Was bedeutet „sich vom Geist Gottes leiten lassen“?

Was bedeutet „sich vom Geist Gottes leiten lassen“?

 (Zum Pfingstsonntag)

 

(Epheser 4, 8-10. 13-15)

 

 

 

Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung;

 

Darum heißt es: »Er ist emporgestiegen zur Höhe, hat Gefangene weggeführt und den Menschen Gaben gegeben«. Das [Wort] aber: »Er ist hinaufgestiegen«, was bedeutet es anderes, als dass er auch zuvor hinabgestiegen ist zu den Niederungen der Erde? Der hinabgestiegen ist, ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel, damit er alles erfülle.

 

bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zur vollkommenen Mannesreife [zum vollendeten Menschen], zum Maß der vollen Größe des Christus; damit wir nicht mehr Unmündige seien, hin- und hergeworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre durch das betrügerische Spiel der Menschen, durch die Schlauheit, mit der sie zum Irrtum verführen, sondern, wahrhaftig in der Liebe, heranwachsen in allen Stücken zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus.

 

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In dieser Predigt am Pfingstsonntag werde ich versuchen, liebe Gemeinde, vor allem eine Frage zu beantworten, nämlich die Frage: Was bedeutet es, sich vom Heiligen Geist leiten zu lassen?

 

Wenn wir den Ausdruck „sich vom Heiligen Geist leiten (oder lenken) lassen“ hören, kommen uns wahrscheinlich einige Vorstellungen in den Sinn, von denen wir annehmen, dass sie beschreiben, was dieser Ausdruck bedeutet. Manche Menschen glauben, dass der Heilige Geist besonderen Menschen besondere Gaben verleiht, damit sie auf wundersame Weise Veränderungen herbeiführen können. Die Person, die vom Heiligen Geist geleitet wird, wird als eine Art „heilige Person“ gesehen, oder als eine außergewöhnliche Person, oder zumindest jemand, der von sich behauptet, eine außergewöhnliche Person zu sein; eine Person, die außergewöhnliche Gaben hat, wie z.B. mit Zungen zu sprechen, oder Wunder und Heilungen zu vollbringen. Man könnte aber auch sagen, dass dieser Ausdruck unklar ist und in unserer heutigen Welt keinen Platz hat, weil wir hier in der Welt Klarheit brauchen. So gibt es in Gesellschaften, z.B. am Arbeitsplatz klare Regeln oder Normen, denen entsprechend sich Menschen zu verhalten und miteinander umzugehen haben. Was könnte also „sich vom Heiligen Geist leiten lassen“ bedeuten? Und wir stellen fest, dass es ziemlich schwierig ist, eine klare Antwort zu geben oder dies in eine bestimmte Kategorie von menschlichem Verhalten einzuordnen.

 

Auch wenn solche wundersamen Vorstellungen über den Heiligen Geist oder die eher ablehnende Haltung ihm gegenüber über die Jahrhunderte weit verbreitet waren und sind, so beschreiben diese doch nicht wahrhaftig, was der Heilige Geist ist und was mit der Formulierung gemeint ist, nämlich dass sich der Mensch „vom Geist Gottes leiten lässt“.

 

Was ist also der Heilige Geist?

 

In der Schriftlesung (Joh. 14, 16-19, 26-27) haben wir die Worte Jesu an seine Jünger über den Heiligen Geist gehört. Dort spricht er: „denn er [der Heilige Geist] bleibt bei euch und wird in euch sein“. Und im selben Text sagt Jesus auch, dass die Welt den Geist nicht empfangen kann, „denn sie sieht ihn nicht“.

 

Vielleicht können wir also an dieser Stelle zwei Dinge über den Heiligen Geist sagen: Erstens, wir können ihn nicht sehen, wir können ihn nicht anfassen, wir können ihn nicht wissenschaftlich oder empirisch beschreiben, wie etwa einen Baum oder ein Haus, einfach aus einem Grund: Der Geist ist keine konkrete Materie. Er ist also das Gegenteil von Materie, also das Gegenteil von etwas Konkretem. In diesem Sinne kann die Welt ihn nicht sehen oder empfangen, weil die Welt den Geist nicht sucht. Die Welt sucht, was greifbar, was konkret ist. Die Welt will materielles und konkretes Leben garantieren, sie sucht nach irdischer Macht und achtet nicht auf den Geist. Im Gegensatz zur Welt, wird der Geist für immer bei den Jüngern bleiben und in ihnen wohnen, denn die Jünger sehnen sich nach dem Geist, und der Geist kann gefunden werden, wenn man sich nach ihm sehnt oder ihn sucht.

 

Nur wenn wir es erkennen, liebe Gemeinde, dass der Geist nichts Materielles ist und daher auch keine materiellen Zwecke oder Ziele haben kann, können wir verstehen, was der Satz bedeutet: „sich vom Geist Gottes leiten zu lassen“. Dies bedeutet also, sich von nichts Konkretem, nichts Materiellem leiten zu lassen. Hier in der Welt werden wir üblicherweise durch materielle Dinge geleitet und gelenkt. Wenn wir zum Beispiel ein schönes Haus sehen, wollen wir es kaufen und dafür arbeiten und Geld sparen. Oder wir treffen attraktive Menschen und wollen unbedingt mit ihnen in Kontakt treten, weil sie uns attraktiv erscheinen. Aber der Geist ist kein Ding, wir können ihn nicht ansehen und uns zu ihm hingezogen fühlen. Sich vom Geist leiten zu lassen, bedeutet also, dass die materiellen Dinge um uns herum ihren Reiz und ihre Anziehungskraft für uns verlieren werden. Wir werden nicht mehr dem Materiellen folgen oder von ihm angezogen werden.

 

Gibt es dann irgendetwas Positives, durch das wir den Geist beschreiben können? Aus unseren Versuchen, den Geist zu verstehen, wird eins deutlich: dass er uns von unseren materiellen Begehrlichkeiten befreit. Ist das etwas Gutes? Ich denke, die Antwort ist ja. Es ist etwas Gutes, und das ist nicht nur gut, sondern es ist die Voraussetzung für Mündigkeit (Erwachsensein, Reifwerden), von der wir im Predigttext lesen. Das heißt, erst wenn wir das sehen können, was jenseits dessen ist, was uns unmittelbar als Materielles zur Verfügung steht, erst dann können wir den ersten Schritt zur reifen Mündigkeit tun. Das ist etwas, was uns schwerfällt, denn schließlich leben wir in einer konkreten Welt, wir haben Körper, wir müssen essen und uns zu Hause sicher fühlen. Und die Herausforderung besteht darin, dass wir innerhalb unserer konkreten Realität dem Heiligen Geist erlauben, uns zu berühren, uns zu helfen, das zu sehen, was jenseits dessen ist, was wir mit dem Auge sehen.

 

Ich möchte hier das Beispiel des verlorenen Sohnes bringen, von dem Jesus in einem Gleichnis erzählt. Der Sohn sah das Erbe des Vaters, und er wollte es haben. Das Geld war also ein direktes materielles Element, das den Sohn angezogen hat und er wollte es haben. Er konnte nicht warten, bis der Vater stirbt und er seinen Anteil bekommt. Er ging zum Vater und bat ihn, ihm seinen Anteil zu geben, und der Vater gab ihm, was er verlangte. Nachdem er seinen Anteil am Erbe des Vaters erhalten hat, ist er immer noch unreif. Er geht an einen Ort, der weit vom Vater entfernt ist, er verbringt Zeit und Geld mit „Freunden“, die ebenfalls mit ihm dort waren, wegen derselben Anziehungskraft des Materiellen: Geld, Essen, Trinken ... Und der Sohn setzt sein unmündiges („kindisches“) Leben fort, bis er alles verliert, den alles Materielle im Leben vergeht und verschwindet. Er durfte nicht einmal das essen, was man den Schweinen zu fressen gibt. An diesem Punkt, liebe Gemeinde, des Nichts-Habens, macht der Sohn den ersten Schritt zur Mündigkeit. Er denkt darüber nach, und wir lesen im Evangelium (Lukas 15,18), dass er in sich ging und entschied, zu seinem Vater zurückzukehren und es ihm zu sagen: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.“ In diesem Moment kann der Sohn die Barmherzigkeit und Liebe des Vaters erkennen. Was ich heute sagen möchte, liebe Gemeinde, ist, dass oft die materiellen Dinge uns daran hindern, das zu sehen, was jenseits von ihnen liegt, Liebe und Barmherzigkeit zu erkennen, Liebe und Barmherzigkeit zu empfangen und diese auch für andere zu empfinden.

 

In diesem Sinne verstehen wir den heutigen Predigttext, der sagt:

 

„damit wir nicht mehr Unmündige seien, hin- und hergeworfen … durch das betrügerische Spiel der Menschen, … sondern, wahrhaftig in der Liebe, heranwachsen in allen Stücken zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus.“

 

Heute sind wir eingeladen, uns vom Heiligen Geist leiten zu lassen. Wir sind eingeladen, den Geist zu suchen, den Geist der Wahrheit, den Geist Jesu Christi. Das würde die Bereitschaft beinhalten, unsere Gebundenheit an die materiellen Dinge in unserem Herzen aufzugeben, damit wir wahrhaftig frei werden und die Gaben des Geistes, die Liebe, die Barmherzigkeit, die Kraft im Herzen und den Trost empfangen können. Und wir sind eingeladen, dies immer wieder zu tun, d.h. wir müssen uns immer wieder vom Heiligen Geist leiten und lenken lassen, d.h. wir müssen dem Heiligen Geist, dem Geist Gottes, erlauben, uns von unserer Anziehung zum Materiellen zu befreien. Das Materielle täuscht uns oft, denn es ist das, was verfügbar und attraktiv ist, und den Geist zu wählen, ist immer die schwierige Wahl im Leben.

 

Liebe Gemeinde, es ist wahr, dass derjenige, der sich vom Heiligen Geist leiten lässt, ein außergewöhnlicher Mensch ist, dessen Leben auch wundersam ist, aber er ist nicht außergewöhnlich, weil er besondere Gaben hat, die andere Menschen nicht haben, sondern weil er im Geist, der ihm von Gott gegeben ist, die Kraft zum Leben und zur Liebe findet, weil er dem Geist der Wahrheit vertraut, auch wenn er die tiefsten und dunkelsten Wege des Lebens gehen muss. Und es ist in diesem Sinne, dass Jesus im Text als derjenige beschrieben wird, der als erstes zu den Niederungen der Erde hinabsteigt, nämlich er stirbt. Damit der, der herabgestiegen ist, ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel, damit er alles erfülle.

 

Und so schreibt der Apostel Paulus: „Denn alle, die durch den Geist Gottes geleitet werden, die sind Söhne (Kinder) Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, … sondern ihr habt den Geist der Sohnschaft (Kindschaft) empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater!“ (Römer 8,14-15 – Lutherbibel). Amen.

 

Sylvie Avakian

 

19.05.2024