Das Nehmen und das Lassen

Das Nehmen und das Lassen

(Matthäus 25,14-29)

 

(zum 100-Jahr-Jubiläum des Musikvereins Fischingen)

 

 

 

Denn es ist wie bei einem Menschen, der außer Landes reisen wollte, seine Knechte rief und ihnen seine Güter übergab. Dem einen gab er fünf Talente, dem anderen zwei, dem dritten eins, jedem nach seiner Kraft, und er reiste sogleich ab.

Da ging der hin, welcher die fünf Talente empfangen hatte, handelte mit ihnen und gewann fünf weitere Talente. Und ebenso der, welcher die zwei Talente [empfangen hatte], auch er gewann zwei weitere. Aber der, welcher das eine empfangen hatte, ging hin, grub die Erde auf und verbarg das Geld seines Herrn.

Nach langer Zeit aber kommt der Herr dieser Knechte und hält Abrechnung mit ihnen. Und es trat der hinzu, der die fünf Talente empfangen hatte, brachte noch fünf weitere Talente herzu und sprach: Herr, du hast mir fünf Talente übergeben; siehe, ich habe mit ihnen fünf weitere Talente gewonnen. Da sagte sein Herr zu ihm: Recht so, du guter und treuer Knecht! Du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über vieles setzen; geh ein zur Freude deines Herrn! Und es trat auch der hinzu, der die zwei Talente empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Talente übergeben; siehe, ich habe mit ihnen zwei andere Talente gewonnen. Sein Herr sagte zu ihm: Recht so, du guter und treuer Knecht! Du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über vieles setzen; geh ein zur Freude deines Herrn! Da trat auch der hinzu, der das eine Talent empfangen hatte, und sprach: Herr, ich kannte dich, dass du ein harter Mann bist. Du erntest, wo du nicht gesät, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast; und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg dein Talent in der Erde. Siehe, da hast du das Deine! Aber sein Herr antwortete und sprach zu ihm: Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld den Wechslern bringen sollen, so hätte ich bei meinem Kommen das Meine mit Zinsen zurückerhalten. Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer hat, dem wird gegeben werden, damit er Überfluss hat; von dem aber, der nicht hat, wird auch das genommen werden, was er hat.

 

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Dieses Gleichnis, liebe Gemeinde, ist nicht einfach zu interpretieren, denn das Gleichnis kann mehrere Bedeutungen haben. Und ich glaube, ein Schlüssel zur Interpretation dieses Gleichnisses ist, wie wir oder was wir unter den Talenten verstehen. Eine Möglichkeit ist, zu sagen, dass die Talente, die der Herr den Knechten gab, Güter, Geld oder Reichtum waren und so zu einer möglichen Auslegung des Gleichnisses zu kommen. Und wenn wir uns das Leben Jesu anschauen, sehen wir, dass er nie Güter, Besitz oder Eigentum besaß. Vielleicht ist dann nach dieser Auslegung der dritte Knecht, dem sogar das Wenige, das er hatte, weggenommen wurde, Jesus selbst ist. Heute möchte ich jedoch die Talente als Gaben betrachten, die uns von Gott geschenkt wurden, und die Herausforderungen, die mit dem Einsatz unserer Talente im Leben verbunden sind. Sie können aber gerne fragen, warum sollten wir dies tun? Manchmal ist es nicht leicht, unsere Talente so einzusetzen, dass wir sehen, dass sie wirklich wachsen oder größer werden, wie es im Gleichnis beschrieben wird, wenn es darum geht, wie die ersten beiden Knechte mit ihren Talenten umgehen. Wir können denken, dass in der Hektik des Lebens selten Zeit bleibt, um unsere Talente zu nutzen. Und an dieser Stelle ist es natürlich lobenswert, dass die Musikerinnen und Musiker des Musikvereins Fischingen, die auch heute an diesem Gottesdienst beteiligt sind, regelmäßig Zeit, Energie und Konzentration dem Musizieren widmen, und es ihnen so gelingt, die Gaben, die sie haben, vielfältig einzusetzen.

Zudem möchte ich den Ausdruck ‚Talente‘ heute nicht nur für die Hobbys verwenden, die wir in unserer Freizeit gerne ausüben. Unter ‚Talenten‘ möchte ich heute all das verstehen, was unserem Leben Sinn und Zweck verleiht. Und um dies zu erklären, liebe Gemeinde, möchte ich heute zwei Gedanken mit Ihnen teilen: Erstens ist es meine Überzeugung, dass jeder Mensch, jeder von uns, Talente hat, nämlich etwas tun (oder sein) kann, was andere nicht tun oder sein können, und dass wir dadurch nicht nur unser eigenes Lebensziel erreichen, sondern auch einen Beitrag zum Leben anderer Menschen leisten können. Zweitens: Der Glaube an Gott und an Jesus hilft uns, dieses Ziel und dieses Talent zu entdecken. Schlicht gesagt: Wenn Gott uns geschaffen hat, hilft Gott uns dann auch, uns selbst besser zu verstehen und das Ziel unseres Lebens zu entdecken und zu erreichen. Wie sollen wir aber den Glauben verstehen?

Der Glaube beinhaltet, liebe Gemeinde, nicht bloß ein Bekenntnis und eine Art Frömmigkeit, die mit dem Leben nichts direkt zu tun hat. Im Gegenteil: Den Glauben muss man besitzen, damit man jeden Tag mit dem Glauben lebt. Man muss sich also den Glauben zu eigen machen. Und hier kommt der wichtige Ausdruck aus dem Predigttext: Er rief „seine Knechte … und ihnen seine Güter übergab“. Der Mann, der außer Landes reisen wollte, ‚gibt‘(paradidomi) seine Güter den Knechten. Einige Übersetzungen der Bibel (auch die Lutherübersetzung) haben das Verb ‚gibt‘ mit ‚anvertraut‘ übersetzt, was nicht ganz korrekt ist. Das Verb im ursprünglichen Griechischen bedeutet ‚geben‘ oder ‚übergeben‘ und bedeutet, dass die Knechte die Kontrolle über die Güter, oder die Talente, hatten, die ihnen gegeben wurden. Sie besaßen sie. Die Knechte geben auch nichts von den Talenten an ihren Herrn zurück, nachdem dieser zurückgekehrt ist. Und das eine Talent des dritten Knechtes wird dem ersten gegeben und nicht von seinem Herrn behalten. Und jetzt fragen Sie mich vielleicht, liebe Gemeinde, warum ist dieses Verb ‚gibt‘ so wichtig?

Wenn wir versuchen, unsere Aufmerksamkeit vom Gleichnis auf uns selbst zu richten, werden wir feststellen, dass auch uns das Leben geschenkt, oder gegeben wurde. Und nicht nur das Leben, sondern Gott hat uns Gottes Atem, Gottes Geist gegeben. So lesen wir in der Geschichte der Schöpfung: Gott blies dem Menschen seinen Hauch ein. Und was ich heute sagen möchte, liebe Gemeinde, ist, dass wir dieses Geschenk des Lebens und des Geistes annehmen und uns zu eigen machen sollen. Und in diesem Sinne soll auch der Glaube in Besitz genommen und gelebt werden.

 

Wenn wir unser Leben selbst in die Hand nehmen, bedeutet das, dass wir selbst entscheiden, wie wir leben, wie wir denken, was wir glauben, was wir sagen und tun wollen. Das eigene Leben zu besitzen, bedeutet auch, bewusst zu leben. Was sind meine Talente im Leben, die mir gegeben sind, die mir gehören und mit denen ich zum Leben anderer Menschen beitragen möchte? Was sind meine Ziele?

 

Das Musizieren, liebe Gemeinde, ist etwas Ähnliches. Um zu spielen, muss man die Noten lesen, die Melodie verstehen, üben, sich anstrengen, damit jemand anderes die Musik hören und genießen kann. Jedes Musikstück schafft eine Welt, eine besondere Welt. In diesem Sinne hat jedes Musikstück ein Ziel. Manche Musik ist feierlich, manche kontemplativ, manche zum Tanzen und manche zum Weinen. Und unser Leben, liebe Gemeinde, ist so schön und wichtig wie die Musikstücke, die wir hören und genießen. Welche Ziele wollen wir erreichen? Was wollen wir den Menschen sagen? Haben wir gute Worte zu sprechen, gute Taten zu vollbringen? Heute ist die Zeit dafür.

Aus dem Gleichnis erfahren wir, dass die ersten beiden Knechte ihre Talente nutzen konnten, während der dritte das Talent, das ihm gegeben wurde, in der Erde vergrub. Vielleicht hatte er Angst, dass er verlieren könnte, was er besaß. Es gibt kein größeres Hindernis, liebe Gemeinde, das uns am freien Gebrauch unserer Talente hindern kann als die Angst: Die Angst, dass ich vielleicht die Noten falsch spielen werde, dass ich vielleicht die falschen Worte sage; die Angst, meine Ideen, meinen Glauben auszusprechen, weil andere nicht so denken wie ich, die Angst, dass ich alles, was ich besitze, verlieren könnte. Angst reduziert den Menschen auf eine niedrigere Form von Leben. Wir sollten, liebe Gemeinde, nicht zulassen, dass die Angst uns unterdrückt. Auch nicht die Angst vor dem Tod. Denn nur derjenige, der ohne Angst lebt, kann auch ohne Angst sterben.

 

In Furcht und Angst verkrümmt sich das menschliche Selbst, und die Ziele und Gründe des Lebens werden nicht einmal entdeckt. In ähnlicher Weise beschriebt Martin Luther den Sünder als „der in sich selbst verkrümmte Mensch“, nämlich als jemand, der in sich selbst verbogen hat, oder gebeugt ist. Diese Beschreibung verweist auf die Selbstbezogenheit des Menschen statt auf seine Hinwendung zu Gott und zum Nächsten. Ursprünglich geht dieser Ausdruck auf Augustinus zurück, der sagte: „Der Mensch ist in sich selbst verkrümmt“ und damit meint, dass der Mensch von Gott abgewandt ist und sich stattdessen den irdischen Dingen zuwendet. Und somit beschriebt er den ungerechtfertigten Zustand des Menschen.

Heute dominiert in den Medien und in der Politik eine Stimme, die zu einer verkrümmten Existenz drängt, bei der die Selbstbezogenheit zum obersten Ziel gemacht wird. Alles andere kann und muss geopfert werden, einschließlich vieler Menschenleben, um das eigene Wohlbefinden und die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Heute treiben uns die Welt und die Politik in die Angst. Im Gegensatz dazu sind wir, liebe Gemeinde, herausgefordert durch den Glauben unser Leben selbst in die Hand zu nehmen und es gleichzeitig loslassen zu können. Wir sind herausgefordert mit Vertrauen zu nehmen und loslassen zu können. So möchte ich dieses Gleichnis heute verstehen. Wir sollen in der Lage sein, das Leben und die Talente, die wir haben, ganz zu nehmen und gleichzeitig bereit sein, alles loszulassen. Der Glaube erfordert das Nehmen und die Bereitschaft für das Lassen.

Und das ist die Entschlossenheit zu leben und die Bereitschaft zu sterben. Auf diese Weise sind wir wahrhaftig bereit, Gott zu begegnen. In der Schriftlesung, die wir gehört haben, ermutigt der Apostel Paulus seine Leser, wachsam und bereit zu sein, Gott zu begegnen. Und das ist auch das Ziel des heutigen Gleichnisses. Er schreibt: „Ihr alle seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages. Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis. Darum wollen wir … wach und nüchtern sein. … und uns rüsten mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Rettung.“ (1.Thes.5,5-8).

 

Liebe Gemeinde, Christus kommt, um uns aufzurichten, oder besser gesagt, er kommt, um uns nach außen zu beugen. Durch ihn, den Christus, der uns auch in unserem Herzen gegeben ist, kann unser Leben von Hoffnung und Vertrauen getragen werden, so dass wir jedes Mal, wenn wir bereit sind, zu nehmen und zu lassen, auch bereit sind, Gott zu begegnen. Und dass wir das immer wieder tun, jeden Tag, und unabhängig davon ob reich sind oder arm, jung oder alt sind.

 

Denn Christus spricht: „Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun …? Darum sollt ihr nicht sorgen.“ (Matt.6,26-31) Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

14.04.2024