Dunkelheit.

 

Jesus wird hier, liebe Gemeinde, nicht als Held beschrieben, und schon gar nicht in einem positiven Sinne, wie wir manchmal stolz auf unsere vergangenen Helden blicken. Jesus wird vielmehr als der leidende Gerechte dargestellt, als der unschuldig Sterbende. Der Text zeigt das menschliche Übel und das Grauen. Die Verspottung und Folter des unschuldigen und gerechten Gottessohns sollen keinen Sinn ergeben, sondern die Sinne und das Empfinden der Leser erschüttern. Die Tiefe der menschlichen Verderbtheit ist ein unvorstellbarer Schrecken, der so übertrieben ist, dass der Sohn selbst, der in der Finsternis allein gelassen wird, Gefühle der Verlassenheit herausschreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

 

„Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. Die Übrigen aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia kommt, um ihn zu retten! Jesus aber schrie nochmals mit lauter Stimme und gab den Geist auf.“ Ungeachtet all der Dunkelheit, in der Jesus zurückgelassen wurde, bringen die Worte des Evangelisten die Freiwilligkeit seines Todes zum Ausdruck. Er gab seinen Geist aus eigenem Willen auf.

 

Am Kreuz wird, liebe Gemeinde, die Selbstherrlichkeit der Menschen und ihrer Gottesferne erschlossen, am Kreuz wird die menschliche Fehlbarkeit, die korrupte Justiz offenbar und die Tiefe des menschlichen Irrtums, nicht nur vor 2000 Jahren, sondern auch heute noch.

 

Manchmal können wir uns nicht vorstellen, wozu das menschliche Übel fähig ist.

 

Heute tut die Welt etwas Ähnliches, was die Menschen Jesus vor zweitausend Jahren angetan haben. Heute behaupten die Großmächte der Welt, die Menschenwürde zu verteidigen, aber sie handeln im Widerspruch dazu. An diesem Karfreitag möchte ich, liebe Gemeinde, zwei Dinge sagen: Ein wesentlicher Grund dafür, dass die meisten Menschen den Schmerz und das Leid anderer nicht sehen können, dass Tausende von Menschen in diesen Tagen unbemerkt sterben, liegt wahrscheinlich darin, dass die meisten Menschen Sicherheitszonen um sich herum errichtet haben; Kokons, die das Wohlergehen derjenigen, die sich darin befinden, schützen sollen, egal was außerhalb dieser Zonen, dieser Kokons, geschieht. Und so werden die meisten Menschen Opfer der Mauern, die sie selbst errichtet haben, und versuchen, innerhalb dieser Mauern ihr Glück zu finden. Das kann aber nicht lang gelingen, da diese Mauern sie daran hindern werden, bewusste und mündige Menschen zu werden.

 

Zweitens, liebe Gemeinde, es gibt ein Unterschied zwischen den Schmerzen und Leiden Jesu und den Schmerzen und Leiden der meisten anderen Menschen. Die meisten Menschen werden infolge von Leid oder jeglicher Art von Demütigung verbittert und zornig und sind dann nicht mehr in der Lage, andere zu lieben und zu vergeben. Das Opfer wird zum Aggressor. Im Gegensatz dazu konnte Jesus, als er die Anfeindungen der Menschen sah, mehr als dies sehen und erkennen. Er war in der Lage, für sie zu beten. Und inmitten seines Gerichtsverfahrens, als die Frauen um ihn weinten, war er in Gedanken nicht um sich selbst traurig, als ob er eine Art Selbstmitleid hätte, sondern er war traurig um die Weinenden, die allein gelassen werden und selbst den richtigen Weg in ihrem Leben finden mussten (Lukas 23,28).

 

Wissen Sie, liebe Gemeinde, was der tiefste Sinn von Schmerz und Leid ist? Der Schmerz in seinem tieferen Sinn ist nicht der Schmerz für sich selbst, sondern der Schmerz für andere. Es ist der Schmerz für die anderen, dafür, dass sie nicht zu Gott kommen können, dass sie nicht in der Lage sind, sich von den selbst errichteten Mauern zu befreien, damit sie lieben und verzeihen können. Und ich meine, das war der größte Schmerz unter all den Schmerzen die Jesus am Kreuz erlitt.

 

Mit dem Tod des Messias als gerechter Märtyrer kommt es zu einer kosmischen Umwälzung. Und wir lesen, dass der Vorhang des Tempels, der den Zugang zur Präsenz Gottes im Allerheiligsten für die alle Menschen außer dem Hohepriester verdeckte, ist in zwei Teile zerrissen, denn das Ende des Tempels ist gekommen. In der neuen Ära, die gerade angebrochen ist, sind alle Menschen vollwertige Mitglieder des Gottesvolkes. Wir lesen weiter, dass die Erde bebte und die Felsen zerrissen wurden; auch die Gräber wurden geöffnet, und viele Leiber der Toten wurden auferweckt. Der Tag des Herrn bricht auf Golgatha an: Das göttliche Gericht kommt herab und die ersten Früchte der Auferstehung werden geerntet. Diese Ereignisse widerlegen die Spötter. Gott kämpft tatsächlich für diejenigen, die nicht für sich selbst gekämpft haben. Und hier ist die Reihenfolge wichtig: Bedrängnis und Leiden gehen der Erlösung und der Herrlichkeit voraus.

 

Von mittags bis drei Uhr nachmittags herrscht Dunkelheit. Die drei Stunden der Finsternis sind die Stunden des Schmerzes und des Todes, nach denen das Licht wieder erstrahlen wird. Die Beschreibung der Ereignisse kurz nach Jesu Tod ähnelt sehr der Beschreibung des Ostersonntags, als ob die Auferstehung zugleich mit Jesu Tod erfolgt wäre.

 

„Als … der Hauptmann und die, welche mit ihm Jesus bewachten, das Erdbeben sahen und was da geschah, fürchteten sie sich sehr und sprachen: Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn!“

 

Gibt es, liebe Gemeinde, noch Hoffnung für uns, gibt es Hoffnung für die Welt? Amen.

 

___________________

 

Gott, unser Vater,

 

hilf uns, aus unseren sicheren Zonen herauszukommen,

 

hilf uns, uns nicht zu fürchten, uns nicht zu sorgen,

 

hilf uns, dem Beispiel deines Sohnes zu folgen,

 

dem, der keinen Platz hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte,

 

und dennoch frei von Sorgen war,

 

frei zu lieben und frei, den Schmerz der anderen zu fühlen.

 

 

 

In deine Hände Jesus Christus

 

befehlen wir unser Leben;

 

In deine Hände befehlen wir die Leben der Menschen, die wir lieben,

 

die Leben der Menschen, die wir nicht kennen,

 

die Leben der Menschen, die wir nicht mögen,

 

In deine Hände befehlen wir die Leben der Opfer der Kriege und des menschlichen Übels,

 

die Leben der Menschen, die täglich unbemerkt sterben,

 

und die Leben derer, die das Verbrechen der Kriege

 

und der Zerstörung von Leben und Licht begangen haben.

 

 

 

In deine Hände, Jesus Christus

 

legen wir unsere Welt, unsere Sorgen und Befürchtungen.

 

In deine Hände legen wir unsere Vergangenheit und unsere Zukunft

 

Und alles, was uns daran hindert, heute zu dir zu kommen. Amen.

 

 

Sylvie Avakian

 

29.03.2024