Ist Jerusalem nur ein Traum?
(Sacharja 8,20-23)
So spricht der HERR der Heerscharen: Es werden noch Völker und die Bewohner vieler Städte kommen; und die Bewohner einer Stadt werden zu denen einer anderen kommen und sagen: »Lasst uns hingehen, um den HERRN anzuflehen und den HERRN der Heerscharen zu suchen! Auch ich will gehen!« So werden große Völker und mächtige Nationen kommen, um den HERRN der Heerscharen in Jerusalem zu suchen und den HERRN anzuflehen.
So spricht der HERR der Heerscharen: In jenen Tagen [wird es geschehen], dass zehn Männer aus allen Sprachen der Heidenvölker einen Juden beim Rockzipfel festhalten und zu ihm sagen werden: »Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist!«
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Das Buch Sacharja wurde nach der Rückkehr der Israeliten aus dem 70 Jahre dauernden babylonischen Exil geschrieben. Das Leben zurück im eigenen Land war hart. Der Prophet Sacharja
wirkte etwa zwanzig Jahre nach dem Ende des Exils, von etwa 520-518 v. Chr. Sein Buch besteht aus 14 Kapiteln, die üblicherweise in zwei Teile unterteilt werden. Der heutige Predigttext ist der
abschließende Text des ersten Teils. Heute wollen wir einen kurzen Blick auf den ersten Teil des Buches Sacharja werfen, um den heutigen Predigttext verstehen zu können. Dieser Teil beginnt mit
einer Bußpredigt (Sach. 1,1-6), an die sich acht Visionen anschließen, die Sacharja während seines nächtlichen Schlafes erlebt. Diese bilden den Kern des ersten Teils, der mit einer weiteren
Predigt endet. Die Visionen des Propheten leiten ihn dazu an, die Worte des heutigen Predigttextes zu schreiben. Ich werde drei Aspekte aus diesem ersten Teil des Buches herausgreifen, die auch
uns heute etwas zu sagen haben können.
Zunächst ist es der Aufruf des Propheten zur Umkehr, der unsere Aufmerksamkeit erregt. Dieser Aufruf ist bereits Teil der Eröffnungspredigt: „Kehrt um zu mir, spricht der HERR … so will ich mich zu euch kehren! … Seid nicht wie eure Väter, denen die früheren Propheten verkündigt … haben: Sie hörten aber nicht und achteten nicht auf mich“ (Sach.1,3-4).
Wie sollen wir diesen Aufruf zur Umkehr heute verstehen? Und in den Visionen des Propheten Sacharja kommt derselbe Ruf wieder. Ich lese aus Kapitel 3: „Das ist das Wort des HERRN …: »Siehe, ich habe deine Sünde von dir genommen und lasse dir Festkleider anziehen!“ Im hebräischen Original ist es Jahwe an beiden Stellen der spricht; Jahwe, der zu Mose in der Wüste sprach und sagte: »Ich bin, der ich bin!« (2.Mose 3,14), nämlich, ich bin die Möglichkeit der Existenz und des Seins. Und derselbe Jahwe sagt hier: „ich habe deine Sünde von dir genommen.“ Diese Möglichkeit des Seins und des Atmens ist ein ständiger kreativer Vorgang. Diese Möglichkeit des Seins formt uns immer wieder neu und gibt uns die Gelegenheit, neue Wege im Leben zu gehen, bessere Wege zu gehen, nicht unbedingt, weil unsere früheren Wege böse waren, obwohl der Text dies von den Vätern der Adressaten behauptet, aber vor allem, weil wir heute Gott, den Jahwe, besser verstehen als früher, besser kennen als früher, und wir wollen die Wege dieses lebenspendenden Gottes gehen.
Und was wird sein, wenn wir von unserem bisherigen Weg abweichen? Was wird sein, wenn Jerusalem Gott gehorcht? Wenn wir uns an Gott wenden, wenn wir uns entscheiden, die Stimme Gottes zu hören, werden wir erkennen, dass die Stimme uns näher ist als unser eigenes Selbst. Wenn wir uns Gott zuwenden, werden wir erkennen, dass Gott uns sein Haus anvertraut, seine Wohnstätte. Gott vertraut uns die Welt an, ist das nicht wahr? Hat der Mensch nicht die Macht, die Welt zu regieren? Aber, liebe Gemeinde, es ist ein Ding, die Welt so zu regieren, wie wir es wollen, und ein anderes, die Welt so zu regieren, wie Gott es will. Und hier müssen wir sehr vorsichtig sein, denn Gott ist nicht wie ein Name, den wir am Gürtel tragen und mit dem wir dann alles machen, was wir wollen. Wenn Gott der lebensspendende Gott ist, der Jahwe, der jedem Menschen das Leben ermöglicht, der Jahwe, der jeden von uns mit Ehre und Würde ausstattet, und wenn wir uns an Gott, den Jahwe, wenden, dann werden wir Gott behüten wollen, denn Gott ist kein kämpfender Gott, und Gottes Stimme ist eher eine leise Stimme in dieser Welt. Sodass Gott mehr bei den Leidenden und Sterbenden in der Welt ist als bei den Kämpfenden und Lebenszerstörenden. Die Schwachen und Leidenden tragen das Antlitz des Messias, und Gott trägt ihren Schmerz. Wenn wir uns Gott, dem Jahwe, zuwenden, werden wir erkennen, dass Gott uns zu seinen Hütern in der Welt bestellt hat, denn wenn wir nicht über Liebe und Barmherzigkeit, Leben und Würde wachen, wer soll es dann tun? Somit können wir die Worte Gottes in einer Vision an den Propheten Sacharja verstehen: „So spricht der HERR …: Wenn du in meinen Wegen wandeln und meinen Dienst eifrig versehen wirst, so sollst du auch mein Haus regieren und meine Vorhöfe hüten, und ich will dir Zutritt geben unter diesen, die hier stehen!“ (Sach.3,7)
Der dritte und letzte Aspekt dieser Predigt bringt uns näher an den Kern der prophetischen Botschaft. Für Sacharja ist es wichtig, die Hoffnung auf das kommende Reich aufrechtzuerhalten. Jahwe wird alle Hindernisse des Heils beseitigen und Israel zum Frieden führen. Aber wie? Die Antwort wird Gott in den Mund gelegt: „nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist!, spricht der HERR der Heerscharen.“ (4,6). Gott wird seinen Geist in die Herzen seines Volkes ausschütten.
Wie sollen wir dann den Geist Gottes aufnehmen? Im Grunde wird er uns gegeben und es ist die nächstliegende Möglichkeit für uns, uns für den Geist Gottes zu öffnen. Der Geist ist Demut und Freiheit. Der Geist ist Liebe, weil er sich selbst verschenkt; die Liebe zum Nächsten, das Mitleid mit den Kindern, mit den Jungen und den Alten. Es ist die Liebe zu jedem Menschen, die die Liebe zu Gott möglich macht.
Der Geist ist der Geist der Wahrheit und des Friedens und so schreibt Sacharja unmittelbar vor unserem Predigttext: „Liebt ihr nur die Wahrheit und den Frieden!“ (Sach.8,19b)
In diesem Sinne werden wir heute, nach der Predigt, singen: „Hevenu Schalom alejchem“, wörtlich übersetzt: „wir bringen euch Frieden“. Dies ist das Herz des Evangeliums, liebe Gemeinde, und das ist der Geist.
Die Besonderheit des zukünftigen Reiches Gottes, des zukünftigen Jerusalems, besteht darin, dass es seine Türen für die Vielfalt und Verschiedenheit der Menschheit öffnen kann. Und so kann Jerusalem wahrhaftig zum Tor des Himmels werden.
So heißt es im Kap. 8: „Das ist es aber, was ihr tun sollt: Redet die Wahrheit, jeder mit seinem Nächsten, übt treulich Recht und fällt einen Rechtsspruch des Friedens in euren Toren (Sach.8,16). „und ich werde Wohnung nehmen mitten in Jerusalem, und Jerusalem soll »die Stadt der Wahrheit« heißen“ (Sach. 8,3).
Jerusalem wird somit eine Friedensbotschaft für die Welt, ein Sammelpunkt für alle Völker. Das neue Jerusalem wird ein Ort sein, an dem Wahrheit und Frieden herrschen. So wird Jerusalem im Buch Sacharja als die Wohnstätte Gottes beschrieben. Und das ist es, was Jerusalem ausmacht. Es ist der Geist Gottes, es ist die Demut des Herzens, die Armut im Geiste, die vereint und Wahrheit und Frieden möglich macht. Jerusalem wird ein neuer Garten Eden werden. Aus dem Tempel wird der Fluss des lebendigen Wassers strömen, der der ganzen Schöpfung Heilung bringt, so dass Jerusalem wiederhergestellt und zu einem Leuchtfeuer für alle Völker wird.
So steht Jerusalem für das Zusammenkommen aller Menschen aus verschiedenen Nationen, Kulturen und Traditionen. Es ist das Zusammenkommen von Himmel und Erde und die Vollendung des Ganzen in Gott. Ist Jerusalem dann nur ein Traum, eine seltsame Vision, wie die Visionen des Propheten Zacharias, die den meisten Menschen fremd zu sein scheinen?
Ist Jerusalem nur ein Traum? Diese Frage ist in etwa so, wie die Frage: Ist Gott ein Traum? Ist die Liebe ein Traum? Und wir können antworten: Ja, Gott ist ein Traum, Jerusalem ist ein Traum und die Liebe ist auch ein Traum; aber ein Traum, der, wenn wir ihn träumen, der allein uns Wahrheit und Freiheit schenkt. Und ohne diesen Traum zu träumen, bleiben wir in unseren Entbehrungen aber auch Ambitionen für Wahrheit und Freiheit gefangen. Wissen Sie, warum? Weil Wahrheit und Freiheit Geschenke sind, nicht von Menschen gemacht. Hier in der Welt können wir sie entweder annehmen oder zögern und zweifeln. Aber wenn wir sie annehmen, dann wird der Traum wahr, und zwar der wahrste in unserem Leben.
Und „in jenen Tagen [wird es geschehen], dass zehn Männer aus allen Sprachen der Heidenvölker einen Juden beim Rockzipfel festhalten und zu ihm sagen werden: »Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist!«“ Amen.
Sylvie Avakian
04.08.2024